© Ulrike Eifler

Ein demokratischer Fels in der autoritären Brandung – Zu Besuch bei der uruguayischen Genossenschaftsbewegung

In der uruguayischen Hauptstadt Montevideo liegt unweit der Küste der Stadtteil Tres Cruces, ein Bezirk, in dem man nachts besser nicht allein unterwegs ist. Es ist kein Zufall, dass die Vereinigung der Wohngenossenschaften in gegenseitiger Hilfe – kurz FUCVAM – ihr Hauptquartier nicht in einer Gegend mit üppig ausgestatteten Villen und sorglosen Spielcasinos aufgeschlagen hat, sondern ausgerechnet hier, fernab von der bunten Welt bürgerlicher Privilegien.

Die Abkürzung F.U.C.V.A.M. steht für Federation Uruguays de Cooperativas de Vivendi por Ayuda Mutua. Hinter dem Namen verbirgt sich der Zusammenschluss von knapp 750 Wohngenossenschaften in Uruguay, die seit 54 Jahren den politischen Stürmen in Südamerika ihre ganz persönliche Vision von einem alternativen Zusammenleben entgegentrotzen. Dass es dabei nicht um den Rückzug in individuelle Lebensstilpflege geht, sondern um den Versuch, die kleinen persönlichen Träume vom alternativen Wohnen mit den ganz großen gesellschaftlichen Fragen zu verbinden, beschreibt Enrique Cal, der Präsident des Kooperativenzusammenschlusses, bei unserem Besuch im Hauptquartier recht anschaulich: „FUCVAM ist nicht nur ein Zusammenschluss, der sich um den Wohnraum kümmert, sondern wir stehen für die großen Fragen, die die Mehrheit der Bevölkerung betreffen. Deshalb gehen unsere Aktivitäten deutlich über die Wohnraumfrage hinaus. Wir setzten uns nach dem Ende der Militärdiktatur für die Rückkehr zur Demokratie ein. Wir engagierten uns gegen das negative Dringlichkeitsgesetz. Und wir positionieren uns im aktuellen Referendum über die Sozialversicherungen. Das alles sind Fragen, in denen FUCVAM an der Seite der Bevölkerung steht. Dort ist unser Platz.“

Was Enrique Cal beschreibt, lässt sich gut an der 54-jährigen Geschichte der Genossenschaftsvereinigung ablesen. Drei Jahre vor Beginn der Militärdiktatur, im Jahre 1970, wurde sie gegründet. Kurz zuvor hatte die Regierung ein neues Wohngenossenschaftsgesetz beschlossen, in dem der Zugang zu Grund und Boden, die staatliche Finanzierung und der rechtliche Handlungsrahmen festgeschrieben wurden. Mit 85 Prozent ist der staatliche Zuschuss für Wohngenossenschaften relativ hoch, nur 15 Prozent müssen die Genossenschaftsmitglieder in Eigenleistung aufbringen. Insbesondere die Finanzierung, aber auch der rechtliche Handlungsrahmen stellen damit bis heute eine wichtige Grundlage für die Genossenschaftsbewegung dar. Dabei muss hervorgehoben werden: Die Mitglieder der Kooperative erwerben kein Wohneigentum. Beim Wohnen in einer Kooperative geht es um die Nutzung des Wohnraums, nicht um seinen Besitz.

© Ulrike Eifler

Da die ersten Kooperativen vor allem in der Peripherie größerer Städte entstanden, in denen es wenig städtische Infrastruktur und Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge gegeben hatte, ging es FUCVAM von Anfang an nicht nur um staatliche geförderten Wohnraum in Selbstverwaltung, sondern auch um den Aufbau einer eigenen Infrastruktur, die das Zusammenleben ermöglichte. Es entstanden Schulen und Gesundheitszentren. Und indem die Menschen in den FUCVAM-Kooperativen Strom- und Wasserleitungen verlegten, trugen sie wesentlich zur Entwicklung der öffentlichen Infrastruktur bei.

Heute umfasst die Genossenschaftsvereinigung etwa 750 Kooperative, in denen jeweils 10 bis 50 Familien leben. Es wird geschätzt, dass in ganz Uruguay bis zu 35.000 Familien und damit etwa 150.000 Menschen in einer Kooperative leben. Sie haben sich auf bestimmte Regeln des Zusammenlebens verständigt, etwa dass der Müll nicht irgendwo entsorgt wird, sondern zu einem bestimmten Zeitpunkt herausgestellt und abgeholt wird. Für Kinder gibt es besondere Räumlichkeiten, in denen sie spielen und sich austoben können. Und für Festlichkeiten gibt es Gemeinschaftsräume, die jedem Kooperativenmitglied zur Verfügung stehen.

