Enteignung versus Vergesellschaftung

Es war eine Sternstunde der Geschichte, als Solon, ein an die Spitze des Athener Stadtstaats gelangter Feldherr, im Jahr 594 vor unserer Zeitrechnung seine Reformen verkündete. Er sah in der „Geldgier und Überheblichkeit der Reichen“ die Wurzel der herrschenden Übel und Bürgerkriege. Solon setzte eine neue Verfassung durch und verbot die Schuldsklaverei. Schuldsklaven mussten freigelassen und ihre Schulden gestrichen werden; ihre Gläubiger wurden faktisch teilweise enteignet.

Es war wohl, abgesehen von der Eroberung fremder Territorien und der Versklavung ihrer Einwohner, einer der ersten schriftlich überlieferten rechtlichen Enteignungsakte der Geschichte. Auch im römischen Reich waren Enteignungen von Teilen der eigenen Bevölkerung an der Tagesordnung und erfuhren juristische Begründungen. Anders hätten die Großbauten und Infrastrukturprojekte in der Stadt Rom kaum realisiert werden können. In den letzten Jahrhunderten des Reiches wurden immer wieder auch Güter und anderes Privateigentum eingezogen, um die horrenden Staatsausgaben und Militärbudgets finanzieren zu können. Das Mittelalter setzte diese Enteignungen fort, egal ob mit oder ohne gesetzliche Grundlage. In der Reformationszeit wurde in vielen deutschen Ländern im großen Stil die katholische Kirche enteignet. Im Zuge der Säkularisierung fielen ihre Güter und die Klöster den Kommunen, den Landesfürsten und dem Fiskus zu. Martin Luther lieferte 1523 in seiner Schrift „Ordnung eines gemeinen Kastens. Ratschlag, wie die geistliche Güter zu handeln sind“ dafür eine theologische und juristische Rechtfertigung. So wurde beispielsweise die Leipziger Universität großzügig mit enteignetem Gut und erklecklichen Geldbeträgen bedacht.
Vor allem aber das bürgerliche Zeitalter ist ohne Enteignungen nicht denkbar; es ist sogar die Blütezeit der Enteignung. Einhegungen und Bauernlegen waren nicht nur teils wilde Gewaltorgien, sie waren durchaus auch rechtlich abgesichert, was genau so für die überseeische Landnahme galt. In diesem Zeitalter fand die Enteignung erst so richtig Eingang in Verfassung und Gesetzgebung. In fast keinem der ab dem späten 18. Jahrhundert verabschiedeten zivilen Gesetz- oder Verfassungsbücher wurde auf die ausdrückliche Möglichkeit einer Enteignung zum Zwecke des „allgemeinen Wohls“ oder in „Notlagen“ gegen Entschädigung verzichtet. Kapitalistisches Wirtschaften bedurfte diesbezüglich juristischer Klarheit und der Abkehr von feudaler Willkür. Die Schaffung von allgemeinen Reproduktionsbedingungen, insbesondere die Gestaltung der für die Verwertung privaten Kapitals unverzichtbaren Infrastruktur durch den Staat erforderte im Interesse des Gesamtkapitals immer wieder solche Enteignungen vor allem von Immobilien. Die Entschädigungsklausel sicherte den Bestand der betroffenen privaten Vermögen. Diese Grundsätze fanden selbstverständlich auch Eingang in das bundesdeutsche Grundgesetz von 1949. Artikel 14 setzte fast nahtlos an frühere deutsche Verfassungen und Gesetzgebungen an.
