Das Endspiel der deutschen Fußballmannschaft bei dieser Weltmeisterschaft war bereits das dritte Spiel der Gruppenphase. Das Endspiel der Kanzlerin ist mit dem EU-Gipfel vom 28. und 29. Juni noch nicht erreicht. Der Vorgipfel am vorherigen Wochenende hatte allerdings nichts erbracht.
Der Journalist Malte Pieper, der für den Mitteldeutschen Rundfunk aus Brüssel berichtet, hatte nach jenem Gipfel für die „Tagesschau“ folgernd die Kanzlerin zum Rücktritt aufgefordert: „Geschätzte Angela Merkel, nach fast 13 Jahren Kanzlerschaft gibt es auf europäischer Ebene für Sie, außer spürbarer Abneigung, nichts mehr zu gewinnen. Das haben alle Treffen der letzten Monate gezeigt. Helfen Sie deshalb mit, den scheinbar unabwendbaren Trend nach europäischer Spaltung statt Einigung endlich aufzuhalten! Räumen Sie das Kanzleramt für einen Nachfolger, dessen Name nicht so belastet ist, wie es der Ihre ist. Dem in Europa noch zugehört wird. Dem man zutraut, wirklich die Interessen aller im Blick zu haben! Lassen Sie uns den Neuanfang wagen!“
Diese Bekundung rief ein breites Echo hervor. Die Bild-Zeitung machte das groß auf und titelte: „Tagesschau rechnet mit Kanzlerin ab“. Der Tagesschau-Chefredakteur stellte klar, dies sei – wie stets – nur die freie Äußerung der Meinung eines einzelnen Journalisten, nicht die der Anstalt. Gleichwohl fühlte sich der Journalist Marvin Schade von dem Onlinebranchendienst MEEDIA – der wiederum zur Handelsblatt-Gruppe derer von Holtzbrinck gehört – bemüßigt, Pieper und der Bild-Zeitung „AfD-Tonalität“ zu unterstellen. Als sei die Kanzlerin bereits heiliggesprochen. Der Journalist Gabor Steingart hatte kürzlich in einer der unvermeidlichen Talkrunden des Fernsehens gesagt, Merkel habe sich „das weiße Kleid der europäischen Unschuld“ angezogen. Offenbar soll dieses jetzt geschützt werden. Auch der Stern rückte Piepers Äußerung in AfD-Nähe und fragte, ob der Kommentar „von Söder beauftragt“ worden sei.
Bei all diesem Gezeter der etablierten Politik und der Mainstream-Medien, die sich gegenseitig die Bälle zuspielen, wurden die Sachargumente Piepers ausgeblendet. Er erinnerte daran, dass Merkel noch 2011 und 2012 das Flüchtlingsproblem ignoriert hatte und unter Verweis auf das „Dublin“-Verfahren der EU an Italien und Griechenland verwies. Da war von „europäischer Solidarität“ nicht die Rede. Als sie dann 2015 die Grenzen geöffnet hatte, hatte sie wiederum die europäischen Partner nicht gefragt, forderte nun aber „europäische Solidarität“ der anderen ein. Pieper weiter: „Unter dem Druck nimmt Merkel sogar die Spaltung der EU billigend in Kauf, drängt die Osteuropäer in die Ecke, lässt sie überstimmen und will sie zur Solidarität zwingen, zur Aufnahme von Flüchtlingen. Man stelle sich nur einmal vor, was passiert wäre, wenn man so mit Deutschland umgesprungen wäre!“ Noch klarer formuliert heißt das: die Spaltung der EU ist von Merkel verursacht worden, während die Reaktionen in Osteuropa oder in Italien die Antwort darauf sind. Nicht umgekehrt.
Zugleich erinnerte Pieper: „Ähnlich rabiat hatte sie zuvor schon Griechenland in der Euro-Krise gezeigt, wo der Sparhammer hängt. Oder die durch grassierende Jugendarbeitslosigkeit geplagten Mittelmeeranrainer wissen lassen, sie sollten sich mal ein Beispiel an ihrem Deutschland nehmen. Merkel hinterließ also verbrannte Erde, wohin man schaut.“
Der 2015 verstorbene Soziologe Ulrich Beck hatte in einer seiner letzten Schriften darauf aufmerksam gemacht, dass „mit der Machtkonstellation des deutschen Europas“ sichtbar wurde, „dass Europäisierung zwei entgegengesetzte Formen annehmen kann, zwei Arten der Integration und Kooperation: gleichberechtigte Teilhabe (Reziprozität) oder hierarchische Abhängigkeit (Hegemonie).“ Dabei gilt: „Der angebliche Sachzwang der von Deutschland verordneten Sparpolitik hat dazu geführt, dass die Norm der gleichberechtigten Teilhabe unter der Hand beiseite geschoben und immer häufiger durch Formen hierarchischer Abhängigkeit ersetzt wurde.“
Vor diesem Hintergrund liegt auch der linksliberale Freitag (No. 26) völlig daneben, wenn gemeint wird, die „Allianz von Italien über Österreich und den Visegrád-Staaten“ bis zu Seehofer und Söder sei lediglich blinde Rachsucht, unausgegoren, eine Ansammlung nationaler Alleingänge. Tatsächlich geht die Auseinandersetzung darum, ob die „europäischen Lösungen“ Ausdruck gleichberechtigter Teilhabe oder der Durchsetzung deutscher Hegemonie sind.
Den Kampf auf dem Feld der verordneten Sparzwänge hat das hegemoniale Merkel-Deutschland gewonnen. Den auf dem Feld der Flüchtlingspolitik verloren. Das in der Nacht zum 28. Juni geschnürte Paket von „Ausschiffungsplattformen“ und „kontrollierten Zentren innerhalb der EU“ bei Freiwilligkeit der Umsetzung und Verteilung der Flüchtlinge ist das Gegenteil dessen, was Merkel und ihre Getreuen in Deutschland und in der EU bis vor kurzem verkündet haben.
Das „weiße Kleid“ der Kanzlerin hat nun einen anderen Schnitt, ist aber weiter ein europäisches. In ihrer „pragmatischen Art“ verkündet sie dies dem staunenden Publikum urbi et orbi als „die europäische Lösung“. Die sie schon immer angestrebt habe. Das Spiel aber geht in die nächste Runde. Der neue Metternich in Wien hat ab 1. Juli die EU-Präsidentschaft. Sein Konzept heißt „Koalition der Willigen“. Auch deshalb haben Orbán, Conte und die anderen dem nächtlichen Paket vom 28. Juni zugestimmt. Die EU steht, wie sie institutionell seit 1950 geschaffen wurde, einer Hegemonialordnung schon von ihrer gesatzten Ordnung her entgegen.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus der soeben erschienenen neuesten Ausgabe von „Das Blättchen – Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft“. Die komplette Ausgabe kann auf der Website www.das-blaettchen.de kostenfrei eingesehen werden. Allerdings haben auch nicht-kommerzielle Projekte Kosten. Daher helfen Soli-Abos zum Bezug als PDF (hier klicken) oder in einem eBook-Format (hier klicken) dem Redaktionsteam bei der Lösung dieser Frage. Ein Beitrag von Erhard Crome.