Die Labour Party ein Jahr nach ihrer letzten Wahlniederlage

Inmitten der medizinisch-humanitären Krise mit ihren weit über 100.000 Corona-Sterbefällen in Großbritannien, der scharfen Zuspitzung sozialer sowie regionaler Ungleichheiten, der ökonomischen Verwerfungen und inmitten der innen- und außenpolitischen Turbulenzen als Folgen der Corona-Pandemie und des Brexits versucht die britische Labour Party als zwar geschrumpfte, aber dennoch größte Oppositionspartei im Vereinigten Königreich sich neu zu positionieren.

Bei der Parlamentswahl im Dezember 2019 hatte die Partei der Arbeit mit ihrem auf eine gesellschaftliche Transformation ausgerichteten Wahlprogramm („Die Zeit ist reif für einen grundlegenden Richtungswechsel“) eine herbe Niederlage einstecken müssen. Den vorgezogenen Wahltermin hatte nach einigen Verfassungsdehnungen die rechtspopulistisch-nationalistische Kernmannschaft der noch jungen Regierung von Boris Johnson durchgesetzt. Zuvor hatten sich weder die Mitglieder der Labour-Parlamentsfraktion noch jene liberalen und konservativen Abgeordneten, die einem harten Brexit ablehnend gegenüberstanden, darauf verständigen können, den damaligen Oppositionsführer und Vorsitzenden der Labour Party, Jeremy Corbyn, in einem Misstrauensantrag gegen den Brexit-Hardliner und Premierminister Johnson zu unterstützen.[1] Damit blieb die einzige parlamentarische Konstellation zur Verhinderung des harten Brexits ungenutzt. Stattdessen wurde mit einer weiteren Auflage der faktischen Koalition von Tory-Partei und Brexit-Partei der Weg gebahnt für den erneuten Wahlsieg des Rechtspopulismus. Die Vorstellung der liberalen Kräfte, die Wucht des seit Jahren entfachten englischen Nationalismus mit einer unveränderten Politik von Austerität und Weltoffenheit parieren zu können, erwies sich als Illusion. Ebenso erwies sich die Labour-Perspektive eines – innerparteilich in seiner Ausgestaltung umstrittenen – Arrangements des Landes mit der EU zu Beginn eines grundlegenden Politikwechsels als nicht tragfähig. Das Versprechen, den harten Brexit umzusetzen und ein neues Zeitalter des Globalen Britanniens einzuleiten, war verlockender als die Aussicht auf eine grundlegende gesellschaftliche Transformation, so konkret auch die Reformschritte waren, die im Wahlprogramm und Wahlkampf präsentiert wurden.

Die Gründe für die Niederlage der Labour Party waren und sind umstritten.[2] Zumeist werden dabei die Gewichte unterschiedlich verteilt zwischen Strukturveränderungen und damit verbundenen Verschiebungen im gesellschaftlichen Bewusstsein, auf die Labour keine ausreichenden Antworten gefunden hat, und zwischen Gründen, die in der Person des damaligen Vorsitzenden gesucht wurden. Dabei ist weitgehend unumstritten, dass das Wahlergebnis in einen längeren Trend von Niederlagen seit 2010 einzureihen ist. Fakt ist auch, dass Corbyn und der von ihm repräsentierte Erneuerungskurs der Labour Party von fast allen britischen Medien und von der politischen Klasse seit seiner Wahl zum Vorsitzenden 2015 nicht nur politisch bekämpft wurde, sondern dass er zugleich verstärkt seit dem Sommer 2018 einer umfassenden Kampagne zur Diffamierung seiner Person ausgesetzt war.

Neben der Verächtlichmachung seiner Methodik politischer Arbeit wegen vermeintlicher Führungsschwäche gipfelte die Kampagne in dem Vorwurf, Corbyn würde den strukturellen Antisemitismus in der britischen Gesellschaft und der Labour Party verharmlosen, weil er selbst antisemitischen Tendenzen anhänge. Nicht nur aus den Reihen der Konservativen Partei, sondern auch aus der eigenen Partei heraus wurde dieses Narrativ bedient. Mehr oder weniger laut wurde während der Zuspitzung der parlamentarischen Auseinandersetzung um die Brexit-Verträge und dann im Wahlkampf Ende 2019 der Vorwurf erhoben, dass der von Labour im Wahlprogramm vorgeschlagene Weg zur Erneuerung nicht nur keine Lösung für den Brexit und dessen Folgeprobleme darstellen würde, sondern in der Person des Vorsitzenden mit einer antisemitischen Konnotation verbunden sei.

