Helmut Kohl: Respektvoller Umgang ja, aber keine nachträgliche Verklärung

Vergangene Woche verstarb Helmut Kohl aka „Birne“ und „KdE“ (Kanzler der Einheit) im Alter von 87 Jahren. Erst heute habe ich die Zeit gefunden für einen, durchaus auch, persönlich gehaltenen Nachruf. Ein Beitrag von Marcus Hesse.

Ich bin 1980 geboren, als ich gerade sprechen lernte, wurde Kohl Bundeskanzler. In meiner Kindheit war der dicke Mann mit dem komischen Akzent geradezu das Synonym für Kanzler. Ich kannte keine anderen. Und doch war er mir nicht nahe, nicht sympathisch. Denn ich wuchs in einer Arbeiterfamilie auf, in der man seit Generationen aus gutem Grund SPD wählte und wusste, dass die CDU „uns ärmer“ macht und „Politik für die da oben“ betreibt. (Damals gab es noch einen qualitiativen Unterschied zwischen den beiden Parteien). Das waren Erkenntnisse, die ich früh geistig aufsaugte und freilich erst später – als ich meinen kindlichen Spielwelten entstieg – praktisch nachvollziehen konnte.

Tatsächlich stand Kohls Machtantritt 1982 im Kontext einer Rechtsentwicklung. Kohl war die deutsche Entsprechung Ronald Reagans und Maggie Thatchers. Sein Slogan der „geistig-moralischen Wende“ stand für einen konservativen und wirtschaftliberalen Rollback. Harte Zeiten kamen auf die Arbeiterklassee, die Jugend, MigrantInnen und die Linke zu. Der Ton wurde rauher – harte Kämpfe standen bevor. (Bsp. Rheinhausen). Kohls neuer Zeitgeist schuf einen neuen Typus von Menschen: Den Yuppie bzw. den Popper in der Jugendkultur. Zurecht avancierte „Birne“ schnell zum gehassten Feindbild der Linken.

Eine Liste der deutschen Punkrocksongs gegen ihn aufzulisten, würde den Rahmen sprengen. Nur ein Beispiel: BAföG, bis dahin als Vollzuschuss, quasi ein Stipendium für alle studierenden Kinder aus einkommenssschwachen Familien, wurde unter Kohl zum Volldarlehnen umgewandelt. Erst anderthalb Jahzehnte später sollte ich am eigenen Leib merken, was das bedeutet, wenn man sein Erwerbsleben mit einer fünfstelligen Schuldensumme beginnt.

Über den Mauerfall 1989 freute ich mich anfangs, sah aber bald schon (ab meinem 10. Lebensjahr) zu was es führt, wenn im Osten ganze Betriebe dichtgemacht und Millionen Menschen arbeitslos werden. Kohl war eben der Kanzler der Einheit – der nationalistischen Stimmung des „Wir sind wieder wer“. Er war der Kanzler der Treuhand, der Volkseigentum privatisierte – nicht nur in der Ex-DDR, aber da besonders krass. Post und Bahn wurden in profitorientierte AGen umgeandelt und die „Bourgeoisie von Auschwitz“ bekam ihre ab 1945 enteigneten Betriebe zurück. In Bischofferode traten die Kali-Kumpel verzeifelt in den Hungerstreik – doch es nützte nichts.

Die versprochen „blühenden Landschaften“ in der ehemaligen DDR bestanden vielfach aus Industriebrachen und schicksanierten Innenstädten, während die Vorstädte verfielen. Bei einem Auftritt in Ostdeutschland wurde er schon 1991 mit Eiern beworfen.

Nach den Pogromen von Rostock-Lichtenhagen erfüllte Kohl mit der Grundgesetzänderung und der de-facto-Abschaffung des Asylrechts den Willen des rassistischen Mobs. Das hat mich als jungen Teenager sehr schockiert. Doch ich war damals noch nicht politisch aktiv.

Zu der Zeit erlebten wir aber zuhause materielle Not. Mein Vater hatte 1990 seinen Arbeitsplatz verloren und machte sich selbständig. Das lief nicht gut und führte nach ein paar Jahren in die Insolvenz. Ich erlebte damals, was es bedeutete, als Kind dessen Eltern einem keine teuren Klamotten oder Klassenfahrten bezahlen können, zum Gymnasium zu gehen -inmitten von Besserverdienendenkindern. Denn Leistung und Erfolg waren wichtige Werte der „geistig-moralischen Wende“. Ich fing langsam an, diese Gesellschafts- und Wirtschatsordnung überhaupt in Frage zu stellen.

