Am 21. November 2021 fand im Frankfurter Gewerkschaftshaus eine von der Linksfraktion im Hessischen Landtag organisierte Festveranstaltung zum 75. Geburtstag der hessischen Verfassung statt. Auf dem Auftaktpodium sprachen die Janine Wissler, Parteivorsitzende der Linken, Michael Rudolph, DGB-Vorsitzender im Bezirk Hessen-Thüringen, und Ingar Solty, Referent am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Wir dokumentieren hier den leicht überarbeiteten Vortrag von Solty.
1. Vorrede
Es gibt zwei wesentliche Gründe, warum wir heute hier sind, um an das 75. Jubiläum der hessischen Landesverfassung, der ersten Nachkriegsverfassung auf deutschem Boden, zu erinnern.
Der erste ist: diese Verfassung erinnert uns daran, welches andere Deutschland nach 1945 möglich und von den Volksmassen auch gewollt war, ein Deutschland, das die engen Demokratieschranken des liberalen Parlamentarismus in kapitalistischer Eigentumsordnung überwunden hätte. Eine Wirtschaftsverfassung, die zum einen realistische Antworten gegeben hat auf Menschheitsprobleme, die wir bis heute nicht behoben haben – antidemokratische Elitenherrschaft in Politik und Wirtschaft, Armut und Ausbeutung usw. – und die zum anderen eine Voraussetzung gewesen wäre für die Umsetzung des Schwurs von Buchenwald: Die „Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln“. Heute an die Möglichkeiten zu erinnern, die in dieser Umbruchsituation schlummerten, ist kein Selbstzweck. Der vom deutschen Faschismus in den Tod getriebene Denker Walter Benjamin erinnert uns: „Vergangenes historisch artikulieren heißt (…), sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt (…). In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen (…). Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist.“[1]
Der zweite Grund, warum das Erinnern an die hessische Verfassung bedeutsam ist, ist, dass die Fragen, Aufgaben und Herausforderungen, mit denen linke Politik heute konfrontiert ist, denen in der Nachkriegszeit durchaus ähneln. Wir leben heute in einer tiefen gesellschaftlichen Krise mit sechs Dimensionen, die uns alle, individuell und kollektiv, in den Untergang zu ziehen drohen: Ökonomie und Akkumulation; Geschlechterverhältnisse; vierte industrielle Revolution, Marktpolarisierung und sozialer Zusammenhalt; Demokratie; Weltordnung und Klima/Ökologie.[2] Seit vielen Jahren stolpern wir von einer Krise in die nächste. Der Kapitalismus, d.h. ein grundsätzlich undemokratisches System basierend auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln, in dem also eine winzige Minderheit die gesamten gesellschaftlichen Entscheidungen fällt und sie dem Strukturzwang zur Profitmaximierung unterwirft, wird keine dieser Dimensionskrisen lösen können. Wer vom Kapitalismus nicht reden will, der soll auch von der Klimakatastrophe schweigen. Schweigen auch von der Überwindung von Ausbeutung und Ungleichheit. Schweigen vom Aufstieg der extremen Rechten und wie man ihn aufhält. Schweigen von Feminismus und Gleichstellung. Und Schweigen auch von Krieg, Fluchtursachen und Friedenssicherung.
Westeuropäisches Massenbewusstsein für den Zusammenhang von Kapitalismus, Krise, Faschismus und Krieg
Nach der Befreiung Europas vom deutschen Faschismus, an der die Sowjetunion den allergrößten Anteil hatte, war das bisherige Wirtschaftssystem vollkommen diskreditiert. Diskreditiert waren diejenigen gesellschaftlichen Kräfte und Klassen, die den Faschismus getragen hatten: die Industriebourgeoisie, der agrarische Großgrundbesitz, die hohen Militärs, die sich aus Letzterem rekrutierten, und all ihre rechten politischen Parteien, die – z.B. in der „Harzburger Front“ – mit den Nazis gemeinsame Sache gegen die Weimarer Republik gemacht hatten.
