Am Sonntag findet in Frankreich die zweite Runde der Parlamentswahlen statt. Bei dieser wird die übergroße Mehrheit der Parlamentssitze vergeben und entschieden, ob dem neoliberalen Macron ein linkes Parlament gegenübersteht. Wir haben mit dem Frankreich-Experten Sebastian Chwala gesprochen.
Die Freiheitsliebe: Präsidentschaftswahl ist wie von dir in unserem letzten Gespräch vorhergesagt mit einem Sieg von Macron ausgegangenen. Was bedeutet das für Frankreich?
Sebastian Chwala: Macron ist vor allen Dingen deshalb,wiedergewählt worden, weil die Wählerinnen und Wähler der Linken ihm in der Stichwahl ihre Stimme gegeben haben. Fast die Hälfte der Stimmen Macrons in der Zweiten Wahlrunde stammten von Menschen, die Angst vor Le Pens rassistischem und ultranationalistischem Projekt hatten. Macron hat also eine Wahl gewonnen, obwohl die Mehrheit der Menschen nicht wollte, dass er als Präsident wiedergewählt wurde. Nur die Konstellation in der Stichwahl hat dies ermöglicht. Macron schwebt dennoch die Radikalisierung seines Kurses der letzten 5 Jahre vor. Die waren schon geprägt von massivem Sozialabbau und Zerstörung der öffentlichen Infrastruktur. Gleichzeitig wurden weiter Steuern für Vermögenden gesenkt. Dies verteidigte Macron immer offen, als Stärkung der Standorts, der weitere Investitionen und Arbeitsplätze zur Folge hätte. Tatsächlich hat dies nur die die Stellung von Frankreichs Reichen gestärkt. Diese sind die reichsten Vermögensbesitzer in Frankreich. Dagegen hat die Armut weiter zugenommen. Macron hat keinen wirklichen Wahlkampf geführt und sich einer Debatte über seine weiteren politischen Ziele entzogen. Das ist der Grund, warum in letztendlich immer noch zu viele Französinnen und Franzose ihn für einen Mann der politischen „Mitte“ halten.
Die Freiheitsliebe: Eine Folge des knappen ersten Wahlgangs bei dem Melenchon auf Platz 3 lag, ist auch die Bildung des neuen linken Bündnisses Nupes. Wie ist dieses zusammengesetzt und was waren neben dem Ergebnis von Melenchon die Ursachen der Entstehung?
Sebastian Chwala: Zwei Erkenntnisse innerhalb des linken Spektrums waren dafür auschlaggebend. Einerseits wurde Mélenchon und der Führungsebene von LFI klar, dass die Bewegung auf Dauer das anstrebte Ziel allein hegemonial zu werden und die anderen Fraktionen der linken durch radikale Abgrenzung als führende linke Kraft abzulösen nicht funktionieren wird, wie die eher schlechten Wahlergebnisse zwischen 2017 und 2021 zeigten. Deshalb öffnete man sich für die parteilosen linken Aktivistinnen und Aktivisten aus der Zivilgesellschaft und wollte ein überparteiliches Netzwerk schaffen, das vor allen Dingen programmatisch arbeiten sollte Dieses Konzept war erfolgreich und LFI verschwand zwar nicht wurde aber der politische Arm der „Union populaire“ und ihrem „parlement“. Wie erfolgreich diese verbindende Strategie war, zeigt sich daran, dass mit Aurelie Trouvé die ehemalige französische ATTAC-Vorsitzende die Leitung des Gremiums übernahm. Durch diese Einbindung der ungebundenen Linken entzog LFI aber den anderen Linksparteien jede Chance auf eine eigene Dynamik hinsichtlich der Präsidentschaftswahlen.
Die Einigung mit LFI erfolgte deshalb auch aus purer Sorge von Grünen und Sozialdemokratie bei den Parlamentswahlen völlig chancenlos zu sein. LFI trieb die Angst um, dass eine erneut gespaltene Linke sich in vielen Wahlkreisen aber auch gar nicht erst für die Stichwahlen qualifizieren werde.Die gegenseitige strategische und ihnhaltliche Verständigung der Parteien soll über das bereits bestehende „parlement“ erfolgen. Deshalb haben sich inzwischen auch Vertreterinnen und Vertretern der anderen Parteien angeschlossen. Diese „Union populaire“ wurde so zur Nouvelle union populaire ecologique und social“ (Nupes).
Die Freiheitsliebe: Was sind die Ziele des Bündnisses?
Sebastian Chwala: Schlicht und ergreifend die Wahlen zu gewinnen und einen Katalog von Mindestforderungen abzuarbeiten. Dazu gehören zum Beispiel die Erhöhung des Mindestlohns auf 1.500 Euro Netto, die Einführung einer „Grundsicherung“ von 1.063 Euro für 18 bis 25jährige Menschen, die selbst über kein eigenes Einkommen verfügen, sowie die Festlegung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre und die Förderung des sozialen Wohnungsbaus. Auch die Steuern auf große Vermögen sollen wieder steigen. Insgesamt umfasst das Regierungsprogramm 650 Programmpunkte. Großes Ziel ist allerdings der „sozial-ökologische“ Umbau des Landes, von dem man sich die Schaffung vieler neuer Arbeitsplätze erhofft. Auch die Stärkung des öffentlichen Bildungssystem steht auf der Agenda weit oben. Alles in allem also ein klassisches linkes Regierungsprogramm. Ob Nupes über die Wahlen hinaus bestand haben wird, ist noch offen. Zumal ja alle Beteiligten ihre eigenen politischen Strukturen beibehalten werden.
