Helga Baumgarten legt in ihrem neuesten Buch auf spannende und parteiische Art die Geschichte der Unterdrückung der Palästinenser seit 1948 und ihres Widerstands dagegen dar.
Als im Mai letzten Jahres die Kämpfe in Palästina infolge der israelischen Vertreibungspolitik in Ostjerusalem wieder ausbrachen, da wurde die emeritiert Politikwissenschaftlerin Helga Baumgarten, die seit bald 30 Jahren im Westjordanland lebt, vom ZDF zum Interview gebeten, um die Lage vor Ort einzuordnen. Weil ihre nüchternen und klaren Antworten nicht in das Narrativ deutscher Berichterstattung passten, wonach Israel sich immer nur verteidigt und Palästinenser nichts anderes tun, als Terror zu verbreiten, trat die BILD eine Kampagne gegen Baumgarten los. Die Autorin bekam aber auch, das erfährt man im Vorwort ihres neuen Buchs, zahlreiche positive und dankbare Rückmeldungen, die sie dazu veranlassten, eben dieses Buch zu schreiben.
Wer andere Bücher von Baumgarten kennt – sie hat u.a. ein deutsches Standardwerk zum säkularen nationalen Widerstand in Palästina und ein weiteres zur Hamas verfasst, außerdem erschien 2013 ein Band von ihr, das sich der Geschichte von Fatah und Hamas und dem »Bruderkampf« zwischen den beiden Parteien widmete – wird vieles Bekannte wiederfinden. Das ist nur logisch, hat die Autorin ihre Grundannahmen und Analysen nicht wesentlich verändert und die Geschichte ist dieselbe geblieben. Das jüngste Werk ist so gesehen eine Art Symbiose aus diesen älteren Schriften, aktualisiert um die letzten acht Jahre.
Keine Chronologie
Neu ist vor allem der Fokus: Baumgarten hat keine geschlossene chronologische Darstellung des sogenannten Nahostkonflikts vorgelegt. Tatsächlich kommen wesentliche Kapitel nicht vor: Das Buch beginnt 1948, im Jahr der Nakba (arab.: »Katastrophe«), als 750.000 Palästinenser im Zuge der Staatsgründung Israels vertrieben wurden; die Entwicklungen und Konflikte in den Jahren zuvor, wie der Beginn der zionistischen Einwanderung und Besiedlung, die Errichtung der britischen Kolonialherrschaft und das Bündnis zwischen Briten und Zionisten oder die Aufstände der Palästinenser 1921, 1929 und vor allem 1936-39, finden entsprechend keine Erwähnung. Aber auch die Jahre der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) im Libanon kommen nur am Rande vor.
Der rote Faden, dem der Band folgt, ist viel mehr die Unterdrückungspolitik Israels seit 1948 in den Grenzen Palästinas, vor allem in den seit 1967 besetzten Gebieten Jerusalem, Westbank und Gazastreifen, sowie der Widerstand der Palästinenser dagegen. Die Kapitel folgen dabei einer zeitlichen Abfolge: Das erste beginnt mit der Etablierung des israelischen Staates auf Grundlage weitgehender ethnischer Säuberung und behandelt die Unterdrückung der Palästinenser im westlichen Palästina sowie die Entstehung des militanten säkular-nationalistischen Widerstands in Form von Fatah und PLO (1948-67); das zweite geht vom Sechs-Tage-Krieg und der Besetzung ganz Palästinas über die Hochzeit des bewaffneten palästinensischen Widerstands bis zur Vertreibung der PLO zuerst aus Jordanien (Schwarzer September) und dann aus dem Libanon und behandelt damit eine Periode, die sich Baumgarten zufolge »als eine sich immer weiter zuspitzende Serie von Angriffen gegen die politische, nationale und oft schlicht physische Existenz der Palästinenser in der Diaspora wie in den besetzten Gebieten« darstellt. (S. 