Kein Krieg gegen Syrien!

Es gibt keine gesicherten Erkenntnisse über die Täterschaft der verheerenden Giftgasanschläge von Chan Schaichun vom Dienstag, bei denen 86 Menschen starben. Der Westen beschuldigt Assad, die US-Regierung feuert illegal 50 Tomahawk-Raketen auf Syrien ab. Doch nicht mehr Krieg, nur mehr Diplomatie kann die Lage in Syrien zum Besseren wenden.


Am vergangenen Dienstag ereignete sich im syrischen Chan Schaichun in der heftig umkämpften Idlib-Region im Nordwesten Syriens ein verheerender Giftgasangriff, bei dem 86 Menschen getötet wurden, darunter 26 Kinder, und bis zu 200 weitere schwer verletzt wurden. Ein 29-jähriger Syrer hat seine komplette Familie verloren, 22 Mitglieder, darunter seine beiden neugeborenen Zwillinge. Der jüngste Angriff war der weltweit verheerendste Einsatz von Giftgas seit dem Sarin-Angriff im syrischen Ghouta 2013, der wiederum der zweitverheerendste Giftgasangriff in der Geschichte der Menschheit war. Zeugen vor Ort berichteten, dass einige Stunden nach dem Angriff auch eines der Krankenhäuser, in denen die Opfer behandelt wurden, bombardiert wurde.

Das Einzige, was wir wissen, ist, dass wir nichts wissen.

Die UN-Organisation für das Verbot chemischer Waffen leitete vor Ort Untersuchungen zum Vorfall ein, die noch andauern – ein Fakt, auf den deutlich hinzuweisen ist: es gibt noch keine Ergebnisse zum Vorfall. Alles, was wir bis jetzt an Anschuldigungen hören sind Spekulationen.

An vorderster Front stand hier etwas überraschend US-Präsident Trump, der den Anschlag eine „Beleidigung der Menschheit“ nannte und Assad dafür verantwortlich machte. Hatte seine Administration letzte Woche noch verkündet, der Sturz von Assad sei keine Priorität der US-Regierung mehr – eine 180°-Wende zur Obama-Administration, für die Regime Change in Syrien Kernpunkt ihrer Politik war – so zeigte sich Trump nach dem Giftgasangriff vom Dienstag erschüttert und erklärte, seine „Einstellung zu Assad hat sich drastisch geändert,“ und durch den Angriff wären nun auch für ihn „viele, viele Linien überschritten.“

Neben Präsident Trump scheinen auch die britische Regierung sowie der türkische Präsident Erdoğan den Täter bereits zu kennen. Israels als militärischer Hardliner bekannter Verteidigungsminister Avigdor Liberman sagte gar, er könne mit „100-prozentiger Sicherheit“ sagen, Assad höchstpersönlich hätte den Giftgasangriff geplant und schließlich den Befehl dazu gegeben, und rief weiter die internationale Gemeinschaft zu Vergeltung auf. Die französische Regierung fordert immerhin die Logbücher der syrischen Luftwaffe einzusehen, ehe sie zu einem abschließenden Urteil käme. Die Deutsche Bundesregierung weist zwar daraufhin, die Untersuchungen zum Angriff seien noch nicht abgeschlossen, das „Assad-Regime“ müsse jedoch trotzdem „für dieses menschenverachtende Verbrechen zur Verantwortung gezogen“ werden. Auch die Regierung-Merkel weiß also bereits vor Abschluss der Untersuchungen, wer der Schuldige ist.

Der syrische Außenminister Walid al-Moallem nannte die Anschuldigungen gegen seine Regierung eine „Lüge“, Syrien habe noch nie Chemiewaffen eingesetzt und werde dies auch in Zukunft nicht tun. Al-Moallem machte vielmehr darauf aufmerksam, dass Terrorgruppen wie die Al-Nusra-Front und der IS in der Vergangenheit erwiesenermaßen Chemiewaffen über den Irak und die Türkei nach Syrien geschmuggelt hätten. Die syrische Luftwaffe hätte am Dienstag demnach ab 11.30 Uhr Ortszeit Angriffe gegen eine Lagerhalle für Chemiewaffen der Al-Nusra-Front geflogen, so Al-Moallem, während Berichte über Tote und Verletzte durch Giftgas jedoch bereits ab 6.00 Uhr auftauchten, weshalb er dschihadistische Terroristen der tödlichen Giftgasangriffe bezichtigte. Auch die New York Times berichtete, dass sich die Chemieangriffe in den „frühen Morgenstunden“ zutrugen. Die russische Regierung – der engste Verbündete Assads – stützte ebenfalls die Version der bombardierten Giftgaslagerhalle. Der Kreml-Sprecher Peskov deutete hingegen an, der Angriff sei von syrischen Oppositionellen ausgeführt worden, da lediglich Terroristen und Gegner von Präsident Assad davon profitieren würden.

