Eine verspätete Genugtuung – oder: Die irreparablen Schäden der Hartz-Gesetze

Das Bundesverfassungsgericht hat die Hartz-Sanktionen für verfassungswidrig erklärt, wenigstens teilweise. Das war überfällig und hat für Millionen von armen Menschen und aus der Arbeit in Armut getriebene Menschen in Deutschland eine hohe Bedeutung.

Aber das Urteil kommt auch zu spät.

von Ingar Solty

Vor anderthalb Jahrzehnten wurden die Hartz-Gesetze von der damaligen Bundesregierung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingeführt. Das war zu einem Zeitpunkt, als die PDS nicht mehr in Fraktionsstärke im Bundestag saß, sondern nur mit den Direktmandatsgewinnerinnen Gesine Lötzsch und Petra Pau. Die einzige Opposition zur rotgrünen Bundesregierung bestand darum aus CDU und FDP, kam also von rechts. Dieser bürgerlichen Rechten konnte die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze nicht scharf genug sein und zusammen mit der BILD-Zeitung sowie den bürgerlichen Medien und ihren krassen Kampagnen („Florida-Rolf“ und „der kranke Mann Europas“) droschen sie auf die Regierung ein und forderten noch schärfere Maßnahmen.

Vor anderthalb Jahrzehnten also auf diese Weise durchgesetzt, durften die Sanktionen anderthalb Jahrzehnte Menschen traumatisieren, Menschenwürde mit Füßen treten, Existenzen vernichten.

Es sagt viel über die Hegemonie des Neoliberalismus und den sozialdemokratischen Neoliberalismus (New Democrats, New Labour, Neue Mitte) aus, dass man hier – solange es gegen die da unten ging – das zutiefst pessimistische und konservative Menschenbild der neoklassischen Ökonomie, das heißt der neoliberalen Wirtschaftslehre, in Gesetzesform goss, während man zeitgleich (!) mit Deregulierungen der Arbeits- und Finanzmärkte den privaten, systemisch auf Profitmaximierung geeichten Konzernen und reichen Kapitalbesitzern das allergrößte, blindeste Vertrauen entgegenbrachte.

Es sagt auch viel über die vorherrschende Aufsteigermentalität in der deutschen Sozialdemokratie und den durch und durch bürgerlichen Charakter der Grünen aus, dass man auf die oben und ihre Steuervermeidungsorgien, die für ein gigantisches Maß an Steuereinbußen verantwortlich sind, nicht mehr draufschaute und von ihnen ein Handeln im Allgemeinwohl erwartete (mit dem Cum-ex-Skandal als jüngstem Tiefpunkt der Selbstbereicherung auf Gesellschaftskosten), man aber bei den Ärmsten der Armen noch jeden Teppich und jede Diele rausriss, um zu gucken, ob da nicht noch ein Cent verborgen liege, den man sich einverleiben könnte, bevor man auch nur einen Cent von dem Geld rausrückte, das die Lohnabhängigen in Deutschland in ihre Arbeitslosenversicherung – als Anerkennung der systemischen Risiken des Kapitalismus – eingezahlt haben.

Hartz IV war und ist eines der größten Verbrechen und die entscheidende Zäsur in der deutschen Geschichte nach 1990. Der bekannte Sozialwissenschaftler und Ungleichheitsforscher Christoph Butterwegge hat recht, wenn er sagt, dass die AfD ein verspätetes „Geschenk“ der Agenda 2010 war, insofern es die Angst vor dem sozialen Abstieg und dem Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe, die totale An-den-Rand-Drängung bis weit in die Mitte der Gesellschaft trieb, wenn klar ist, dass Du auch als Hochlohnempfänger*in nur eine Alters- oder Digitalisierungs-Arbeitslosigkeit vom Abgrund und gesellschaftlichem Ausschluss entfernt bist. Denn die Hartz-Gesetze sanktionierten die ausgegrenzten Armen, aber sie disziplinierte die gesamte Lohnarbeiter*innen-Mitte. Die Prekarisierung wirkt – mit dem Jenaer Soziologen Klaus Dörre gesprochen – schlicht wie „kommunizierende Röhren“, die Angst und Ohnmachtsgefühle verbreiten. Und auf Abstiegsangst und Ohnmacht kocht die äußerste Rechte nun ihr völkisches Süppchen.

Es ist also gut, dass wenigstens der Sanktionsteil dieses Verbrechens jetzt zu dem erklärt worden ist, was er immer war: Verfassungswidrig, weil systematisch gegen die Würde des Menschen verstoßend. Aber alle, die nicht von Kapitaleinkommen, sondern von ihrer eigenen Hände beziehungsweise Kopf‘ Arbeit leben, sollten bei der Freude über dieses Urteil nicht den politischen Schaden (AfD) und den Schaden an Millionen von Menschen aus dem Auge verlieren – und ebenso wenig die politischen Kräfte, die dies damals verbrochen haben.


Ingar Solty ist Referent am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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