Der Kapitalismus hatte mit seiner Krise nach 1929 nicht nur die Arbeiterklassen weltweit in Hunger und Elend gestürzt, sondern seine Krise begünstigte den Aufstieg des Faschismus in Europa und ebnete den Weg in den neuen Weltkrieg. Ein signifikanter Teil der deutschen Industriebourgeoisie, insbesondere der Thyssen-Konzern, hatte Hitler von Anfang an unterstützt. Schon während der November- und der zweiten Revolution, in der die Arbeiterklasse die Errungenschaften der ersten zu verteidigen suchte, hatte die Unternehmerschaft mit rechtsextremen Kräften paktiert, von denen viele später NSDAP-Größen wurden. Die Deutsche Bank, Siemens, AEG, Borsig und andere bis heute existente Konzerne hatten gegen die soziale Revolution den „Antibolschewistenfonds der deutschen Unternehmerschaft“ gegründet und zur Bekämpfung der revolutionären Arbeiter und Soldaten 500 Millionen Reichsmark gestiftet. Die damit finanzierte Hetzjagd führte nicht nur zur Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht durch rechtsextreme Paramilitärs, von denen einige später hohe NS-Funktionäre wurden, sondern diese Mittel flossen auch in die Gründung der NSDAP selbst.
Die ostelbischen Agrarkapitalisten um den früheren Generalfeldmarschall und dann Reichspräsidenten Paul von Hindenburg wiederum hatten zunächst auf ihren ostelbischen Gütern die „Schwarze Reichswehr“ gezüchtet, um sie gegen streikende Arbeiter und für Scharmützel im Grenzland der Ostgebiete einsetzen zu können. In den zugespitzten Klassenkämpfen nach Beginn der kapitalistischen Systemkrise 1929, die zum Aufstieg der KPD führte, hatten sie dann auf Hitler und die NSDAP als Bollwerk zur Verteidigung ihrer Klassenherrschaft und zur Abwicklung der liberalen Demokratie gesetzt. Und aus Angst, dass ihre maßlose Korruption im Kontext der „Osthilfefonds“ auffliegen würde, ernannten Hindenburg und seine Großgrundbesitzer- und Militärkamarilla Hitler zum Reichskanzler.[3]
Nach der Machtübertragung an Hitler schwenkte auch der Rest der Industriebourgeoisie – namentlich die Konzernfamilie Krupp, die sich bis dahin verhalten gezeigt hatte – offen auf Hitler um und die Industrie finanzierte gemeinsam der NSDAP den Wahlkampf bei der Reichstagswahl vom März 1933. Zum Dank beseitigte Hitler nicht nur die Parteien der Arbeiterbewegung, KPD und SPD, und die Gewerkschaften, sondern dazu auch – in der „Nacht der langen Messer“ des Röhm-Putsches – den sozialrevolutionären Flügel innerhalb seiner eigenen Partei, der tatsächlich an eine national-sozialistische Revolution geglaubt hatte.[4] Anschließend übernahm Hitler die Expansionsziele des deutschen Kapitals, die der Vorsitzende des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, Carl Duisberg vom IG-Farben-Konzern, 1931 mit der Forderung nach einem „geschlossene(n) Wirtschaftsblock von Bourdeaux bis Odessa“ unter deutscher Vorherrschaft umrissen hatte, als Voraussetzung für Europas „Behauptung seiner Bedeutung in der Welt“.[5] Dieses Programm für die Neuordnung Europas, die selbstverständlich nur kriegerisch herzustellen war, übernahm Hitler und strebte zielgerichtet auf einen neuen Weltkrieg hin.
Vor diesem Hintergrund war die Auffassung, dass es eine grundlegende Neuordnung brauchte, weitverbreitet. Wie weitreichend diese Massenstimmung unmittelbar nach 1945 war, zeigt nicht nur die immense Dynamik der Mitgliederzahlen von SPD, KPD und Gewerkschaften nach 1945, sondern auch das Ahlener Programm der CDU vom 3. Februar 1947, in dem es gleich zu Anfang unmissverständlich heißt: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden (…). Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht (…).“[6]
Diese Stimmung erstreckte sich dabei auf die gesamten westeuropäischen Industrieländer. Sie ist niedergelegt in den fortschrittlichen Verfassungen dieser Zeit (nicht nur Frankreichs und Italiens, wo die Kommunisten die tragende Rolle in den Partisanenbewegungen gespielt und entsprechend Einfluss gewonnen hatten, sondern auch in denen der Sowjetunion, der DDR und dem Vorhaben der „Second Bill of Rights“ in den USA). Als Massenstimmung wurde sie sogar noch in Großbritannien wirksam, obwohl dessen politisches System den Krieg unbeschadet überdauert hatte und das Land formell Siegernation war, wo aber nach 1945 dennoch die „Labour-Partei“ einen Erdrutschsieg erzielte und hiernach unter Premierminister Atlee weitreichende, linke Forderungen durchsetzte. Ein jüngerer Dokumentarfilm des sozialistischen Filmemachers Ken Loach hat dies als den „Geist von 46“ bezeichnet.