Die ersten Stunden und Tage nach den verwerflichen Angriffen von Chan Schaichun waren bestimmt von vorschnellen Urteilen, von Hysterie und Rachegelüsten. Stimmen der Vernunft waren äußerst rar gesät, so mahnte etwa die kanadische Außenministerin Chrystia Freeland Besonnenheit an und forderte „wasserdichte“ Beweise der Täterschaft. Doch derartige Forderungen nach Vernunft scheinen unterzugehen im Meer der bislang unbewiesenen Anschuldigungen.

Billigste Kriegspropaganda…

Dann kam die US-amerikanische Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Nikki Haley, mit ihrem Lehrstück in Kriegspropaganda vor dem UN-Sicherheitsrat. Ich persönlich fühlte mich ein wenig zurückerinnert an die Rede des damaligen US-Außenministers Collin Powell vor demselben Gremium 2003, in dem er der Welt den illegalen Angriffskrieg der Bush-Regierung auf den Irak schmackhaft machte.

Die UN-Botschafterin der USA, Nikki Haley, präsentiert dem UN-Sicherheitsrat Bilder von toten Babys und hofft so Sympathien für einen Krieg gegen Syrien zu erhalten. Screenshot from C-SPAN, YouTube.

Colin Powell hat sich 2003 die Mühe gemacht und hat sich eine Powerpoint-Präsentation zusammengebastelt, hat mithilfe seines berühmtberüchtigten Fläschchens mit gefärbtem Backpulver („Anthrax“) Angst und Schrecken verbreitet und sich 76 Minuten Zeit genommen und mit seiner Eloquenz und Credibility die Welt in das größte Menschheitsverbrechen seit dem Vietnamkrieg hineingelogen. Man könnte fast meinen, er hat wenigstens in dem Maße Respekt gehabt, um uns zumindest auf hohem Niveau ins Gesicht zu lügen.

Colin Powell präsentiert 2003 dem UN-Sicherheitsrat ein Fläschchen „Anthrax“, kurze Zeit später überfallen die USA den Irak. © Creative Commons

UN-Botschafterin Haley hingegen bedient sich des schäbigsten Kriegspropagandatools von allen: Tote Babys. Zuckend im Todeskampf. Mit Schaum vorm Mund. Hingerichtet vom bösen Mann in Damaskus.

„Schaut Euch diese Bilder an. Wir können unsere Augen vor diesen Bildern nicht verschließen.“

Haley spricht abschließend die unmissverständliche Drohung aus:

„Es gibt Zeiten im Leben von Staaten, in denen wir gezwungen sind, selbst aktiv zu werden.“

Auch Trump selbst redete im Laufe des Tages bereits mit Kongressmitgliedern offen über Vergeltungsschläge gegen das Assad-Regime, wie CNN berichtet.

…führt zu illegaler Bombardierung

Und nur kurze Zeit später befahl Präsident Trump tatsächlich einen Angriff auf Syrien. Wie die Washington Post und USA Today zeitgleich um 4.21 Uhr syrischer Ortszeit berichteten, wurden von einem Kriegsschiff der US Navy mehr als 50 Tomahawk-Raketen auf eine Militärbasis nähe Homs im Nordwesten Syriens abgefeuert. Angaben über Tote oder Verletzte liegen nicht vor. Weiterhin wird berichtet, dass eine große Kampfeinheit des US-Militärs einsatzbereit in den Gewässern der Region liegt, darunter der Flugzeugträger USS George H.W. Bush mit Dutzenden Kampfjets sowie weitere Zerstörer und Kreuzer.

Trump folgte in der Rhetorik seiner UN-Botschafterin und bemühte zur Rechtfertigung des Angriffs ebenfalls die „wunderschönen Babys, die grauenvoll ermordet wurden.“ „Zahlreiche frühere Versuche, Assad zum Einlenken zu bewegen, schlugen alle auf dramatische Weise fehl,“ so Trump weiter. „Heute Abend rufe ich alle zivilisierten Nationen dazu auf, sich uns anzuschließen, um das Abchlachten und das Blutvergießen in Syrien zu beenden. … Wir baten um Gottes Weisheit.“

Rhetorisch ist Trump damit erschreckend nah an George W. Bushs berühmtberüchtigten „Either you are with us, or you are with the terrorists.“ Seine Aussage sollte daher als klare Drohgebärde an Iran, China und insbesondere Russland verstanden werden, da diese drei sich Trumps Kampf gegen Assad sicherlich nicht anschließen werden, und in Trumps dichotomem Weltbild von nun an auf der Seite der unzivilisierten Nationen verortet werden – und möglicherweise ebenfalls Repressionen bis hin zu Militärschlägen zu erwarten haben.