Nach der Wahlniederlage ist dieses Narrativ einer Verbindung von sozialistischer Erneuerung und Antisemitismus zwecks Denunzierung eines alternativen gesellschaftlichen Entwicklungswegs und einer demokratischen Erneuerung von Parteistrukturen und Gesellschaft offensiv weiter vorgetragen worden, wenn auch nunmehr vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um politische Antworten auf die Corona-Pandemie und um die Umsetzung und Folgen des Brexits. Die Kampagne erreichte mit Corbyns Ausschluss aus Partei und Fraktion Ende Oktober 2020 einen ersten Tiefpunkt,[3] auf den zahlreiche Parteiordnungs- und Ausschlussverfahren gegen jene Mitglieder in Wahlkreis- und Ortsverbandsvorständen folgten, die das Verfahren der neuen Parteiführung kritisierten.

Unmittelbar nach der Wahlniederlage hatten Jeremy Corbyn und John McDonnell ihren Rücktritt von ihren Ämtern und ihren Rückzug aus der Parteiführung angekündigt und den Weg frei gemacht für die Neubesetzung der Führungsgremien. Der personelle Umbau ist im November 2020 mit der Neuwahl der 15 Vertreter:innen der rund 630 auf Wahlkreisebene gebildeten Kreisverbände (Constituency Labour Parties – CLPs) im 39 Mitglieder umfassenden Parteivorstand (National Executive Committee – NEC) abgeschlossen worden.

Zuvor hatte im April der Jurist Sir Keir Starmer die während der ersten Phase der Corona-Pandemie angesetzte Wahl zum neuen Labour-Parteivorsitzenden für sich entschieden. Starmer war von 2009 bis 2013 Direktor der Strafverfolgungsbehörden in England und Wales. Nach seiner Wahl ins Unterhaus 2015 wurde er in Corbyns Schattenkabinett zunächst migrationspolitischer Sprecher und dann ab 2016 zuständig für die kritische Begleitung der Umsetzung des Brexit-Referendums seitens der konservativen Kabinette von May und Johnson. Als stellvertretende Parteivorsitzende war die ehemalige Gewerkschaftsfunktionärin Angela Rayner gewählt worden, die in Corbyns Schattenkabinett bildungspolitische Sprecherin war. Auf Vorschlag Starmers wurde zudem Ende Mai 2020 der New-Labour-Politiker David Evans als neuer Generalsekretär vom Parteivorstand kooptiert; dessen Wahl muss noch vom nächsten Labour-Parteitag bestätigt werden, voraussichtlich im September 2021.

Waren bei der Wahl der neuen Parteispitze noch 553.000 Mitglieder wahlberechtigt, war es bei der Wahl der Vertreter:innen der Wahlkreisorganisationen im Parteivorstand ein halbes Jahr später mit 497.000 Wahlberechtigten schon ein Zehntel weniger. Die erste Sitzung des neu formierten Parteivorstands fand während der parteiinternen Auseinandersetzungen um die Suspendierung Jeremy Corbyns statt und war von einem Eklat begleitet. Ein Drittel der Mitglieder schaltete sich aus dem Online-Meeting ab. Sie wandten sich mit dieser Aktion dagegen, dass Starmer erneut Corbyns Ausschluss aus der Parlamentsfraktion verhängte, obwohl die Schiedskommission seine Suspendierung als Parteimitglied als unbegründet aufgehoben hatte. Und sie protestierten damit gegen die zahlreichen Parteiordnungsverfahren, mit denen der Generalsekretär Evans Hunderte von Funktionsträger:innen in den lokalen Parteiorganisationen überzog, weil sie auf Parteiversammlungen Solidaritätsadressen für Corbyn oder Resolutionen gegen den Versuch zur Einschränkung der innerparteilichen Diskussion seitens der neuen Parteispitze zur Abstimmung brachten. Im Parteivorstand hat die neue Parteiführung nun eine komfortable Mehrheit, und aus dem Fraktionsvorstand, dem „Schattenkabinett“, ist der linke Flügel der Parlamentsfraktion, immerhin ein Fünftel der 200 Abgeordneten, vollständig verbannt und damit mehr als die Hälfte der aktiven Parteibasis nicht mehr repräsentiert.