Kurzum, die unmittelbare Nachkriegszeit war ein Zeitfenster, die kapitalistischen Wurzeln von Faschismus und Krieg dauerhaft zu beseitigen. Dies schlägt sich in der hessischen Verfassung nieder, die in weiten Teilen eine sozialistische ist. Wie Luciano Canfora schreibt: „Für einige ausgesprochen produktive Jahre ermöglichte der Antifaschismus auf institutioneller Ebene die Begründung politischer Kulturen (…), einig in dem Vorsatz, die alten ‚liberalen Demokratien‘, die Geburtshelfer des Faschismus, nicht wiederzubeleben“.[7]
Voraussetzung für die Umsetzung der Reformziele war die Überwindung der historischen organisatorischen Spaltung der Arbeiterinnen:bewegung, deren Führer sich in den 1920er Jahren gegenseitig bekämpft und versäumt hatten, in einem Generalstreik nach dem Vorbild der Roten Ruhrarmee gegen den Kapp-Putsch 1920, dreizehn Jahre später die Machtübernahme der faschistischen Konterrevolution zu verhindern, bis sie sich dann Seite an Seite in den KZs wiedergefunden hatten. Unterstützt von linken bürgerlichen Reformkräften entstanden im antifaschistischen Geist der „Volksfront“ breite gesellschaftliche Bündnisse. In Hessen hatten dabei bei den Gemeindewahlen vom Januar und den Kreistagswahlen vom April 1946 mit Rekordwahlbeteiligung die Arbeiterparteien SPD und KPD zusammen über 50 Prozent der Stimmen erhalten. Bei der Landtagswahl am 1. Dezember bekamen SPD und KPD zusammen 53,4 Prozent der Stimmen. Zudem war Südhessen auch ein Zentrum der Linkskatholiken (um Personen wie Eugen Kogon), deren Existenz bedeutete, dass die unverbesserlichen Altnazis sich in der FDP sammelten.
Die zentrale Frage im Hinblick auf die Neuordnung war der Umgang mit dem kapitalistischen Privateigentum. Als Möglichkeiten standen im Raum: Die Sozialisierung, d.h. die Überführung der Monopolkonzerne in „(Gemein-)Eigentum des Volkes“ (wie es im Artikel 40 definiert ist), oder ihre Entflechtung.
Im Rahmen der Landtagswahl vom 1. Dezember 1946 durfte die Bevölkerung auch über die Annahme der Verfassung abstimmen und über die Aufnahme des Artikels 41 zur Möglichkeit von Sozialisierungen. Diese waren, worauf Janine Wissler hingewiesen hat, entschädigungslos, wenn die Kapitalunternehmen bis dahin die Ziele der Verfassung – eine Arbeit, von der man leben kann, usw. – unterlaufen hätten. Die Verfassung war von der „verfassungsberatenden Landesversammlung Groß-Hessen“ erarbeitet worden, die am 30. Juni 1946 gewählt worden war, ebenfalls mit der SPD als stärkste Kraft und einer Mehrheit der Arbeiterparteien. Die ausgearbeitete Verfassung sah die weitreichende Vergesellschaftung der Montanindustrie (Bergbau, Eisen und Stahl) sowie die von Energieversorgung und Schienen- und Oberleitungsverkehr vor. Außerdem ist in Artikel 42 eine Bodenreform verankert, die die Enteignung des Großgrundbesitzes vorschreibt. In den verfassungsgebenden Prozess war die SPD ursprünglich sogar mit noch sehr viel weitreichenderen Forderungen hineingegangen, die auch die Sozialisierung der gesamten Baustoffindustrie, der Chemie- und Pharma-Konzerne, der Banken und Versicherungen, der Post, des Rundfunks und der Lichtspielwirtschaft vorgesehen hatten. In der Volksabstimmung stimmten nun mehr als drei Viertel der Hessen für die Gesamtverfassung und auch sage und schreibe 72,0 Prozent für die Aufnahme des Sozialisierungsartikels.