Der Angriff stellt in der Tat eine Zäsur dar, denn es ist das erste Mal in der Geschichte des sechsjährigen Syrienkriegs, dass die USA direkt, öffentlich und vorsätzlich Assad-Truppen angreifen und sich nun offen US-amerikanische und russische Truppen auf den zwei Seiten der verfeindeten Kriegsparteien wiederfinden. Weitere Pläne des US-Verteidigungsminister Gen. James Mattis sehen sogenannte „saturation strikes“ vor, mit denen die vom russischen Militär betriebene syrische Flugabwehr vernichtet werden soll. Offiziere des US-Militärs räumen unumwunden ein, dass bei diesen geplanten Luftschlägen zwangsläufig russische Soldaten getötet werden, wie The Intercept berichtet. Die Konsequenzen der illegalen Aggression der Trump-Regierung werden verheerend sein, die Floskel „Spiel mit dem Feuer“ ist eine maßlose Untertreibung.

Die Möglichkeit einer großangelegten Kriegskampagne der USA in Syrien sind so groß wie seit vier Jahren nicht. Und all das Säbelrasseln fußt auf Anschuldigungen, Beweise werden nicht vorgetragen. Es ist die Rede von Satellitenaufnahmen, die Assads Flieger angeblich zeigen, doch niemand präsentiert diese Bilder. Es ist die Rede von anonymen Quellen innerhalb der US-Regierung. Doch seit dem Beginn von Trumps Wahlkampf hat er bewiesen, dass er ein notorischer Lügner ist, und seine Regierung führt diese Tradition seit Ende Januar fort. Ist all das vergessen und die Welt glaubt auf einmal „anonymen Quellen“ der Trump-Regierung? Ist die Tonkin-Lüge als Startschuss für den Vietnamkrieg 1964 vergessen? Oder die Brutkastenlüge 1990? Haben wir die Lüge über die irakischen Massenvernichtungswaffen 2003 vergessen?

Ich habe kein Interesse daran, Assad in Schutz zu nehmen. Es gibt kein Zweifel daran, dass er ein brutaler Diktator ist, der einen Krieg gegen sein eigenes Volk führt, ich habe in der Vergangenheit die Verbrechen Assads mehr als deutlich verurteilt. Auch behaupte ich nicht, Assad hätte am Dienstag kein Giftgas eingesetzt. Ich warne nur vor voreiligen Schlüssen, und verurteile Trumps feindseliges, überstürztes Handeln. Die UN hat einerseits nachgewiesen, dass Assads Luftwaffe 2014 und 2015 in zwei Fällen sehr wohl Giftgas eingesetzt hat. Der berühmtberüchtigte Sarin-Anschlag in Ghouta 2013 (Obamas „rote Linie“) wurde andererseits jedoch mit ziemlich hoher Sicherheit von vom Westen unterstützen Rebellen ausgeführt, um Obama dazu drängen, aktiver gegen Assad vorzugehen.

In Syrien, wo nichts als Chaos herrscht, ist alles möglich. Vielleicht war es Assad, vielleicht nicht. Das müssen unabhängige Untersuchungen herausstellen. Doch auch wenn sich Assads Täterschaft beweisen sollte, wäre dies in keinem Fall die Rechtfertigung für Trumps illegale Angriffe, oder dafür in Damaskus den nächsten Regime Change zu organisieren. Es gibt keine menschliche Alternative zur Diplomatie als Lösungsstrategie in Syrien. Doch dafür müssten wir endlich akzeptieren, dass nicht nur der Westen in der Region Interessen hat, sondern dass etwa auch Russland in Middle East zum Big Player mit eigener Agenda aufgestiegen ist.

Es ist kein großes Geheimnis, dass es in Syrien nur eine Alternative zu Assad gibt: die Dschihadisten von Al-Nusra und Islamischer Staat. Die „Demokraten“ der Freien Syrischen Armee sind ein Hirngespinst des Westens. Wer in Syrien eine Intervention inklusive den Sturz Assads befürwortet, spielt den Anwalt einer Eskalation à la Libyen, wo nach der illegalen NATO-Intervention und dem Sturz Gaddafis 2011 heute nichts als Chaos, Gewalt und islamistischer Terror regieren. Das ist Syriens Zukunft nach einer US-Invasion.

Den Falken in Washington, Europa und Israel, die um jeden Preis einen Krieg gegen Assad wollen und ohne Sinn und Verstand jeden Vorfall zum Anlass nehmen, um die Kriegstrommeln zu rühren, muss entschieden entgegengetreten werden. Ihre Kriegspropaganda muss entlarvt werden. Ihre Kriegsvorbereitungen müssen unterbunden werden. Trumps illegaler Aggression muss lauthals widersprochen werden.

Kein Krieg gegen Syrien!


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