Helmut Kohl

Kohl schuf auch Anfang der 90er ein Gesetz, das Unternehmsgründungen in Deutschland nach ausländiscer Rechtsform zuliess. Firmen nennen sich einfach „Ltd“ und sind damit gegenüber Arbeitnehmerforderungen und Verbrauchern sicher. 2006 erlebte ich, als auf einen Nebenjob angewiesener Student, so einen Fall: Mein Arbeitgeber zahlte mir meinen Lohn nicht und ich zog vors Arbeitsgericht. Ergebnis: Ich bin im Recht und der Arbeitgeber muss zahlen. Aber es gibt keine Handhabe, das Geld einzutreiben, weil die Aachener Firma formal in England sitzt. Dank eines Kohl-Gesetzes also blieb dieses Treiben folgenlos. So konnte ich damals nur durch die materielle Hilfe von Angehörigen, GenossInnen und besonders meiner damaligen Freundin diese Zeit überleben, ohne größere Mietrückstände.

Die Ära Kohl ging. Die Spendenaffäre enthüllte das Ausmaß der Korruption dieses Systems. Doch Kohl und seine Entourage, wie der Waffenhändler Schreiber, landeten nicht im Knast, wie es armen Menschen im Gegenssatz dazu schnell passieren würde, wenn sie mehrmals schwarz mit dem Bus fahren.

1998 gab es eine euphorische Wechselstimmung zu Gunsten des „Genossen der Bosse“ Schröder. Man hatte Kohl satt und wollte einen Wechsel, nicht ahnend, dass mit der Agenda 2010 alles noch schlimmer werden würde. Ich hatte da keine Illusionen mehr. Zumindest nicht in das bestehende System. Ich trat im April 1998 in die SAV ein, nachdem ich zuvor als eifrig Suchender eher anarchistisch orientiert war und zeitweise auch mit einem PDS-Eintritt liebäugelte.

Heute erlebt die Kohl-Ära eine merkwürdige Verklärung. Bizarrerweise auch durch manche Linke. Dee Linkspartei in Rheinland-Pfalz warb sogar mit einem Zitat von ihm und manch einer schwadroniert darüber, dass es unter Kohl noch „irgendwie sozialer“ zugegangen sei. Politisch ist das völlig falsch und haltlos. Kohl soll ruhen, aber ich habe kein Verständnis für seine Verklärung.

Dass es wie beim Tode Thatchers Freudenfeiern geben wird, glaube ich nicht. Zumindest keine Großen. Aber Kohl war ein rechter bürgerlicher Politiker, der aktiv dazu beigetragen hat, das Leben der Arbeiterklasse zu verschlechtern. Für das Kapital wird er immer ein ganz Großer sein. Denn seine Politik diente den Herrschenden.

German Election Posters, Helmut Kohl, Gregor Gysi,  Rostock, Oct 1994

Dass die Bourgeoisie Kohl in den höchsten Tönen lobt, ist daher nachvollziehbar und konsequent: Schließlich war er einer von ihnen und hat Politik in ihrem Interesse gemacht. Völlig unverzeilhich, peinlich und widerlich aber ist die Reaktion führender Linke-PolitikerInnen wie Gysi, Riexinger, Wagenknecht, Kipping, Bartsch und Konsorten. Sie verfallen in die schleimigsten Loghudeleien auf den Verstorbenen und deuten dabei, in politisch krimineller Weise, sein Vermächtnis um – wahlweise wird Kohl zum „Verteidiger des Sozialstaats“ (Riexinger/Wagenknecht/Kipping/Bartsch), zum „großen Europäer“ (Gysi) – der ihn selbst für die „deutsche Einheit“ lobt – oder immerhin noch als „Fürkämpfer des Friedens mit Russland“ (Dagdelen). Besonders letzteres ist ein besonders dummes Argument, nachdem Linke auch Fürst Bismarck und heute der AfD-Spitze huldigen müssten.

Es fällt direkt auf: Also auch eine Vertreterin des „linken Flügels“ der Partei stimmt in den Chor der Lobhudler ein – beinahe so, als sei das generalstabsmäßig im Karl-Liebknecht-Haus oder in der Fraktion beschlossen worden.

Nun spricht nichts dagegen pietät- und respektvoll eines verstorbenen politischen Gegners zu gedenken. Das hat sogar Würde und Stil. Aber es ist schäbig und verräterisch, so einen Menschen posthum zu verklären und sein Tun – das gegen die Interessen der Arbeiterklasse gerichtet war – in ein positives Licht oder sogar in die Nähe der eigenen Politik zu rücken.

Offenbar will man sich als respektabel, brav und staatstragend präsentieren. Es lohnt nicht, solchen Schwachsinn historisch und politisch zu widerlegen. Vielmehr sind diese Nachrufe Indizien für die Anbiderung und Rechtsentwicklung der Parteiführung. Indem sie sich positiv auf die Ideologie und Geschichtsbetarchtung der Herrschenden bezieht, will sie zeigen, dass sie dazu gehört.

Marcus Hesse ist Aktiv in der Partei die Linke in Aachen und Mitglied der SAV.

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