71) Das dritte Kapitel behandelt die Zeit ab Beginn der Ersten bis zum Ende der Zweiten Intifada und setzt sich u.a. mit dem Oslo-Prozess und der Etablierung der Palästinensischen Autonomiebehörde auseinander. Ein eigenes Kapitel widmet die Autorin den Wahlen in Westbank und Gaza (2004-06), bei denen die islamische Hamas erdrutschsiegartig gewann, mit der Folge, dass sie von Israel, dem Westen und der unterlegenden Fatah im Westjordanland entmachtet und im Gazastrifen isoliert wurde. Das fünfte und das Schluss-Kapitel gehen auf die letzten 15 Jahre, zwischen 2006 und 2021, ein. Es geht entsprechend vor allem um die vier verheerenden Kriege gegen den Gazastreifen 2008/09, 2012, 2014 und 2021 und deren humanitäre Folgen für die dort eingesperrte Bevölkerung. Behandelt werden aber auch die illegale Blockade Israels gegen den Gazastreifen und der Widerstand gegen die israelische Politik: von alltäglicher Resistenz über Proteste und Streiks bis hin zu bewaffneten Aktionen; aber auch in Form international angelegter Kampagnen wie der Boykott-Bewegung BDS oder Versuchen, die Blockade Gazas zu durchbrechen.
Spannende Einblicke und erfrischende Parteilichkeit
Die historischen Darstellungen werden u.a. ergänzt durch Kurzbiografien wichtiger palästinensicher Persönlichkeiten, wie George Habasch, dem Mitbegründer der marxistischen Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), Abu Iyad, einem der Gründungsväter der Fatah, oder dem bedeutenden palästinensischen Schriftsteller Ghassan Kanafani. Besonders interessant sind zudem die persönlichen Beobachtungen von Baumgarten, die im letzten Teil des Buchs zur Geltung kommen, in dem es um die aktuelle Lage geht: Von vor Ort gibt sie spannende Einblicke in die Bewegung an der Basis, statt sich, wie viele andere, nur auf die offizielle Politik zu fixieren. Außerdem benennt sie Fakten, die den meisten linken Konsumenten westlicher Medien unbekannt sein dürften: Zum Beispiel, dass die gewaltsame Machtübernahme der Wahlsiegerin Hamas 2007 im Gazastreifen eine Reaktion auf vom Westen unterstützte Putschpläne der Fatah war. Oder auch dass im Mai 2021 nicht nur Hamas und der Islamische Jihad Raketen auf Israel feuerten, sondern auch die linken Organisationen PFLP und DFLP (Demokratische Front zur Befreiung Palästinas).
Nicht ganz neu, aber doch von neuer Qualität ist, dass die Autorin ihre Parteilichkeit für die unterdrückte Seite in diesem Konflikt weniger denn je hinter »wissenschaftlicher Neutralität« verbirgt, sondern offen versucht, in den Lesern Verständnis und auch (kritische) Sympathie für den palästinensischen Widerstand in allen seinen Formen zu wecken. Das mag damit zu tun haben, dass die mittlerweile 74-Jährige nicht nur ein gewisses Standing hat – das hatte sie auch vorher –, sondern auch keine Karriere mehr vor ihr liegt, die ihr aufgrund unliebsamer Positionen zunichte gemacht werden könnte, eine Sorge, die angesichts dieses gerade in Deutschland mit Tabus und einseitigen Narrativen behafteten Themas nicht unbegründet ist. Außerdem erschien dieses neueste Buch in einem eindeutig linken Verlag, der bereits mehrere spannende Bücher zum Thema Palästina publiziert hat. Trotz dieser Hintergründe ist der Autorin ihre erfrischend eindeutige Parteinhame hoch anzurechnen.
Von Leon Wystrychowski
Helga Baumgarten: Kein Frieden für Palästina. Der lange Krieg gegen Gaza, Besatzung und Widerstand, Promedia, Wien 2021.