Auf dem Weg zu Mengele?

Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages maßen der Angelegenheit eine gewisse Bedeutung zu: Über die Gesetzesvorlage wurde am 11. November 2016 namentlich abgestimmt. Von den 630 Mitgliedern des Hauses nahmen immerhin 542 an der Abstimmung teil. 357 stimmten zu, 164 waren dagegen und 21 Abgeordnete enthielten sich. Der Fraktionszwang, den es laut Artikel 38 des Grundgesetzes eigentlich nicht geben darf, war zuvor aufgehoben worden. Die Fraktionsvorstände räumten ein, es ginge um eine Gewissensentscheidung. Dabei wurde monatelang „nur“ um eine scheinbar geringfügige Änderung des Arzneimittelgesetzes („4. Gesetz zur Änderung arzneirechtlicher und anderer Vorschriften“) gerungen. Und wie immer steckte auch hier der Teufel im Detail. Es geht um klinische Medikamententests. Die Passage, die zu heftigen Auseinandersetzungen unter den Abgeordneten, zu geharnischtem Protest der beiden christlichen Großkirchen und zum – zumindest zeitweiligen – Widerstand der Nationalen Ethik-Kommission führte, verbirgt sich im § 40b, Absatz 4:

„Bei einer volljährigen Person, die nicht in der Lage ist, Wesen, Bedeutung und Tragweite der klinischen Prüfung zu erkennen und ihren Willen hiernach auszurichten, darf eine klinische Prüfung im Sinne des Artikels 31 Absatz 1 Buchstabe g Ziffer ii der Verordnung (EU) Nr. 536/2014, die ausschließlich einen Nutzen für die repräsentierte Bevölkerungsgruppe, zu der die betroffene Person gehört, zur Folge haben wird (gruppennützige klinische Prüfung), nur durchgeführt werden, soweit eine Patientenverfügung nach§ 1901a Absatz 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches die gruppennützige klinische Prüfung gestattet.“

Das wahrlich nebulöse Polit-Sprech muss man übersetzen. Eine „volljährige Person“, die „Wesen, Bedeutung und Tragweite“ eines an ihr durchgeführten Medikamententestes – darum und nur darum geht es! – nicht erkennt, leidet gemeinhin an Demenz. In Deutschland sind das zirka 1,5 Millionen Menschen. Man geht dabei etwa von zwei Dritteln Alzheimer-Patienten aus. Bis 2050 soll sich die Zahl der Betroffenen, findet man bis dahin keine wirksame Therapie, verdoppeln. Das Perfide an der gewählten Gesetzesformel ist, dass die Patientengruppe, auf die die Regelung abzielt, nicht auf ihre Krankheit bezogen eingegrenzt wurde – die Neuregelung lässt also potenziell auch andere Anwendungen offen. Sie ist de jure ein Freibrief für die „forschende Pharmaindustrie“.

Nun war es auch bislang möglich, ein noch nicht zugelassenes Medikament zum Beispiel bei Demenz-Erkrankten in fortgeschrittenem Zustand anzuwenden (also in einer nicht-einwilligungsfähigen Situation), wenn dieses die begründbare Chance eines Nutzens für die konkrete Person hätte haben können. In dieser Option lag eine Begrenzung: War dieser mögliche Nutzen nicht nachweisbar, durfte das Mittel nicht zur Anwendung kommen. Diese Begrenzung entfällt jetzt. Es ist künftig vollkommen unwichtig, ob das Medikament dem Patienten nützt oder auch nicht. Es reicht, dass er dem entsprechenden Krankheitsbild Genüge tut. Dann ist die Verabreichung eines Medikamentes machbar, das (möglicherweise) „ausschließlich einen Nutzen für die repräsentierte Bevölkerungsgruppe […] zur Folge haben wird“. Verschwiemelt wird das „gruppennützige klinische Prüfung genannt“. Man kann das getrost „Menschenversuche“ nennen. Die Patienten werden mit dieser Regelung vollkommen gesetzeskonform zu Versuchskaninchen degradiert. Grundgesetzkonform ist dies allerdings nicht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Artikel 1, Absatz 1) Mit dem Beschluss vom 11. November 2016 verstieß der Deutsche Bundestag gegen Satz 2 des zitierten Artikels. Er dekretierte, dass die Würde des Menschen künftig angetastet werden darf. Auch an Demenz erkrankte Menschen sind Menschen – bis zu ihrem letzten Atemzug.