Ambitiöses Programm, aber zögerliche Konkretisierung

Während des parteiinternen Wahlkampfs hatte Starmer angekündigt, er werde an den Kernpunkten des Labour-Programms festhalten. In seiner spezifischen Interpretation der über vier Jahre hinweg in einem breiten Konsens gefundenen Programmatik, die in zwei Wahlprogrammen zusammengefasst worden war, benannte er unter Weglassung der transformatorischen Aspekte zehn Punkte,[4] die weiterhin im Zentrum der Labour-Politik nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden stehen sollten:

1. Wirtschaftliche Gerechtigkeit: Erhöhung der Einkommenssteuer für die obersten 5% der Verdiener, Rückgängigmachung der Senkung der Körperschaftssteuer und hartes Durchgreifen gegen Steuervermeidung.

2.         Soziale Gerechtigkeit: Abschaffung des neu eingeführten Unterstützungssystems („universal credit“) und des Sanktionssystems im Sozialbereich; Ergänzung der volkwirtschaftlichen Gesamtrechnung (BIP) um ein neues Maß sozialen Fortschritts; Verteidigung des Nationalen Gesundheitssystems NHS und Abschaffung der Studiengebühren an den Universitäten.

3. Klimagerechtigkeit: Ein grüner New Deal; ein Emissionsschutzgesetz, um die Umweltverschmutzung vor Ort zu bekämpfen; internationale Maßnahmen für Klimagerechtigkeit.

4. Förderung von Frieden und Menschenrechten: Verbot völkerrechtswidriger Kriege; ein Gesetz zur Verhinderung militärischer Interventionen einführen, die Menschenrechte in den Mittelpunkt der Außenpolitik stellen und alle britischen Waffenverkäufe überprüfen.

5. Gemeineigentum: Förderung von gesellschaftlichem Eigentum an Bahn, Post, Energie und Wasser; Abschaffung von Outsourcing an Privatunternehmen im NHS, in den Kommunen und im Justizvollzugssystem.

6. Verteidigung der Rechte von Migranten: Volles Wahlrecht für EU-Bürger:innen, Verteidigung der Freizügigkeit nach dem Brexit, Schaffung eines Einwanderungssystems, das auf Würde und Empathie gründet, Beendigung unbefristeter Inhaftierung und Schließung von Deportationsgefängnissen.

7. Stärkung der Rechte von Beschäftigten und Gewerkschaften: Kooperation mit den Gewerkschaften; Kampf gegen prekäre Arbeit und niedrige Löhne, Aufhebung des restriktiven Gewerkschaftsgesetzes und Abwehr weiterer Angriffe der Tories auf die Rechte der Arbeitnehmer:innen.

8. Dezentralisierung und Verfassungsreform: Einführung eines föderalen Systems einschließlich eines regional strukturierten Investitionsbankenverbunds sowie Kontrolle der Industriepolitik durch die Regionen; Ersetzung des Oberhauses durch eine gewählte Kammer.

9. Gleichstellungsgesetz: Beseitigung bestehender Hindernisse vor allem im Bereich des Gesetzes zur Sicherung gleicher Löhne (Equal Pay Act), der frühkindlichen Erziehung (Sure Start) und bei der Gleichstellung ethnischer Minderheiten.

10. Eine wirksame Opposition gegen die Tories: Eine „forensische Opposition im Parlament in Kooperation mit der Parteibasis und einer „professionellen Vorbereitung auf die nächste Wahl“; Einigung der Partei, Förderung des Pluralismus und Verbesserung der innerparteilichen Kultur; robuste Maßnahmen zur Ausrottung des Antisemitismus in der Partei und effektive Verbindungen zu den Gewerkschaften.

Dieses Versprechen, die bisherige Politik inhaltlich in einem „professionelleren Gewand“ fortzusetzen, war ausschlaggebend dafür, dass ein Großteil der Parteimitglieder, die 2016 Corbyn gewählt hatten, nicht Rebecca Long-Bailey als Kandidatin der Linken, sondern Starmer unterstützten, der mit 56% der Stimmen gegenüber 28% für Long-Bailey gewählt wurde.

