Günstig, umweltfreundlich, attraktiv: Das Neun-Euro-Ticket für den Nahverkehr soll die Bürger*innen angesichts steigender Energiepreise entlasten. Im Internet (Neuland) gibt es Witze über billigen Urlaub auf Sylt.
Von Rödelheim, Frankfurt am Main, geht es um 8:57 los mit der S-Bahn zum Frankfurter Hauptbahnhof. Da muss dann nur dreizehn Minuten gewartet werden, bis der Regional-Express nach Kassel fährt. Von dort gibt es eine Verbindung nach Göttingen. Die 19 Minuten zwischen der Ankunft um 12:45 und 13:04 können gut für ein Mittagessen genutzt werden, bevor es weiter nach Hannover geht. Einen Kaffee trinken ist hier dann auch nochmal drin, denn dann geht es mit nur einem Zwischenstopp in Uelzen nach Hamburg. In der wunderschönen Hansestadt kann noch ein Franzbrötchen gekauft werden – eine letzte Stärkung. Dann mit dem Regional-Express 70 Richtung Kiel und die Haltestelle Elmshorn nicht verpassen, denn von hier aus fährt eine direkte Verbindung nach Westerland (Sylt) und schon kann das Strandwochenende für nur neun Euro beginnen. Um 21:05 kann dann schon mal mit dem Handtuch eine Liege oder ein Strandkorb für den nächsten Morgen besetzt werden. Nur sieben Mal umsteigen muss man bis hierhin, gute zwölf Stunden – vorausgesetzt keiner der acht Züge ist verspätet. Zum Glück ist die Deutsche Bahn immer zuverlässig.
Das war sicherlich der Traum von Moses P, bürgerlich Moses Pelham, als er gemeinsam mit Thomas Hofman 1993 das Rödelheim Hartreim Projekt gründete. Nach einem erfolgreichen Debütalbum Direkt aus Rödelheim, das im Jahr 1994 erschien und sich über 160.000 mal im ersten Jahr verkaufte. Ja, damals waren es noch Platten. Heute ist das Album mit einer Goldenen Schallplatte ausgezeichnet. Mit dabei waren die damals noch unbekannten Schwester S, Sabrina Setlur, und Xavier Naidoo. Das Rödelheim Hartreim Projekt gilt heute als die Gründungsfigur des deutschen Gangstarap und Moses Pelham hat für viele nachfolgenden Generationen den Grundstein gelegt, mit hartem Rap auch kommerziell erfolgreich zu sein. Im Jahr 1996 erschien das zweite Studioalbum des Duos mit dem Namen Zurück nach Rödelheim. Zurück von Sylt nach Rödelheim geht es auch am Sonntag. Diesmal geht es um kurz nach 9 los. Nach fast dreizehn Stunden ist man dann wieder um 21:53 in Rödelheim. 24 Stunden Fahrtzeit insgesamt, aber ein ganzer Strandtag für neun Euro (Übernachtungen nicht inbegriffen). In der ersten Single des zweiten Albums „Höha, Schnella, Weita“ (Hessisch für „höher, schneller, weiter“) heißt es:
„Weil überall, wo wir sind Rödelheim ist ohne Show
Rödelheim Hartreim Projekt – Höha, schnella, weita Lyrics | Genius Lyrics
Moses P. ist der Chabo, der schmeißt
Mit Verben, Adjektiven, mir egal wie der Scheiß heißt
Weiße Weste, nähe Messe, Frankfurts beste
Adresse für Reim ist meine Fresse
Wenn dieser Hesse kommt, ist’s für Erbarmen zu spät“
Was könnte ein solches Sylt-Wochenende besser beschreiben? Da müssen sich die bürgerlichen Sylttourist*innen aber in Acht nehmen. Damals musste Moses Pelham noch einen Helikopter für das Musikvideo der Single mieten und ihn mit dem Logo des Rödelheim Hartreim Projekt versehen, um die Message deutschlandweit zu verbreiten. Pelham setzte damit neue Standards für ein entstehendes Genre. Heute reicht auch ein Neun-Euro-Ticket, um nach Sylt zukommen.
Was wäre wohl gewesen, wenn es schon 1994 das Neun-Euro-Ticket gegeben hätte? Hätte es dann niemals Rap direkt aus Rödelheim und zurück nach Rödelheim gegeben? Was wäre aus dem noch jungen Sprechgesang auf Deutsch geworden? Würden dann bis heute nur bürgerliche weiße Jungs aus Stuttgart, wie die Fantastischen Vier, den deutschen Hip-Hop dominieren? Man mag es sich kaum vorstellen. Vielleicht hätte Smudo nie die Luca App bei Markus Lanz beworben. Es gäbe keinen Azad, der damals von Moses Pelham unter Vertrag genommen wurde. Was wäre mit Haftbefehl? Wie würde dann die F.A.Z. ihr Feuilleton füllen? Vielleicht hätte sich Xavier Naidoo nie entschuldigen müssen.
Und vielleicht noch viel wichtiger: Harald Welzer hätte nie ein Buch über Entschleunigung schreiben müssen. Dann wäre der Weg, also sieben Mal umsteigen und gute zwölf Stunden Fahrt, wirklich das Ziel. Als Martin Seeliger „Soziologie des Gangstarap. Popkultur als Ausdruck sozialer Konflikte“ schrieb, hat er die Möglichkeit eines Neun-Euro-Tickets nicht auf dem Schirm gehabt. Laut Seeliger sind die kulturellen Formen des Gangstarap Ort eines Kampfes um Anerkennung in der postmigrantischen Gesellschaft sowie Ausdruck kompensatorischer Aufstiegsfantasien und Prekarisierungskritik. Wenn es das Neun-Euro-Ticket schon in den 90ern gegeben hätte, dann wäre der deutsche Gangstarap wahrscheinlich nie entstanden.
2022 gibt es nun das Neun-Euro-Ticket: Es gibt Sylt für alle!