Nun wird man einwenden, dass doch eine Patientenverfügung Voraussetzung für die Teilnahme an einer solchen „gruppennützigen klinischen Prüfung“ sei. Das verkennt den Prozesscharakter von Demenz-Erkrankungen. Die Abgabe einer Patientenverfügung ist nur in einer Lebenssituation möglich, in der der Mensch voll umfänglich in der Lage ist, seinen Willen frei zu formulieren und den Umfang des von ihm Gewünschten überblickt. Das ist in der ersten Phase der Erkrankung durchaus denkbar. Die ehemalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) problematisierte die Tragfähigkeit der Patientenverfügung für solche Fälle dem Deutschlandfunk gegenüber: „Ich entscheide hier, was ich am Ende meines Lebens möchte, was mit mir selber gemacht wird, so. […] Aber die Frage, was eigentlich in einem Forschungsvorhaben passiert und was dann mit mir passiert, darüber kann mich jetzt niemand aufklären. Weil das Forschungsvorhaben noch nicht da ist.“ Diese Entscheidung wird jetzt – es muss ja alles rechtlich seine Ordnung haben – dem gesetzlichen Vertreter des Patienten zugemutet. Der erfährt natürlich fachliche Beratung: „durch einen Prüfer, der Arzt“ ist oder ein Mitglied des Prüfungsteams, das Arzt ist.

Übersetzen wir auch das in eine deutlichere Sprache: Der Patient ist aufgrund seines Krankheitszustandes nicht mehr in der Lage zu überblicken, was mit ihm geschieht. Die Entscheidung muss ein – im Regelfalle medizinisch unkundiger – Dritter vornehmen. Das können ein Lebenspartner, ein erwachsenes Kind, ein vom Amt bestellter Betreuer sein. Der weiß aber auch nicht, was das Mittel, das da angewendet werden soll (besser: getestet, nur darum geht es!) bewirken oder anrichten wird. Diese dritte Person erfährt Aufklärung – vom Pharmatester! Selbstverständlich sind in den „Prüfungsteams“ Ärzte vertreten… Die werden alles tun, um die Zustimmung des Patientenvertreters zu erreichen.

Demenzkranke sind besonders schutzbedürftige Menschen. Aus diesem Grunde lehnten gerade die, die sich am besten mit dieser Krankheit auskennen, die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft, diese Gesetzesänderung ab. Den Gesetzgeber interessierte das mehrheitlich nicht. Der Deutsche Bundestag degradierte jetzt alle Demenzerkrankten zu potenziellen Objekten der Pharmaforschung, in der letzten Phase der Krankheit sind alle Betroffenen eines eigenen Willens beraubt.

Die Sinnhaftigkeit der Forschungsmethoden dieser Branche steht allerdings schon lange in der Kritik. Interessanterweise artikuliert sich der kollektive Aufschrei in unserem Lande zumeist dann, wenn es um Tierversuche geht – die tatsächlich in den meisten Fällen vollkommen überflüssig sind. Der Berliner Tagesspiegel zitierte im Mai dieses Jahres den aktuellen deutschen Pharmabericht. Nach diesem waren in den vergangenen zehn Jahren deutsche Forscher an rund 10.000 klinischen Prüfungen (also Medikamententests am Menschen) beteiligt. Das ist weltweit Platz zwei in der Auflistung solcher Aktivitäten. Nur in den USA – mit einer vierfachen Bevölkerungszahl – gebe es mehr solche Tests. Und das eigentlich Erschreckende: Weder die Pharmaindustrie noch die Ärzteschaft, auch nicht die Bundesregierung in Gestalt des zuständigen Bundesgesundheitsministeriums, geben eine nachvollziehbare Begründung für die inflationäre Zunahme dieser Praktiken – und erst recht nicht für die Aufweichung der sowieso schon stark perforierten Patientenschutzgesetzgebung ab.

Stattdessen sonnte sich Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) der Tagesschau gegenüber in wahrhaft unübertrefflichen Plattitüden: „Zum Menschsein gehört auch, Leid lindern zu wollen, Krankheiten besser verstehen und heilen zu wollen.“ Außerdem bedrücke ihn „der forschungsfeindliche Ton, der in der Debatte zum Teil angesetzt werde“. Sekundiert wurde Gröhe vom Koalitionskollegen Karl Lauterbach (SPD), der verlangte, die „Menschenwürde eines Demenzkranken zu würdigen“: „Mit welchem Recht spreche ich den Demenzerkrankten ab, sich selbst verwirklichen und noch einen Beitrag – nach klaren Regeln – leisten zu wollen?“ Zynischer geht es nicht. Wenn Ulla Schmidt sagt, dass mit diesem Gesetz eine Tür aufgestoßen werde, durch die sie nicht gehen wolle, so muss man mit aller Deutlichkeit hinzufügen, dass diese Tür in einen noch dunklen Raum führt, in dem Labortische stehen, an denen die Enkel Josef Mengeles bereits ihre Versuchsapparaturen aufbauen. Natürlich transparent, natürlich alles auf gesetzlich geregelter Basis. Und natürlich geht es nur um die Linderung menschlichen Leides. Man wird ja wohl an so viel Gutsein auch ein wenig verdienen dürfen…

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus der heute erschienenen neuesten Ausgabe von „Das Blättchen – Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft“. Die komplette Ausgabe kann auf der Website www.das-blaettchen.de kostenfrei eingesehen werden.
Allerdings haben auch nicht-kommerzielle Projekte Kosten. Daher helfen Soli-Abos zum Bezug als PDF (
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