Es war erneut eine Sternstunde der Verfassungsgeschichte, dass es nicht bei diesem Artikel 14 blieb. Eingefügt wurde – weltweit sowie historisch ziemlich einmalig – ein Artikel 15 über „Vergesellschaftung“, ein wirklicher Fremdkörper in der Verfassung eines marktwirtschaftlich-kapitalistisch organisierten Landes. Diesbezüglich hat die FDP, die im Zusammenhang mit dem Berliner Aufruf zu einem Volksbegehren zur Enteignung von Wohnungsgesellschaften seine Abschaffung fordert, völlig Recht. Um die Funktionstüchtigkeit des bestehenden Wirtschaftssystems zu sichern, reicht der Enteignungsartikel 14 völlig aus. Deshalb wird davon, ganz im Gegensatz zum Vergesellschaftungsartikel, der bislang keinerlei Anwendung erfuhr, auch ausgiebig Gebrauch gemacht. Artikel 15 weist dagegen über diese Wirtschaftsordnung hinaus. Die nach diesem Artikel möglichen Eigentumsformen sind das „Gemeineigentum“ oder „andere Formen der Gemeinwirtschaft“. Von Sozialisierung, sozialistischem Eigentum oder gar Sozialismus ist natürlich nicht die Rede, aber immerhin wird die Möglichkeit einer Alternative zum Privateigentum und faktisch auch zum Staatseigentum an Grund und Boden, an Naturschätzen und an Produktionsmitteln verfassungsrechtlich verankert. Der Artikel ist laut dem bekannten Grundgesetzkommentar von Münch/Kunig „das fortbestehende Angebot an denjenigen, der die augenblickliche Wirtschaftsordnung ablehnt, innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung und nicht außerhalb dieser für seine Ziele zu kämpfen.“
Der Artikel 15 ist das Resultat eines kapitalismus-kritischen Zeitgeistes und eines besonderen Kräfteverhältnisses in den ersten Jahren nach 1945. Nach der Weltwirtschaftskrise 1929/33, nach Faschismus und Krieg lag der Sozialismus quasi „in der Luft“ und sozialistische und kommunistische Kräfte erfuhren einen beträchtlichen Aufschwung. Das galt auch für die damalige SPD, die einen wirtschaftlichen Aufbau unter gemeinwirtschaftlichen Vorzeichen forderte, ein Gedanke, der kurzzeitig selbst in die CDU-Programmatik Eingang fand. Obwohl Sozialdemokraten und Kommunisten im Parlamentarischen Rat, in dem das Grundgesetz 1948/49 verhandelt wurde, sieben Stimmen weniger als die übrigen, konservativen Parteien hatten, waren offensichtlich genügend Mitglieder von diesen Gedanken entweder infiziert oder gingen einen Kompromiss ein und stimmten der Aufnahme dieses Artikels zu.
Obwohl das Ziel eines „demokratischen Sozialismus“ nach wie vor im Grundsatzprogramm der SPD und natürlich auch im Programm der Partei DIE LINKE steht, ist die Lage heute selbstverständlich völlig anders. Abgesehen davon, dass eine alternative Wirtschaftsordnung nicht unbedingt oder ausschließlich mittels Enteignungen entstehen muss, hat sich der Zeitgeist gedreht. Die SPD-Führung steht der Forderung nach einer Vergesellschaftung der großen Wohnungskonzerne ablehnend gegenüber und nach allen bisherigen Erfahrungen und Erörterungen schon zum Artikel 14 würde diese Forderung höchstwahrscheinlich auch vorm Verfassungsgericht scheitern. Trotzdem ist dieser Artikel Bestandteil des Grundgesetzes und die Berliner Initiative ruft ihn nicht nur in Erinnerung, sondern provoziert letztlich alle Verfassungsorgane dazu, Begründungen für ihre Entscheidungen zu liefern und Farbe zu bekennen. Es dürfte also spannend und erhellend werden.

Dieser Beitragist eine Übernahme aus der soeben erschienenen neuesten Ausgabe von „Das Blättchen – Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft“. Die komplette Ausgabe kann auf der Website www.das-blaettchen.de kostenfrei eingesehen werden. Allerdings haben auch nicht-kommerzielle Projekte Kosten. Daher helfen Soli-Abos zum Bezug als PDF (hier klicken) oder in einem eBook-Format (hier klicken) dem Redaktionsteam bei der Lösung dieser Frage. Ein Beitrag von Jürgen Leibiger


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