Die Sozialisierung der Montanindustrie hatte dabei besonders strategische Bedeutung für die demokratische Steuerung und Planung der Wirtschaft insgesamt. Schon im Reichsrätekongress von 1918 hatte der Sozialdemokrat Rudolf Hilferding sie als die „reifen Industrien“ bezeichnet, mit denen man alle anderen steuern könne, indem man beispielsweise Kohle, Eisen und Stahl verbilligt an diejenigen Branchen weitergeben kann, die man als demokratische Gesellschaft zu entwickeln beabsichtige. Wenn man diese Überlegungen auf heute überträgt, müsste man als „reife Industrien“ die Banken und Versicherungen nennen. Die Sozialisierung des Finanzsektors und seine Überführung in einen öffentlichen Dienstleistungssektor ist die absolute Mindestbedingung für den sozialökologischen Umbau unserer klimakillenden Wirtschaft, den es heute braucht, wenn man es wirklich ernst meint mit der Einhaltung des Klimaziels von 1,5° Celsius. Marktlösungen im Rahmen des grünen Kapitalismus sind im wahrsten Sinne des Wortes brandgefährliche Augenwischerei.
So wie aber schon die Sozialisierungsvorgaben des Reichsrätekongresses nach dem letzten Weltkrieg und Systemkollaps 1918, die ebenfalls breiteste gesellschaftliche Unterstützung genossen hatten und in den Debatten um die Wirtschaftsverfassung nach dem Kapp-Putsch 1920 sowie der Volksabstimmung über die Fürstenenteignung 1926 mit überwältigender Mehrheit nochmal bestätigt worden waren, wurden auch nach diesem verlorenen Weltkrieg die vom Volk gewollten Ziele der Verfassung nie umgesetzt.
Die Nichtumsetzung des Artikels 41 war auch durch die Uneinigkeit der beiden Arbeiterparteien bedingt, denn programmatisch standen sie sich sehr nahe, war die SPD in Teilen gar radikaler als die KPD. Die gemeinsamen Mehrheiten nutzten die beiden Arbeiterparteien aber nicht. 1945 strebten zunächst weite Teile der SPD, vor allem an der Basis, eine Fusion mit der KPD an, die die KPD nicht wollte, weil sie den Zeitpunkt hierfür noch nicht reif fand. Das erleichterte es den Antikommunisten in der SPD, wie Kurt Schumacher, auch gegen die Fusionsstimmung in der SPD und auch die Aktionseinheit zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, etwa bei betrieblichen Kämpfen, zu agitieren. Um den Jahreswechsel 1945/46 war es dann wiederum die KPD, die auf die Fusion hinarbeitete, obwohl sie dabei die bei weitem schwächere Kraft gewesen wäre. SPDler, die aber bei der Gründung der Sozialistischen Einheitspartei (SED) im Osten anwesend waren, wurden aus der Partei ausgeschlossen. In einer Erklärung der Bezirkskonferenzen der KPD Groß-Hessen vom 5. Mai 1946 heißt es: „Da Teile der Führung der hiesigen Sozialdemokratie, sich noch immer der sofortigen Schaffung der Einheit widersetzen, ist es leider nicht möglich, auch bei uns heute schon die organisatorische Einheit zu verwirklichen (…). Wir setzten jedoch unsere ganze Kraft dafür ein, daß der Wille der überwiegenden Mehrheit der Arbeiterschaft zur machtvollen Einheit so schnell wie möglich auch hier in die Tat umgesetzt wird (…)“.[8]
Die SPD-Führung bildete jedoch eine Große Koalition mit der CDU und überließ ihr zunächst sogar das Wirtschaftsministerium. Der kommissarische Wirtschaftsminister Hessens, Werner Hilpert (CDU), setzte nun die Alteigentümer als Treuhänder der zu sozialisierenden Konzerne ein. Mit anderen Worten: Man machte den Bock zum Gärtner! Die „Treuhänderschaft“ war zusammen mit der Entflechtung das zentrale Werkzeug und „Mittel zur Sicherung der alten Besitzverhältnisse“, wie später Ute Schmidt und Tilman Fichter in einer einschlägigen Monografie urteilten.[9]