Die Freiheitsliebe: Insbesondere innerhalb der Sozialistischen Partei aber auch innerhalb der Grünen gibt es Kritik an dem Bündnis, was ist die Kritik und wie wird damit im Bündnis umgegangenen?
Sebastian Chwala: Die Kritik aus den Reihen der Grünen war eher gering. Deren Gremien haben fast einstimmig der Nupes zugestimmt. Die Bindungen „macronitischer“ Grüner wie Cohn-Bendit an die Partei sind nicht mehr sehr eng. Sicherlich hatte man mit Yannick Jadot eher auf einen „rechtsgrünen“ Kandidaten gesetzt. Dessen schwaches Wahlergebnis von unter 5 Prozent gaben ihm wenig Argumente für eine politische Annäherung der Partei an Macron. Inzwischen unterstützt Jadot, wenn auch halbherzig, Nupes. Relevanter sind die Debatten innerhalb der Sozialdemokratie. Hier versuchte der loyal zum Ex-Präsidenten Hollande stehende Flügel eine Annäherung an LFI zu verhindern. Aus Angst dies könnte zur Linksentwicklung der Partei führen. Es gab am letzten Sonntag auch einige dissidentische Kandidaturen aus diesen Reihen. Diese haben Nupes zwar punktuell geschadet. Im Großen und Ganzen haben diese Kandidaturen Nupes aber nicht sonderlich ins Wanken gebracht, sondern das Bündnis daher eher gefestigt. Denn die Wahlergebnisse waren bis auf eine handvoll Wahlkreise nicht sonderlich aufsehenerregend. Das Bündnis aber auch am Dauerbeschuss durch privaten Medien und „Macronismus“, welche die Angst vor der „Roten Gefahr“ beschwören wollen und die das Lagerdenken in den eigenen Reihen stärkt.
Die Freiheitsliebe: Aus Teilen der radikaleren Linken wird Melenchon dagegen vorgeworfen seine Position aufzuweichen, z.B. bei der der EU, teilst du die Kritik?
Sebastian Chwala: Aus dem Umfeld von LFI gab es zahlreiche Kritikerinnen und Kritiker. In erster Linie tatsächlich aber bezüglich der Kandidatinnenaufstellung. So hatte Mélenchon einen starken Rückhalt in den migrantisch geprägten Banlieus (hier hatten am 10. April 60 bis 70 Prozent der Wählerinnen und Wähler für ihn gestimmt). Etliche Basiskommitees hatten sich hier LFI politisch angenähert. Durch die unitäre Kandidatinnenstrategie mit den übrigen Parteien mussten einige migrantische Kandidatinnen und Kandidaten aber auf ihre Kandidaturen wieder verzichten. Dies führte zu einer (kleinen) Debatte, ob LFI wirklich an einem gleichberechtigten Umgang mit den „nicht-weißen“ Französinnen und Franzosen interessiert sei oder aber auch nur paternalistische Politik betreibe, wie die traditionelle Linke. Sicherlich hat LFI auf die Option verzichtet, aus Protest gegen eine antisoziale Politik auch die EU verlassen zu können. Allerdings räumen im Gegenzug Grüne und Sozialdemokratie ein, dass diese „neoliberal“ ist und man sich allen Liberalisierungsprojekten widersetzten müsse. Zudem konnten bellizistische Festlegungen in der Außenpolitik verhindert werden
Die Freiheitsliebe: Das Bündnis hat sich das Ziel gesetzt im Parlament eine Mehrheit gegen Macron zu erobern, ist dies nach dem ersten Wahlgang realistisch
Sebastian Chwala: Das ist ganz schwer zu sagen. Erst einmal ist es ein großer Erfolg aber auch eine Überraschung in fast 400 Stichwahlen eingezogen zu sein. Im Jahr 2017 waren es etwas mehr als 100. Allein die Schaffung des Bündnisses hat dies ermöglicht. In vielen Wahlkreisen liegen die Kandidierenden allerdings eng zusammen. Ob die allgemeine „Anti-Macron“-Stimmung dazu ausreicht, dass in diesen knappen Rennen auch ein paar Le Pen Wähler links wählen, um „macronitische“ Parlamentsabgeordnete zu verhindern, ist unklar. Zudem weigert sich der radikalisierte „Macronismus“ in Duellen zwischen RN und NUPES zur Fall der Linken aufzurufen, da beide Seiten als gefährliche „Extremisten“ gebranntmarkt werden. Fest zu stehen scheint nur, dass der „Macronismus“ ohne Mehrheit dastehen wird. Ob und wie es Mehrheiten gegen Macron geben kann, mag ich heute nicht zu sagen.
Die Freiheitsliebe: Was könnte eine solche Mehrheit machen, in einer Situation bei der der Präsident auch über Dekrete regiert? Was wären die zentralen parlamentarischen Vorhaben?
Sebastian Chwala: Sofern sich eine alternative Mehrheit im Parlament findet,weil NUPES gewinnt, schwindet die Macht des Präsidenten. Denn regieren tut der Premierminister. Sollte Macron keinen politisch gleichgerichteten Premier finden, kann er auch nicht im Schnelldurchgang Gesetze beschließen lassen, da alle das Parlament einschränkenden Maßnahmen nur durch die Regierung angewendet werden können. Zudem kann der Präsident zwar das Parlament auflösen. Die aktuelle Legislaturperiode könnte aber erst in einem Jahr beendet werden. Danach geht dies auch nur einmal im Jahr. Eine linke Mehrheit könnte also dem Präsidenten eine alternative Agenda aufzwingen. Nur in der Außen-und Sicherheitspolitik (das betrifft nicht die Europapolitk) hat der Präsident eine „Richtlinienkompetenz“.
Die Freiheitsliebe: Danke dir für das Gespräch.