Gleichzeitig bieten die Unterstützungsfonds der Kooperative ihren Mitgliedern zusätzlichen Schutz bei persönlichen Lebenskrisen wie Krankheit oder Unfall. In viele Stadtteilen, die durch eine Kooperative geprägt sind, gibt es darüber hinaus eine ganze Reihe zusätzlicher kultureller und sozialer Angebote, darunter Kinderbetreuung, Schülerhilfe oder die Unterstützung für ältere Menschen – auch wenn 2008 das Kooperativengesetz zu ihrem Nachteil geändert worden war und sich die Kooperativen verkleinern mussten.

Enrique Cal verweist darauf, dass es ähnliche Systeme der gegenseitigen Unterstützung auch in anderen Ländern Südamerikas gibt, etwa in Brasilien, Paraguay, Bolivien, Nicaragua, Guatemala, El Salvador oder Honduras. Besonders bedeutsam sind sie in den letzten Jahren in Kolumbien gewesen, wo sie eine wichtige Rolle bei der Reintegration von ehemaligen Kämpfern spielten. Dahinter steht der Gedanke, dass der Zugang zu angemessenem und bezahlbarem Wohnraum bei der Friedensbildung und Versöhnung nach Konflikten eine Schlüsselrolle spielt. FUCVAM steht damit für eine südamerikanische Bewegung, die den sozialen und politischen Unwägbarkeiten, die es seit Jahrzehnten in vielen Ländern Südamerikas gibt, ein Stück Selbstermächtigung im gesellschaftlichen Alltag entgegenstellt.

© Ulrike Eifler

Mehr als nur eine Randnotiz ist die Rolle FUCVAMs zur Zeit der Militärdiktatur. Das Kooperativen-Netzwerk war nur eine von zwei Organisationen der Arbeiterbewegung, die nicht verboten worden waren. Die Gewerkschaft der Bankangestellten war den Machthabern zu einflussreich, sagt Enrique Cal. „Und uns haben sie vermutlich einfach unterschätzt. Sie haben wohl geglaubt, wir stellen keine Gefahr dar, weil wir uns nur um unsere Wohnangelegenheiten kümmern.“

FUCVAM ist nicht das einzige historische Beispiel, wo sich unter den Rahmenbedingungen von Repression und Unterdrückung die untergründige Sehnsucht nach Widerstand ihr Ventil sucht. Wohl auch deshalb beschloss die Militärdiktatur 1984, die Vereinigung zu verbieten. Die politischen Repräsentanten der Organisation allerdings zeigten nur wenig Bereitschaft sich unterzuordnen. Sie initiierten eine mutige öffentliche Unterschriftenkampagne gegen die Schließung FUCVAMs. Dass sie bereits am ersten Tag über 330.000 Unterschriften sammelten, zeigt nicht nur den starken zivilgesellschaftlichen Rückhalt der Genossenschaftsbewegung in Uruguay, sondern auch die Unzufriedenheit weiter Teile der Bevölkerung mit der Militärregierung. Das Unmögliche war möglich geworden, weil viele Menschen aus ihrem Nein zur Schließung FUCVAMs ein Nein zur Militärdiktatur, zu Foltergefängnissen und zum Verschwindenlassen von Oppositionellen machten. Und so wurde das mutige Aufbäumen der Kooperativen zu einem Fanal, das das Ende der Militärdiktatur kraftvoll einläutete.

Die Bereitschaft, sich in den politischen Diskurs einzumischen, hielt sich bis weit über das Ende der Diktatur hinaus. Als 2002 die Unterschlagung von Geldern aus dem National Housing Fund durchsickerte, initiiert FUCVAM einen 140 Kilometer langen Fußmarsch nach Punte del Este, wo das uruguayische und argentinische Bürgertum für gewöhnlich seinen Sommer verbringt. Hunderttausende folgten dem Aufruf. Mit seinen Aktivitäten stellt FUCVAM in Zeiten, in denen die südamerikanischen Gesellschaften durch Wohnraummangel und Energiearmut geprägt sind, eine wichtige Insel des Widerstands dar. Noch immer setzt die Kooperativen-Bewegung der sozialen Kälte und Zerstörungswut des Kapitalismus ihre Vision des solidarischen Zusammenlebens entgegen, eine Utopie von einer Welt, in der bezahlbarer Wohnraum und der Zugang zu Energie für alle selbstverständlich sind. Einmal mehr scheinen die Wohngenossenschaften damit der demokratische Fels zu sein, der in der Brandung weltweiter autoritärer Verwerfungen an den selbstverständlichen Grundsätzen des Zusammenlebens festhält.

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