Soziale Veränderung ist kein Sprint, sondern ein Marathon

Hunderte Interessierte waren auf Facebook dabei als das Buch vom Aktivisten Timo Luthmann ,,Politisch aktiv sein und bleiben“ als Veranstaltungsinformation präsentiert wurde. Ein riesiges Interesse an dem Thema Nachhaltigem Aktivismus scheint zu existieren. Kein Wunder, Burnout ist Volkskrankheit, jeder dritte Studierende ist beispielsweise davon betroffen. Für politisch Aktive wird wahrscheinlich der prozentuelle Anteil auf Grund der Mehrfachbelastung um ein Vielfaches größer sein, da sie nicht vom kapitalistischem Leistungszwang ausgenommen sind.

Mit viel Liebe zum Detail stellt das 400 seitige Handbuch bereichernde und erfrischende Erkenntnisse für Weltverbesserinnen – individuell sowie gruppenkollektiv – dar. Eine Empfehlung für jeden politisch organisierten mit einem langfristigen angelegten Ziel des Engagements.

Was ist Nachhaltiger Aktivismus?

Das Buch basiert auf einer dreiteiligen Säule des Nachhaltigen Aktivismus, die auf der Harmonie von individuellen und kollektiven Resilienzen, also Widerstandskraft oder Schutzpanzer, mit vergangen Erfahrungen und Reflexionen von historischen und aktuellen Bewegungen beruht. Praktisch an den jeweiligen Kapiteln sind die vielen anwendbaren Tipps sowie weiteren Vorschlägen zu vertiefendem Interesse zu Themenabschnitte. Außerdem bemüht sich Timo Luthmann in seiner Darlegung auf Verständlichkeit für wissenschaftliche oder innerlinks codierten Wörtern durch klare Definitionen und einem Glossar im Anhang, wodurch dieses Buch für neu- sowie altaktive lesbar erscheint.

Darüber hinaus werden auf die verschiedenen Wurzeln des Nachhaltigen Aktivismus eingegangen, die von Bewegungsforschung über Psychologie hinzu spirituellen Traditionen reichen. Gerade für die stark kopforientierte Linke wird die Wichtigkeit von spirituellen Aspekten – vor allem in der individuellen Stärkung – wie zum Beispiel Meditation oder Atemübungstechniken nahegelegt, was zunächst möglicherweise einem als fremd erscheinen kann. Definiert wird Nachhaltiger Aktivismus nämlich als ,,ein Konzept, um Menschen bei der Entwicklung eines langfristigen politischen Engagements zu helfen und Nachhaltigkeit im eigenen Aktivismus zu erreichen“[1].

Individualismus vs. Kollektivismus?

Keineswegs scheut Timo Luthmann vor Kritik an der herrschenden kapitalistischen Gesellschaftsform. Er nennt sie sogar als Hauptursache für Burnout und einigen anderen psychischen Krankheiten, da das strukturelle Problem der Beschleunigung mit einem permanenten individuellen Verwertungszwang einhergeht. Die Stärke des Buches allerdings liegt darin daraus geleitet zu agieren, also zu erkennen, dass die individuell verschiedenen Ressourcen für politische Arbeit individuell sowie kollektiv nachhaltig gestaltet werden muss. Also die Organisierten sich einzeln um ihre eigenen Bedürfnisse kümmern sowie die Gruppenmitglieder gemeinsam Strategien und Mechanismen entwickeln, um langfristig konstant gearbeitet werden kann.

Individuell kann das bedeuten abhängig von der Lebenssituation (Materielle Sicherheit/Arbeit, Gesundheit, Beziehungen und Zeit) und der damit verbundenen Ressourcenlage so umzugehen, dass die eigenen Bedürfnisse nicht darunter leiden. Kollektiv kann das zum Beispiel heißen, ein vertrauensvolles Klima zu schaffen, in der offen über Kapazitäten, Belastung und Gefühle gesprochen werden kann. Es ist nicht schlimm sich bei einer Arbeit überschätzt zu haben, solange man dies innerhalb der Gruppe kommuniziert. Schlimmer wird es, wenn dies nicht erwähnt wird und so die Arbeit gelähmt wird. Wie wichtig somit eine interne offene Kommunikation für das politische Engagement ist, sollte klar sein.

