Am letzten Wochenende feierte die Europäische Union (EU) mit dem 60. Jahrestag der Römischen Verträge ihr Gründungspapier. Die Feier für diesen Anlass war bereits angesetzt, nur eines ist unklar: Die EU-Eliten waren unsicher, welchen Ton anzustimmen, gefangen zwischen dem Feiern der vergangenen Erfolge und dem Fokussieren auf das Wort dieser Tage: Geschwindigkeit. Es geht um ein Europa, das zwei oder mehr Geschwindigkeiten geht, ganz davon abhängig davon, wen man befragt.
Ein Artikel von Miguel Urbán
Heute brauchen Europäer weder leere Übungen in Nostalgie, noch Diskussionen darüber, wer den schnellen und wer den langsamen Weg gehen soll. Die Kernfrage lautet nicht „wie schnell sollen wir gehen“ oder in welchen Gefährt (föderaler oder intergovernmentaler?), sondern welche Richtung das europäische Projekt einschlagen soll und wer am Wegesrand zurückbleibt.
Die Feierlichkeiten in Rom waren geprägt vom Weißbuch, in dem der Chef der Kommission Jean-Claude Juncker mehrere mögliche Szenarien für die Zukunft der EU entwickelte: Den aktuellen Rhythmus beibehalten, zu beschleunigen, die Bremsen zu betätigen, oder wieder rückwärts zu gehen. Nicht ein Wort wurde auf Substanzielles verschwendet, also welche politischen Maßnahmen diesen Weg bestimmen sollen. Nichts zu Jugendarbeitslosigkeit, der Migrationskrise, Einsparungen, Gewalt gegen Frauen, oder Klimawandel. Zum hundertsten Mal ignoriert Europas Elite die Krisen, die den Kontinent bedrohen und verschließt die Augen vor denen, die darunter zu leiden haben.
Durch das Wegschauen vor den echten Problemen der Bevölkerungen, hält die EU den wichtigsten Mechanismus für die Schaffung von Euroskeptik aufrecht. Ist das der Abkoppelung der EU-Eliten geschuldet, dass sie in ihren Elfenbeintürmen gefangen sind? Oder ist es eine Strategie die Aufmerksamkeit abzulenken, da sie sonst über die Probleme, die Millionen von Menschen betreffen, zu sprechen hätten? Oder weil sie ihr Scheitern in der Lösung der Probleme eingestehen müssten?
Mit ihrer aggressiven Außenpolitik hat die EU Konflikte auf der Welt verschärft und beigetragen, neue „Wellen“ an gezwungener Migration zu schaffen. Mit ihrer Grenzpolitik hat es das Mittelmeer zu einem enormen Massengrab, Asyl zu einer Ausnahme, und Immigration zur Gefahr gemacht für alle, die von Bomben und Elend fliehen. Mit ihrer institutionellen Fremdenfeindlichkeit hat die EU diesen Diskurs normalisiert und damit auch Vorschläge der neuen radikalen Rechte und dem fremdenfeindlichen Populismus, die überall auf dem Kontinent wachsen. Das Gespenst der Vergangenheit erscheint heute in Form von Le Pen auf dem ganzen Kontinent.
Durch die Aushöhlung von Souveränität und Demokratie, der Entfremdung des politischen Entscheidungsprozesses derer, die den Gesetzgebenden eigentlich unterstehen, hat die EU eine grundsätzliche Krankheit genährt: Brexit und der Aufstieg der ausschließenden und identitären Nationalisten. Mit aufeinanderfolgenden Verträgen hat die EU Neoliberalismus in ihren Wertekanon aufgenommen. Die Zusammenarbeit mit TTIP und CETA hat das Gesetz des Marktes (lex mercatoria) den Grundrechten vorgezogen. Durch ihr Management der Finanzkrise haben Europas Eliten Staatsschulden und die Aufrechterhaltung der Pensionen als Bedrohung angesehen, während Ungleichheit, Armut, und Arbeitslosigkeit steigen.
In weniger als 10 Jahren hat die EU sich entwickelt, von der Ankündigung den „Kapitalismus zu reformieren“ zu dem Plünderung der Ressourcen, der Rückname der Freiheiten, und die Enteignung der Rechte Millionen Europäer und Menschen in aller Welt. Heute ist die EU das führende und am weitesten entwickelte Instrument des globalen Neoliberalismus. Trotz all dem wurde nichts davon in Junckers Weißbuch, oder in den Diskussionen und Feierlichkeiten in Rom letztes Wochenende erwähnt.
Alles deutet auf die Römische Erklärung hin, die so feierlich letzten Sonntag unterzeichnet wurde und ein „Europa à la carte“ formalisiert, das Merkel-Deutschland und andere mittel- und nordeuropäische EU-Länder seit Jahren erträumen. Das Problem ist nicht nur, dass einige Mitgliedsstaaten viel schneller vorangehen werden als andere, entlang des Weges „Europäische Integration“ (das passiert jetzt schon ohnehin in der Eurozone und bei Schengen), sondern dass diese unterschiedlichen Rhythmen zu einem Herauspicken des individuell Besten bei bestimmten Fragestellungen führen wird.
Es wird in manchen Fragen ein mehr an Europa geben, in anderen werden die Bremsen angezogen werden, und wieder anderen sogar weniger Europa. Uns sollte klar sein, die leeren Worte, die so eine Art von Erklärung immer ausmachen, werden nicht das einzige sein, das von Bedeutung ist. Europa a la carte hat ein sehr konkretes, begrenztes Menü: Eines, das darauf fokussiert ist, Mitglieder für s „mehr Europa“ zu werben, allerdings nur in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung.