In seiner Antrittsrede nach der Wahl hatte Starmer dann die Herstellung der Regierungsfähigkeit als wichtigstes Ziel formuliert. An Methode und Erfolge der drei Labour-Premierminister, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Anschluss an erfolgreiche Wahlkämpfe Regierungen bilden konnten, sei anzuknüpfen. Eine Reflexion zu den jeweils unterschiedlichen Voraussetzungen von 1945 (Clement Attlee), 1964 (Harold Wilson) und 1997 (Tony Blair) im Vergleich zur heutigen Situation blieb aus. Die kritische Begleitung der anfangs brutal nachlässigen, dann erratischen Bekämpfung der Corona-Pandemie seitens der Tory-Regierung bezeichnete Starmer als „konstruktive“ Oppositionsarbeit. Die Themen Brexit-Folgen und Neugestaltung der EU-UK-Beziehungen erklärte er zum Tabuthema. Trotz der Störmanöver der Tory-Regierung mit ihren Brexit-Hardlinern bei den Verhandlungen für ein neues Handels- und Kooperations­abkommen mit der EU ordnete er für die Zustimmung beim Schlussvotum Fraktionszwang an.

Für die Bekanntgabe von „Korrekturen“ an seinem 10-Punkte-Plan waren andere Sprecher:innen des Schattenkabinetts zuständig. Bei der Überarbeitung[5] des Vorschlags für einen Green New Deal wurden die massiven Investitionen und Staatsinterventionen gekappt, die erforderlich sind, um die Klima-, Gesundheits- und Wirtschaftskrisen zu bewältigen. Auch die notwendige Stärkung des Gemeineigentums bei Energie, Wasser, Breitband und anderen öffentlichen Infrastrukturen als Kern des linken Green New Deal wurde ausgeblendet.[6] Der Bericht zur Verfassungsreform und Stärkung der demokratischen Institutionen[7] wurde nicht zur Kenntnis genommen. Er war noch von Corbyn in Auftrag gegeben worden und zeigt einen Weg auf, wie durch eine Institutionenreform die strukturellen regionalen Ungleichheiten verringert und das Auseinanderfallen des Königsreichs infolge der Brexit-Disruptionen verhindert werden könnten. Stattdessen wird bei Verlautbarungen aus der Parteizentrale jetzt die Nationalflagge als Hintergrunddrapierung genutzt. Ein Kommentator des Wochenmagazins The Economist höhnte, es sei schon eine besondere Leistung, wenn die Unfähigkeit einer Tory-Regierung, die sich als die inkompetenteste der Nachkriegszeit präsentiere, noch vom Schattenkabinett überboten werde.

Starmers erste Grundsatzrede[8] als Parteivorsitzender am 18. Februar, die als seine persönliche wirtschaftspolitische Vision angekündigt war, geriet – gemessen an der von ihm verorteten historischen Dimension „seiner Aufgabe“ – zum Desaster. Die Zustimmungswerte in den Wochen zuvor waren gesunken, die Kritik an seiner Politik der Unbestimmtheit war in der Gesamtpartei lauter geworden und die Medien äußerten Zweifel an seiner politischen Führungsfähigkeit. Die bevorstehende Haushaltsdebatte über das erste Post-Corona-Budget nahm er daher zum Anlass, um vorab Grundzüge der Neuausrichtung der Labour-Wirtschaftspolitik vorzustellen. Die Regierung könne zwar Erfolge bei ihrer Impfkampagne verzeichnen, aber schon aus ideologischen Gründen sei sie nicht in der Lage, nach einem Jahrzehnt harter Austerität einen Ausweg aus der durch die Pandemie verstärkten Ungleichheit zu organisieren.

Nicht „Build Back Better“ sei angesagt, sondern Voranschreiten in die Zukunft. Die Herausforderung entspräche derjenigen von 1945, die die damalige Labour-Regierung mit dem Ausbau des modernen Sozialstaats und der Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien erfolgreich bestanden habe. Starmer zog also erneut die Linie zu Attlee und Beveridge, um dann als Lösung für die neue historische Aufgabe zwei konkrete Maßnahmen vorzuschlagen:

        Erstens die Ausweitung des bestehenden Kreditprogramms für Existenzgründer: Die Investitionen von 100.000 Startup-Unternehmen sollen regional gleichgewichtig über einen Zeitraum von fünf Jahren finanziert werden. Dieses Programm wurde 2012 von der damaligen konservativ-liberalen Koalitionsregierung zwecks Flankierung ihrer harten Austeritätspolitik aufgelegt und seitdem von 9.500 Kleinunternehmen pro Jahr in Anspruch genommen.

