Warsan Shire. Youtube-Screenshot, licensed under CC BY 2.0 (edited by Jakob Reimann).

Verse in die Magengrube – Warsan Shire

Jahrgang 1988. Tochter somalischer Eltern. Geboren in Kenia. Aufgewachsen in London. Twitter-Userin. Poesiepreisträgerin. „Entdeckt“ und berühmt gemacht von Beyoncé. Die Eckdaten des Lebens von Warsan Shire lesen sich spektakulär – jedoch bei Weitem nicht so spektakulär wie ihre Texte.

Die Geschichte des Weltruhms der Warsan Shire mutet an wie ein modernes Märchen: Ein US-amerikanischer Megastar liest auf Twitter die Zeilen einer jungen Poetin aus einer geflüchteten somalischen Familie und ist derart aufgewühlt, dass sie beschließt, deren Arbeit zentral in ein neues Album und den dazugehörigen Musikfilm einzubauen. Die fraglichen Zeilen stammen aus dem Gedicht „For women who are difficult to love“ – zu Deutsch: „Für Frauen, die schwierig zu lieben sind“.

you are terrifying
and strange and beautiful
something not everyone knows how to love.

Die Worte des Gedichts beschwören das Spannungsfeld einer Beziehung mit allen Schuldzuweisungen herauf, die traditionell an Frauen gerichtet werden, die „schwierig“ sind. Was sie besser machen könnten. Was sie liebenswerter machen könnte. Wo ihre Fehler und Makel liegen. Was sie besser wissen müssten. Das Thema ist nicht neu, und auch seine Behandlung in Kunst und Kultur nicht. Die Sprache ist es, die ins Mark trifft. Sie ist direkt, unbarmherzig, unkonventionell und doch immer verständlich. Shires Präzision lässt erschaudern, weil sie Wahrheiten weise auf den Punkt bringt, ohne banal zu werden oder Allgemeinplätze zu bedienen.

no one leaves home unless
home is the mouth of a shark

Der erste Gedichtband von Warsan Shire, „Teaching My Mother How to Give Birth“ (der Titel ist angelehnt an ein somalisches Sprichwort), erschien 2011. Zuvor hatte sie ihre Verse auf ihrem Blog sowie auf Twitter veröffentlicht. Sechs Jahre später hält sie weltweit Lesungen, ist Preisträgerin zahlreicher Auszeichnungen für ihre Werke und ihr neuester Band wird mit Spannung erwartet. Das Schaffen der Dichterin speist sich laut eigener Aussage nicht ausschließlich aus der eigenen Erfahrung, sondern vielmehr aus den gesammelten Erfahrungen ihrer Freunde, Verwandten, Bekannten und ihres sonstigen Lebenskreises, die geprägt sind von Facetten einer großen Dunkelheit. Diese große Dunkelheit sind Krieg, Hunger, Flucht, Rassismus, Gewalt, Missbrauch und immer wieder Unsicherheit. Die Motive ziehen sich durch das Werk Shires, und finden ihren bislang wohl bekanntesten Ausdruck in „Home“. Das Gedicht wurde zur Hymne für ein (zu) langsam entstehendes Bewusstsein in Europa, dass das Mittelmeer mit jedem Tag zu einem größeren Massengrab wird – Tendenz steigend. Es ist ein Fanal gegen all jene, die von „Wirtschaftsflüchtlingen“ reden, und von Glücksrittern auf der Suche nach einem süßen Leben im wohlhabenden Europa. Es straft all jene Lügen, die wettern auf Menschen, die ihre Angehörigen in löchrigen Schlauchbooten dem Willen der See aussetzen und dabei angeblich niedere Motiven hätten. Es macht unmissverständlich klar, dass niemand seine Heimat unter derartigen Umständen verlässt, wenn es eine Wahl gibt. Dass es die nackte Überlebensangst ist, die Familien auf den verzweifelten Weg nach Europa treibt. Die Familien trennt und Frauen und Kinder schutzlos auf der Strecke bleiben lässt, während ihre „verdächtigen“ Männer, Väter und Brüder bei uns ankommen und die Unverschämtheit besitzen, ein Smartphone als einziges Eigentum bei sich zu tragen. Das Gedicht ist zugleich Anklageschrift und Bestandsaufnahme, Plädoyer um Menschlichkeit und Mahnung an die Folgen kriegerischer Auseinandersetzungen.

Ran my fingers across the whole world / And whispered / Where does it hurt? / It answered / everywhere / everywhere / everywhere

Ein Thema, das sich ebenso wie Flucht durch das Werk Shires zieht, ist sexualisierte Gewalt. „Mutig“ wird sie häufig genannt, weil sie klare Worte findet für das ganz „normale“ Grauen der Genitalverstümmelung an Frauen und Mädchen, für übergriffige männliche Verwandte und Fremde, und für Massenvergewaltigungen, die in kriegerischen Auseinandersetzungen und gesellschaftlichen Extremsituationen an der Tagesordnung sind. Ihre Stimme wird zum Kanal für Erfahrungsberichte, die so selten gehört werden, wie sie zahlreich sind. Sie geht das Risiko ein, nicht neutral zu beschreiben und keinen sprachlichen Filter zu nutzen, auf die „Gefahr“ hin, dass es ihre Poesie schwer verdaulich macht, und zu hart für jede durchschnittliche Lesung. Ihre Worte lassen es nicht zu, mit intellektueller Distanz konsumiert und vereinnahmt zu werden, auch das eine Lehre in sich: das Leid der Menschen in Shires Texten ist kein exotisches Projekt für europäische Wohltäter, und seine Beschreibung keine Feel-Good-Unterhaltung mit hübsch verpackter Moral. Es provoziert kein Schuldeingeständnis, keine Tränen und keine Reue. Es ist direkt präsent und trifft unausweichlich in die Magengrube, unabhängig davon, ob man sich darauf einlässt oder sich abwendet.

Mother says there are locked rooms inside all women; kitchen of lust, bedroom of grief, bathroom of apathy. Sometimes the men – they come with keys, and sometimes, the men – they come with hammers.

An dieser Stelle könnte eine zusammenfassende Bewertung der Lektionen stehen, die aus Warsan Shires Gedichten zu ziehen sind. Dass sie eine große Poetin und Feministin ist, trotz ihres jungen Alters. Wie außergewöhnlich ihre Lebensgeschichte ist, und wie bemerkenswert ihr Werdegang. Eine Bewertung, die wir als normal anerkennen würden, und als wohlwollend. Doch sie würde dieser Stimme nicht gerecht, die so knallhart vor Augen führt, wie wenig Menschlichkeit der europäische Blick oftmals für das „Andere“ aufbringt und wie sehr er bestimmt wird von dem Bedürfnis, die Hoheit über Diskurse zu behalten. Darum stattdessen Warsan Shires eigene Worte zur Frage, was sie von Beschreibungen ihres Schaffens hält, aus einem Interview aus dem Jahr 2013: „Egal, welche Art Werk du schaffst, du wirst immer in eine Schublade gesteckt weil das andere Menschen beruhigt. Also – wenn ich nicht ’so mutig‘ wäre, wäre ich eben ’so afrikanisch‘ oder ’so muslimisch‘. Und selbst wenn diese Betitelungen Teil dessen sind, was ich bin – warum muss es immer die eine Perspektive sein?“


Dieser Artikel ist Teil des Freiheitsliebe-Specials zum Internationalen Frauentag am 8. März.

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