Für die EU Elite ist das der große (und scheinbar einzige) strategische Einsatz für die anbrechenden Zeiten: Wir können zwar keinen Wohlstand und keine Demokratie anbieten, zumindest können wir Sicherheit in Zeiten wachsender Bedrohungen weltweit bereitstellen. Und dahingehend werden sie eine „tiefergehende Kooperation“ unter Mitgliedsstaaten vorantreiben, für jene, die es wollen, also einen europäischen Verteidigungsfond, eine gemeinsame Militär- und Waffenindustrie, mehr polizeiliche und militärische Zusammenarbeit. Das alles wird verfolgt, um endlich – wer weiß wann genau – eine europäische Armee in diese Welt zu bringen.
In einer europäischen Landschaft, die immer mehr durch große Ungleichgewichte hinsichtlich ihrer Macht drinnen charakterisiert ist – zum Vorteil der Länder mit größerer Wettbewerbsfähigkeit – und mit ihren demokratisch delegitimierten Institutionen, denen es Ressourcen und politischem Wille fehlt, die nötigen Umverteilungsmaßnahmen und die Umkehrung der Sparpolitik vorzunehmen, ist das einzige, was die EU zu bieten hat zu bieten hat, alles auf Militarisierung, Verteidigung, und Sicherheit zu setzen. Auch wenn sie offiziell nicht eingeladen waren zum Abendessen in Rom haben am Samstag die Rüstungsfirmen und ihre Brüsseler Lobbyisten eigene Parties auf dem Kontinent veranstalten lassen, um die neue „Geschwindigkeit“ Europas zu feiern.
Vor 60 Jahren war das, was heute die EU ist, als Projekt gegründet worden, einen Binnenmarkt, Zollunion, und engere Zusammenarbeit zwischen den Ländern der Kohle- und Stahlproduktion zu schaffen. Rohstoffgewinnung und – Austausch, sowie freier Wettbewerb, war die Keimzelle des europäischen Projekts. Wir sollten uns nicht selbst täuschen darin, die Politik der letzten Dekade als etwas außergewöhnliches darzustellen. Die Interessen des Marktes, sowie Währungs- und Haushaltsfragen sind immer oberste Priorität gewesen.
Demokratische Fortschritte, Frieden, Sozialstaaten, und Grundrechte waren willkommene Begleitprodukte, wenn es die Rahmenbedingungen der Kapitalakkumulation erlaubte, aber sie waren nie ultimatives Ziel derer, die das Konzept geschaffen haben und die heute die EU führen. Wenn die Bedingungen nicht günstig waren für diese „sozialen Versprechen“, wurde schnell klar, was das Projekt eigentlich zusammenhielt. Die gut gesponnenen Gründungsmythen wurden aufgelöst und eine autoritäre Sparpolitik löste sie als einzigen Plan ab.
Daniel Bensaïd sagte mal, der Kampf der Unterdrückten beginnt mit negativer Definition. Das ist unsere Ablehnung des Projekts Europa under den Einschränkungen von einer monetären Zwangsjacke, Schuldendisziplin, und eines Sicherheitsstaates. Unser alternatives Projekt für Europa muss sich nun neu entwickeln.
We bekämpfen die EU nicht, um eine bedrohte nationale Identität und Souveränität zurückzufordern, im Sinne der radikalen Rechte. Wir tun dies von einem Klassen-Standpunkt, im Name einer sozialen Solidarität, die unter Beschuss steht von den Euroliberalismus. Das bedeutet Stellung zu beziehen zwischen der erbarmungslosen Wettbewerbslogik der europäischen Eliten – der „frostig-eisige Atem der materialistischen Gesellschaft“, über den Walter Benjamin schrieb, und dem „warmen Atem von Solidarität und des Gemeinwohls“, den Bensaïd verteidigt.
Wir können feststellen, dass das heutige Europa im Streit liegt. Sie wollen uns eine falsche Dichotomie locken, in der wir wählen müssen zwischen einer neoliberalen EU und einem xenophobischen Rückzug in die Nationalstaaten. Diese Wahl ist nicht ein Trick, sie ist auch eine, die sowohl die eine, als auch die andere Richtung verstärkt.
Wir brauchen einen Plan B für Europa – das Problem ist nicht seine Geschwindigkeit, aber seine Richtung. Wir müssen eine Art europäisches Projekt starten, dass die Wurzeln der Demokratie, also Antifaschismus, Solidarität, Frieden, und soziale Gerechtigkeit wiederbeleben. Ein europäisches Projekt, das weder ausschließt, noch jemand heraustreibt, eines, von dem keiner mehr weggehen wollte. Diese Aufgabe ist heute so dringlich wie unumgänglich geworden.
We need a Plan B for Europe — and its problem is not its speed, but its direction. Let’s start to give form to a European project that recovers the roots of democracy in partisan antifascism, solidarity, peace, and social justice. A European project that neither excludes nor expels anyone, for it is a project no one would want to walk away from. That task has today become as urgent as it is indispensable.
Übersetzt von David Bruder für das jacobin mag. Dieser Artikel ist zuerst erschienen am 2. April 2017 auf jacobin und wurde verfasst vom EU-Parlamentsabgeordneten Miguel Urbán, Gründungsmitglied der spanischen Podemos 2014.
Für die Freiheitsliebe wurde dieser Artikel aus dem Englischen übersetzt von Martín Dudenhöffer.