        Zweitens die Ausgabe von Wiederaufbau-Anleihen (British Recovery Bond), organisiert durch die Nationale Sparbank N&SI. Starmers Begründung: Durch den Pandemie-bedingten Konsumaufschub haben die Privathaushalte Ersparnisse in Höhe von 120 Mrd. Pfund angesammelt, mit denen sie zur Erholung der Ökonomie beitragen könnten. Dieser Vorschlag von „Corona-Bonds“ war zuvor schon von der Gruppe konservativer Abgeordneter aus Nordengland ins Gespräch gebracht worden.

Jeglicher Rückbezug auf einen Umbau von industrieller Basis und Infrastruktur sowie Neuorganisation sozialer Dienstleistungen fehlte in Starmers Vision. Die Diskrepanz zwischen dem Verweis auf die aktualisierten Ergebnisse[9] der Ungleichheits-Studie des Epidemiologen Michael Marmot und Starmers Post-Corona-Perspektive war groß. Marmot hatte nachgewiesen, dass ein Jahrzehnt harter Austerität den Anstieg der Lebenserwartung zum ersten Mal seit mehr als 100 Jahren zum Stillstand gebracht und für die am meisten benachteiligten Frauen sogar umgekehrt hat. Die Corona-Pandemie, so argumentierte Starmer, ist „in die Risse und Spalten unserer Gesellschaft eingedrungen“ und hat die Ungleichheiten mit tragischen Folgen zugspitzt. Diesem analytischen Schwerpunkt der Rede folgte als Kritik an dem konservativen „Build back better“ nur ein schwaches, plakatives „Go forward fairer“. Stattdessen beschwor Starmer als „Essenz meiner Führung“ eine „neue starke Partnerschaft von Labour Party und Wirtschaft“ als Voraussetzung für eine neue Prosperitätskonstellation, ergänzt um die schonende Nutzung staatlicher Ressourcen: „Unter meiner Führung wird in der Labour Party die finanzielle Verantwortung immer Priorität haben.“ Der lapidare Kommentar der Grünen-Abgeordneten Caroline Lucas zur Rede lautete: Wir als Opposition „befinden uns in größeren Schwierigkeiten, als ich dachte“.

Die Labour-Linke: marginalisiert und zersplittert

Starmers aktuelle Positionsbestimmung richtet sich an die Wechselwähler:innen. Mit ihr formuliert er eine Alternative zur konservativen Perspektive einer graduell geläuterten Rückkehr zur Vorkrisensituation. Er ist in der Lage, interessante und innovative politische Ideen aufzugreifen. Eine Alternative zum konservativen „So-Weiter“ formulieren aber auch die britischen Liberaldemokraten. Bei aller Offenheit für eine entschiedenere Schutzpolitik für benachteiligte soziale Gruppen ist Starmers Rede ein Dokument der inhaltlichen Distanzierung zum Corbynismus, dessen Kernpunkte – so sein Wahlversprechen – er verteidigen wollte. Aber Strukturreformen sind ihm fremd. Während es bei ihm darum geht, den britischen Kapitalismus gerechter und funktionaler zu machen, zielten die Vorschläge des Corbynismus darauf ab, den Staat als Hebel zu nutzen, um dort demokratische Entscheidungsfindungen einzuführen, wo sie den kapitalistischen Produktionsverhältnissen ein Gräuel sind: am Arbeitsplatz und bei den Entscheidungen darüber, was, wie und wo produziert werden soll, also eine Demokratisierung der Wirtschaft und damit eine grundsätzliche Herausforderung der aktuellen Strukturen in Industrie und Dienstleistungen. Dieser Inhalt des Corbynismus fehlt bei Starmer nicht nur, sondern er ist ihm ebenso fremd wie der Mehrheit der Labour-Parlamentarier, die in der Tradition des Fabianismus stehen.