Geduldiges Organizing statt ausbrennender Hyperaktivismus

,,Kurzfristig machen wir vielleicht weniger, aber langfristig schaffen wir mehr. Es geht nicht um oberflächliche schnelle Siege. Soziale Veränderung ist kein Sprint, sondern ein Marathon und deswegen ist Nachhaltiger Aktivismus notwendig, um auf lange Sicht politisch erfolgreich zu sein.“[2] Vielleicht mag da jemand sozialdemokratischen Reformismus reinlesen, doch verkörpert Timo Luthmanns Buch eine Strategie der revolutionären Realpolitik, da sie die Notwendigkeit von klar definierten kurzen und mittelfristig realistisch erreichbaren Zielen erkennt, aber klar macht, dass die große Systemfrage – das Überwinden von Kapitalismus und all seinen Unterdrückungsformen – das eigentliche Ziel ist, auf das man hinarbeitet und diese kleineren Erfolge psychologisch unerlässlich wichtig für langfristiges politisches Engagement sind.

Der Autor geht von einem organisierenden Politikansatz aus, also der Selbstemanzipation der Vielen, statt auf verkrustete hierarchische Strukturen oder Parlamentarismus. Das Entwickeln von vielen ,Führungspersonen‘, die abwechselnd verschiedene Funktionen innerhalb einer Gruppe übernehmen, stärkt die Gruppe als Ganzes, aber auch die einzelnen Mitglieder in ihrem Engagement. Somit hängt die Gruppe nicht von der Märtyrerarbeit einer einzelnen Person ab, sondern der der Vielen, was eine sehr wichtige Prävention von Burnout innerhalb von Gruppen darstellt. Die Wichtigkeit der Entwicklung von Leitungsrollen stellt er klar fest: „Wenn Führungs- und Leitungsrollen nicht öffentlich anerkannt werden, entstehen sie unausweichlich verdeckt und indirekt. Dies hat jedoch zur Folge, dass analog zur ‚Tyrannei der Strukturlosigkeit‘ verdeckte Herrschaftsmechanismen wirken und die positive Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten der Gruppe auf die Leitungsrollen beschränkt werden.“[3]

Praktisch als Handbuch nutzbar

Gut geeignet lässt sich das Buch für Klausurtagungen von Organisationen auch nutzen, da sehr viele verschiedene Aufgabenbereiche einer kontinuierlich arbeitenden Gruppe erklärt werden. So werden zum Beispiel hilfreiche praktische Tipps für die Funktion der Moderation, dem Umgang mit Konflikten innerhalb einer Gruppe, Finanzen oder dem Einberufen von regelmäßig stattfindenden Nachhaltigen Aktivismus Treffen geäußert. Gerade für neugegründete Basisgruppen kann dieses Buch den Prozess gut mitbegleiten und unterstützend wirken.

Kritisch an dem Buch anzumerken wäre vielleicht, dass in manchen Kapiteln der Autor zu stark sich im Detail verliert und perfektionistisch jeden einzelnen Punkt aufgreift, was vor allem für länger aktive Menschen als anstrengend bewahrheiten kann. Trotz alledem öffnet dieses Buch für Aktivistinnen und Aktivistenein sehr spannendes und neues Feld in der praktischen Arbeit und scheint eine gute Hilfe für Gruppen zu erfüllen. Ein wirklich sehr empfehlenswertes Werk, mit Potenzial für interne Lesekreise zur Verbesserung von Strukturen.

Erhältlich beim UNRAST Verlag für 19,80€: https://www.unrast-verlag.de/neuerscheinungen/politisch-aktiv-sein-und-bleiben-detail.


[1]Luthmann, Timo: Politisch aktiv sein und bleiben. Handbuch Nachhaltiger Aktivismus, Münster 2018, S. 23.

[2] Ebd. S. 62.

[3] Ebd. S. 341.

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