Die Treuhänderschaft, die – so die Kritik der KPD – „von keiner irgendwie gearteten demokratischen Institution überwacht“ wurde und letztlich nach dem alten „Muster des Führerprinzips“ funktioniere[10] – war dabei jedoch auch in Übereinstimmung mit den Interessen der US-Besatzungsmacht. Zum einen befürchteten die Amerikaner, ohne ein kapitalistisches Westeuropa als Zielland für den Export überschüssigen US-Kapitals wieder zurück in die „Great Depression“ zu fallen. Denn man war sich bewusst darüber, dass nicht Roosevelts „New Deal“ die Wirtschaftskrise behoben hatte, sondern der Eintritt in den Weltkrieg und die Investitionen in die Rüstungswirtschaft. Zum anderen wuchs in den USA auch der innenpolitische Druck, unbedingt die Versorgungslage in der US-Besatzungszone zu verbessern – 1946 gab es eine fürchterliche Hungerkatastrophe in Deutschland –, um nicht mehr eigene Finanzressourcen für die besiegten „Hunnen“ aufzuwenden. Den US-Eliten schienen für Letzteres die privaten Alteigentümer unerlässlich bzw. dienten als Vorwand, um den sozialistischen Volkswillen zu hintergehen.
Die SPD hatte nun gegen die ersten Interventionen der USA noch protestiert und angedroht, ihre Anhänger aufzurufen, gegen die Verfassung zu stimmen, wenn der Artikel 41 abgeschliffen würde. Da die USA nicht als Stütze des Großkapitals dastehen wollten, hatten sie sich auf die Position zweier separater Volksabstimmungen zurückgezogen und diese dann genehmigt. Weil aber die Hoffnung sich zerschlug, dass die Bevölkerung sich gegen dieses „sozialistische Machwerk“ stellen würde, verboten die USA die Umsetzung der Verfassung durch das „Kontrollratsgesetz Nr. 75“, mit dem der Vergesellschaftung der Montanindustrie ein Riegel vorgeschoben wurde. Man müsse eben konstatieren, urteilte später der Marburger Verfassungsrechtler und Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth, „daß keineswegs nur auf dem Wege von SBZ zur DDR, sondern in gleichem Maße auf dem Wege von den drei westlichen Besatzungszonen zur BRD die Intervention der jeweils herrschenden Siegermächte die künftige Struktur der beiden deutschen Staaten in viel stärkerem Maße bestimmt hat als die eigene Meinungsentwicklung des deutschen Volkes und seiner relevanten sozialen Organisationen (…)“.[11] Schritt für Schritt wurde nun die Liste der zu sozialisierenden Unternehmen kürzer. Ein Durchführungsgesetz der Verfassung wurde nicht erlassen, weshalb die Alteigentümer Treuhänder blieben. Wer heute die laufenden Koalitionsverhandlungen in Berlin beobachtet und die Art und Weise, wie der überwältigende Volkswille zur Enteignung der großen Immobilienkonzerne („Deutsche Wohnen und Co. enteignen“) von der Giffey-SPD missachtet wird, erkennt natürlich sofort, wie sich Geschichte hier zu wiederholen droht.
Um überhaupt noch irgendetwas umzusetzen, versuchte die hessische SPD indes gegen ihren Koalitionspartner aus kleinen und mittleren Unternehmen „Sozialgemeinschaften“ zu schaffen, in denen Belegschaft, „Konsumenten“ und Landesvertreter drittelparitätisch die Unternehmen lenken sollten. Mittlerweile aber hatte längst der Kalte Krieg eingesetzt und schloss man auch in der CDU wieder und fast ungebrochen an das alte antikommunistische Erbe der Nazis an. Der Versuch mit den Stimmen der KPD, also gegen den Koalitionspartner, die Sozialgemeinschaften doch noch durchzusetzen, scheiterte 1950 im Landtag, weil die nummerische Mehrheit bei der Abstimmung aufgrund der Krankheit von fünf Abgeordneten, unentschuldigtem Fehlen einer SPDlerin und dem Hausverbot eines KPDlers nicht zustande kam. Mit 41 zu 41 Stimmen scheiterte die Initiative.