Die Labour-Linke hat es bisher nicht geschafft, ein neues Zentrum für die politisch-theoretische Debatte und zur Abstimmung politischer Initiativen aufzubauen. Im Gegenteil, die Zersplitterungstendenzen überwiegen. Das zeigt sich nicht nur an den Abwanderungstendenzen bei der parlamentarischen Linken, der Socialist Campaign Group, sondern auch bei den Schwerpunktsetzungen der bisherigen Exponent:innen der Linken.

Unter ihnen hat Rebecca Long-Bailey sich bisher keinem neuen Arbeitszusammenhang zugeordnet. Im Schattenkabinett hatte Starmer zunächst auf ihre wirtschaftspolitische Kompetenz, die sie bei der Ausarbeitung von Labours Green New Deal erworben hatte, verzichtet und sie als bildungspolitische Sprecherin berufen; in dieser Funktion wurde sie unter einem Vorwand vor die Tür gesetzt, nachdem sie entgegen der von ihm unterstützten Öffnungspolitik während der ersten Phase der Corona-Pandemie den Bedenken von Beschäftigten und Gewerkschaften im Bildungssektor Geltung verschaffen wollte. Jon Trickett hat sich mit dem Projekt „No Holding Back“[10] der Aufgabe verschrieben, die Labour Party im proletarischen Nordengland zu stärken. John McDonnell versucht zusammen mit Andrew Fisher, dem Koordinator der Corbynschen Wahlprogramme, das in seiner Zeit als Schattenschatzkanzler nicht gelungene Projekt am Leben zu halten, ein Netzwerk von Think-Tanks aufzubauen, um gegenüber der Übermacht konservativer Institute eine größere Ausstrahlungskraft für transformatorische Politikentwürfe zu erreichen. Jeremy Corbyn hat die Stiftung „Project Peace and Justice“[11] ins Leben gerufen, einerseits um demotivierten oder ausgetretenen Labour-Mitgliedern eine Perspektive für politische Betätigung zu bieten, andererseits um eine Vernetzung von Protestinitiativen auf internationaler Ebene voranzubringen. Über seinen Status als Mitglied der Labour-Parlamentsfraktion entscheidet demnächst ein ordentliches Gericht.

Alle eint, dass sie vehement dafür werben, dass auch jene Mitglieder die Partei nicht verlassen, die den politischen Kurswechsel der neuen Parteiführung und vor allem ihr adminis­tratives Vorgehen zwecks Einschränkung der innerparteilichen Diskussion nicht mehr mittragen wollen. Auch die Momentum-Gruppe als personell größte politische Strömung hat nach Neuwahl ihres Vorstands verschiedene Initiativen gestartet, um die Abwanderung abzuwenden. Hier fällt ihr die Parteiführung in den Rücken, indem sie „Labour’s community organising unit“ ersatzlos aufgelöst hat – ein Organisationszusammenhang, über den sich beim letzten Wahlkampf 20.000 Aktivist:innen engagiert hatten. Es sind nicht wenige Mitglieder, die sich passiv durch Rückzug oder aktiv durch Austritt von der Partei abwenden oder suspendiert worden sind.

Neue Führung ohne Orientierung

Nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden war Starmer mit viel Vorschusslorbeer bedacht worden. Zumeist unter Ignorierung seiner bisherigen Laufbahn im Staatsapparat bis 2013 und seiner politischen Positionierung als Labour-Abgeordneter seit 2015 wurde von ihm unrealistischerweise erwartet, dass er die Labour Party wieder als eine „broad church“ aufstellen würde. In Absetzung zum vermeintlich eingeengten Weg, den Corbyn zur Aktivierung politischer Arbeit und Erneuerung von Repräsentationsstrukturen aufgegriffen hatte, wird darunter ein Parteimodell verstanden, das eine breite Koalition von Interessen, Werten und Gruppen umfasst und eine starke, explizit sozialistische Linke einschließt, aber ideologisch insgesamt breiter aufgestellt ist. „Auffälligerweise haben in den frühen 1980er Jahren traditionell linke Repräsentanten um Tony Benn als auch später Tony Blair und Peter Mandelson auf dem ›rechten‹ Flügel dieses Parteimodell abgelehnt. Doch nur so, nicht als marktkonformer Wahlverein zur Unterstützung des Premierministers (Blair) oder als ideologisch geschlossene linkssozialistische Partei, kann Labour im britischen politischen System im neuen Jahrzehnt mehrheitsfähig werden.“[12] Wenn Starmer „weder Corbyn noch Blair“ nachfolgen werde, sondern einen Mittelweg einschlagen würde, sei er auf dem richtigen Kurs.

Dass Starmer kein Corbyn war und ist, wird nach einem Jahr der De-Corbynisierung niemand mehr bestreiten. Er ist aber auch kein Blair. Denn „ein erfolgreiches politisches Projekt muss einen intellektuellen Kern haben. Es verlangt eine Analyse der gegenwärtigen Situation und einen Weg nach vorne für das Land in den kommenden Jahren … In jeder wichtigen Rede hatte Blair die Werte, Prinzipien und Positionen des New-Labour-Projekts dargelegt, die die Partei in die Regierung tragen sollten und dann den Modus bestimmten, mit dem sie über zehn Jahre lang regierte. Im Gegensatz dazu setzt Starmer, genau wie Ed Miliband von 2010 bis 2015, unbeholfen auf eine Umarmung der zu den Konservativen gewechselten Arbeiterschichten (›Blue Labour‹) mithilfe einer Politik, in der Religion, Nation und Familie im Mittelpunkt stehen. Teile seiner Analyse sind überzeugend – dass die Menschen sich nach starken Beziehungen, einem Gefühl der Zugehörigkeit und Würde am Arbeitsplatz sehnen –, aber insgesamt weist er nur auf Probleme hin, zeigt aber keine Perspektiven auf. Es ist eine politische Sackgasse. Wenn Starmer morgen als Vorsitzender abtreten würde, würde er nicht die Spur eines einzigen sinnvollen politischen Projekts hinterlassen.“[13]

Um nicht ganz hinter dem Schatten Blairs zu verschwinden, greift Starmer nun mit der Einbindung von Baron Mandelson auf die Expertise eines New-Labour-Akteurs zurück, der am Ende seiner Regierungstätigkeit immerhin selbstkritisch eingestanden hatte, Labour in einen Wahlverein verwandelt zu haben. Mandelson ist jener „Fürst der Finsternis“, der als enger Vertrauter Blairs und als Mitautor des Schröder-Blair-Papiers einer der Initiatoren der Strategie neoliberaler Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik mit sozialem Antlitz war; der sein privatwirtschaftliches nicht vom öffentlichen Interesse trennte; der nach der Wahl Corbyns zum Parteivorsitzenden die Selbstaktivierung der Labour-Basis als linkssektiererischen Aktionismus diskreditierte; und der mit seinen Invektiven den Kampf der Mehrheit der Labour-Parlamentsfraktion gegen Corbyn von Anfang an befördert hatte. Bisher steht die „New Leadership“ des jetzt ein Jahr amtierenden Labour-Vorsitzenden Starmer für eine harte Ausgrenzung des sozialistischen Flügels der Partei; für eine Oppositionspolitik gegenüber der rechtspopulistisch-nationalistischen Regierung, die selbst unter Berücksichtigung der besonderen Erfordernisse aufgrund der Pandemie nur als nachsichtig zu bezeichnen ist; und für eine politische Vagheit, nachdem zentrale Punkte der bisherigen Programmatik nicht mehr weiter verfolgt werden, ohne dass zumindest in Umrissen eine andere Reform­alternative entwickelt worden ist. Eine Parteiführung, die innerparteiliche Zerstrittenheit als Ausweis von Führungsstärke präsentiert, wird in der Wählerschaft kein neues Vertrauen und keine Zuversicht gewinnen und auch nicht als Promotor für Solidarität mit sozialer Kompetenz wahrgenommen.

Bei den Regional- und Kommunalwahlen Anfang Mai steht der neue Kurs der Partei erstmals auf dem Prüfstand. Die Parlamentswahlen in Schottland und Wales werden nach einem erweiterten Verhältniswahlrecht durchgeführt. In Schottland geht es für Labour darum, ob die Partei mehr als 10% der Stimmen holt; im kleinen Wales steht die Entscheidung an, ob sie an der neuen Regierung beteiligt bleibt. In London ist unklar, ob die Partei wieder den Bürgermeister stellen und die Mehrheit im Stadtparlament verteidigen kann. In vielen Städten und Metropolregionen werden die Wahlkampfaktivitäten nicht nur wegen der Pandemie, sondern auch wegen der administrativen Demotivierung der Parteibasis eingeschränkt sein – ein starkes Handicap, weil hier die Mandate nach dem Mehrheitswahlrecht vergeben werden. Am ehesten werden Labour-Politiker:innen, die sich in Metropolregionen als Bürgermeister:in bewerben, vereinzelte Erfolge erzielen können.