„Ab 1947 wurde die gesamte künftige Entwicklung der Westzonen und dadurch der Bundesrepublik durch den offenen Ausbruch des Kalten Krieges bestimmt“, schreibt der Marburger Politikwissenschaftler Georg Fülberth. „Damit traten die alten Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse aus der Latenz, in welche sie hier nach der Kapitulation 1945 versetzt worden waren, wieder hervor (…).“[12] An die Stelle der Demokratisierung der Wirtschaft durch Vergesellschaftung trat nun bestenfalls die „Entflechtung“ zur Verhinderung von Markt- und politischer Macht der Großkonzerne, also um ihrer „monopolistische Machtzusammenballung und politische Macht“ etwas entgegenzusetzen, wie es im Artikel 39 der Verfassung heißt. Der IG Farben-Konzern, der mit dem Prinzip „Vernichtung durch Arbeit“ in Auschwitz unermesslich reich und mächtig geworden war, wurde 1951 zerschlagen, aber seine Nachfolgekonzerne Agfa, BASF, Bayer, Hoechst und acht weitere Großkonzerne waren alsbald größer als es die IG Farben je gewesen waren.[13]
Die hessische Verfassung ist indes bis heute mit minimalen Veränderungen in Kraft, weil sich ein CDU-Begehren zu ihrer Änderung 1991 – trotz des antikommunistischen Geistes nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus – nicht durchsetzen konnte. Die vor allem von der SPD erarbeiteten und von der Bevölkerung enthusiastisch bekräftigten Beschlüsse zur Sozialisierung sind genauso wie die des Reichsrätekongresses bis heute unabgegolten. Im Übrigen auch nie verwirklicht wurden die weitreichenden betrieblichen Mitbestimmungsziele der Verfassung. Zu den für viele Westlinke unangenehmen Erkenntnissen gehört, worauf Daniela Dahn hingewiesen hat, dass letztlich alle „traditionellen antikapitalistischen Forderungen“ der SPD nach 1945 allein in der sowjetisch besetzten Zone verwirklicht wurden.[14] Die 2011 erfolgte Verankerung der Schuldenbremse in der hessischen Verfassung blockiert dabei heute die Umsetzung der konstitutionell zugrunde gelegten, weitreichenden sozialen Rechte wie das Recht auf eine lebensunterhaltende Arbeit, kostenlose Bildung, kostenlose Gesundheit, Bürgerversicherung usw. Letztlich war sowohl die Einführung der Schuldenbremse als auch die Einführung von Studiengebühren verfassungswidrig. Wie Janine Wissler sagt: „Die Schuldenbremse macht vieles zur Makulatur.“ Auch dürften, so Wissler, nach der hessischen Verfassung die nordhessischen Rüstungskonzerne eigentlich nicht mehr produzieren und exportieren, dürfte die kommende „Ampel“-Regierung die Bahn nach ihrer Privatisierung nicht auch noch zerschlagen.
Nun ist es so, dass die Umsetzung der hessischen Verfassung heute in Teilen auch vom „Grundgesetz“ von 1949 eingeschränkt würde. Letzteres erlaubt zwar bis heute immer noch einen verfassungskonformen Weg in den Sozialismus, wie Wolfgang Abendroth in seiner berühmten Debatte mit Ernst Forsthoff argumentierte.[15] Das Grundgesetz von 1949 stand jedoch schon im antikommunistischen Geist des Kalten Kriegs. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass das Streikrecht und Verbot von Aussperrungen, wie es in Hessen erstmals eingeführt wurde, im Grundgesetz nicht mehr verankert ist. Sinn und Zweck des Grundgesetzes war es gerade, die Bestrebungen auf Landesebene einzuhegen. Der Scherz sei darum erlaubt, dass – zur Umsetzung des Volkswillens und der nachhaltigen Bearbeitung der Kapitalismus- und Klimakrise – auch die Sezession Hessens von der Bundesrepublik Deutschland ein Gedankenspiel wert sein sollte. Natürlich müsste dies – soviel sei zur Beruhigung der Freunde von Eintracht Frankfurt in der Fußball-Bundesliga gesagt – auch nicht dauerhaft passieren und auch nicht vermittels der Anwendung ihrer gesamten Machtfülle, die bekanntlich auch die Todesstrafe umfasst.