Es ist absehbar, dass selbst bei einem in der Summe negativen Wahlergebnis im Mai die Gefahr einer „Pasokifizierung“ der Labour Party von der Parteiführung verneint wird. In einem Land, das sein nationales Parlament nach dem Mehrheitswahlrecht wählt, und wo Labour immer noch mit den Gewerkschaften strukturell eng verbunden ist, sei ein weiterer rapider Bedeutungsverlust wegen schwindenden Rückhalts in der Wählerschaft bei dieser Partei sozialdemokratischen Typs nicht denkbar. Das jedoch ist ein Irrglaube.

Ein Beitrag von Hinrich Kuhls lebt in Düsseldorf und arbeitet in der Sozialistischen Studiengruppe (SOST) mit. Zuletzt schrieb er in Heft 2-2021 von Sozialismus.de 2-2021 zu „›Goodbye Europe‹. Großbritannien als neuer Krisenherd nach dem harten Brexit.“

Der Artikel erschien ursprünglich in der aktuellen Dezember-Ausgabe von Sozialismus.de. Kostenlose Probehefte und (Probe-)Abos gibt’s auf www.sozialismus.de

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[1] Hingegen hatten die Unterhaus-Fraktionen der schottischen und walisischen Volksparteien (Scottish National Party und Plaid Cymru) sowie die Grünen-Abgeordnete Lucas geschlossen ihre Unterstützung eines Misstrauensantrags und des damit angestrebten Regierungswechsels zugesagt.

[2] Siehe z.B. die Wahlanalysen in Heft 1-2020 dieser Zeitschrift: Hinrich Kuhls: Harter Brexit schlägt progressive Transformation. Zur Wahlniederlage der Labour Party, S. 2-4, und Florian Weis: Old Britain has gone. Doch Vorsicht vor allzu einfachen Erklärungen der Niederlage von Corbyns Labour Party, S. 7-12. Eine umfassende Studie hat Owen Jones (This Land. The Story of a Movement, London 2020: Allen Lane) vorgelegt. Eine überfraktionell zusammengesetzte Kommission (Labour Together) hat im Juni 2020 den »Election 2019 Review« abgeschlossen; www.labourtogether.uk/review und Bericht

[3] Siehe hierzu Hinrich Kuhls: Bürgerkrieg in der Labour Party. Jeremy Corbyns Suspendierung. Sozialismus.deAktuell, 2.11.2020; /

[4] Sienne Rodgers: »They remain my priorities«. Starmer recommits to leadership campaign pledges. Labour List, 2.10.2020;

[5] The Labour Party (2020): Labour’s Green Economic Recovery;

[6] Angus Satow: Labour backtracks on its green agenda. Labour Hub, 16.11.2020;

[7] Seán Patrick Griffin (2020): Remaking the British State: For the Many, Not the Few. A report produced on behalf of the Labour Party;

[8] Keir Starmer: Speech on A New Chapter for Britain. The Labour Party, 18.2.2021;

[9] Dan Lewer, Michael Marmot et al. (2020): Premature mortality attributable to socioeconomic inequality in England between 2003 and 2018: an observational study. In: The Lancet Public Health 5 (1), e33-e41. DOI: 10.1016/S2468-2667(19)30219-1. Vgl. auch den Kurzbericht: Sarah Boseley: Austerity blamed for life expectancy stalling for first time in century. In: The Guardian vom 25.2.2020;

[10] Website: noholdingback.org.uk/ Vgl. dort Jon Trickett/Ian Lavery/Laura Smith: The Challenge for Labour. Autumn 2020.

[11] Website: thecorbynproject.com/ Vgl. Jeremy Corbyn: Why I’m Launching a Project for Peace and Justice. Jacobin, 13.12.2020;

[12] Florian Weis: Weder Corbyn noch Blair. Labours Neuanfang mit Keir Starmer und Angela Rayner. In: Sozialismus.de, Heft 5-2020, S. 57.

[13] Tom Kibasi: Keir Starmer’s leadership needs an urgent course correction. In: The Guardian vom 16.2.2021;

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