Scherz beiseite! Tatsache ist: Die hessische Verfassung ist ein Dokument, das zeigt, dass der Sozialismus in der deutschen Bevölkerung historisch tief verankert gewesen ist. Einen legendären Satz von Werner Sombart über den (mangelnden) Sozialismus in den USA paraphrasierend, könnte man sagen: Der Sozialismus ist so natürlich deutsch wie schwäbischer Zwiebelrostbraten und Altländer Apfelkuchen. Und das eben nicht nur in der DDR, wo unter widrigsten Bedingungen der grundsätzlich legitime „Aufbau des Sozialismus“ versucht wurde.
Die Erinnerung an „was einmal war“ ist aber, mit Benjamin gedacht, eben nicht nur die Mahnung an ein „Was hätte sein können“ und die Tatsache, dass in den westlichen Besatzungszonen auf dem Weg zur Gründung der Bundesrepublik vier Jahre später der Kapitalismus „restauriert“, ja „erzwungen“ und die Neuordnung „verhindert“ wurde, wie es in den 1970er Jahren einschlägige Monografien der kritischen Geschichts- und Sozialwissenschaft – von Ute Schmidt, Tilman Fichter, Eberhard Schmidt, Rolf Badstübner, Siegfried Thomas, Ernst Huster und anderen – formulierten. Es ist auch eine Mahnung an uns in der Gegenwart, dass wenn dieser Planet überhaupt eine Zukunft haben soll, die von den Volksmassen nach 1945 geforderte und entschiedene radikale Demokratisierung der antidemokratischen kapitalistischen Wirtschaft in Form der Vergesellschaftung ihrer Kommandohöhen elementarer Bestandteil jedweder Zukunftsprogrammatik sein muss, wenn wir eine Zukunft haben wollen. Die Umsetzung käme wohl auch einer finalen Genugtuung gleich für die Millionen Opfer des Faschismus, in Deutschland und in Europa, dass man die von ihnen gezogene Lehre in Ehren hält und dass ihr fürchterliches Leid nicht umsonst gewesen sein möge.
[1] Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. I-2, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1980, S.695
[2] Ingar Solty: Die Welt von morgen. Szenarien unserer Zukunft zwischen Katastrophe und Hoffnung, in: LuXemburg, H.3/2019, S.36-45.
[3] Dieter Hoffmann: Der Skandal. Hindenburgs Entscheidung für Hitler, Donat Verlag, Bremen 2019.
[4] Reinhard Kühnl: Die nationalsozialistische Linke, Verlag Anton Hain, Meisenheim 1966.
[5] Zit.n. Reinhard Opitz: Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945, 2. Aufl., Pahl-Rugenstein Nachfolger, Bonn 1994, S.581f.
[6] [6] https://www.kas.de/de/einzeltitel/-/content/das-ahlener-programm-der-cdu-der-britischen-zone-vom-3.-februar-1947
[7] Luciano Canfora: Eine kurze Geschichte der Demokratie, Papy Rossa, Köln 2006, S.250.
[8] Erklärung der Bezirkskonferenzen der KPD Groß-Hessen zu dringenden politischen Aufgaben, in: Dokumente der KPD 1945-1956, S.79.
[9] Ute Schmidt u. Tilman Fichter: Der erzwungene Kapitalismus, Wagenbach, Westberlin 1971, S.30.
[10] Resolution des Landesparteitages der KPD Hessen für die unverzügliche Durchführung des Artikels 41 in der Hessischen Verfassung, in: Dokumente der KPD 1945-1956, S.111.
[11] Eberhard Schmidt: Die verhinderte Neuordnung 1945-1952, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 1970, S.S.6.
[12] Georg Fülberth: Finis Germaniae, Papy Rossa, Köln 2007, S.22.
[13] Otto Köhler: Und heute die ganze Welt, Papy Rossa, Köln 2002.
[14] Daniela Dahn: Wehe dem Sieger!, 3. Aufl., Rowohlt, Reinbek 2009, S.110.
[15] Wolfgang Abendroth: Gesammelte Schriften, Bd.2, Offizin Verlag, Hannover 2008, S.338–357.