Von der 68er-Bewegung über bewaffneten Kampf und Knast bis zur Besetzung der Hamburger Hafenstraße und darüber hinaus: Anne Reiche bietet mit „Auf der Spur“ einen so informativen wie spannenden autobiographischen Einblick in linksradikale Geschichte.
Als Haschrebellin mit Mollis in Bewegung
Die damals 19-jährige Anne Reiche schloss sich 1966 in Berlin dem SDS an, dessen Bundesvorsitzender damals ihr Bruder Reimut war, nimmt engagiert an den Protesten des Jahres 1968 teil und lässt sich von der Stimmung dieser Zeit mitreißen:
„Die revolutionäre Bewegung hatte alle gesellschaftlichen Bereiche betroffen, inspiriert und verändert. Antiautoritäre Erziehung, Summerhill, Kinderläden, als nächstes müssen neue Schulen und Universitäten her. Eine politische Gegenkultur war entstanden, der Blues, Subkultur, Underground, subversiv. Verführerisch, anziehend, attraktiv, es roch nach Abenteuer. … Subkultur war nicht nur Musik und Haschisch rauchen, das waren Agitprop, Veranstaltungen und militante Aktionen, das war das gemeinsame öffentliche Rauchen, die Musik, das Straßentheater, politische Agitation und Propaganda, illegale Flugblätter verteilen, Straßenschlacht, Klassenkampf. Die Organisierung von Gegengewalt war angesagt, … mit Steinen, Schleudern, Ketten, Mollis. Der Gedanke, dass es geht, Revolution zu machen, hat viele ergriffen.“
Anne Reiche gründet die erste Frauenkommune mit, schließt sich den Haschrebellen und dem Blues an, wirft selbst die ersten Steine, entscheidet sich für den bewaffneten Kampf und organisiert sich in der »Bewegung 2. Juni«. 1972 landet sie wegen Bankraubs für zehn Jahre im Gefängnis, und der Knastkampf mit immer neuen Hunger- und Durststreiks gegen Kontaktsperren und Isolationshaft prägen diese Jahre, in denen sie sich dem Gefangenenkollektiv der RAF anschließt. Von Georg v. Rauch, mit dem sie eine Affäre hatte, bis zu Britta Mohnhaupt, mit der sie im Knast saß, werden viele Protagonist*innen dieser Jahre vorgestellt.
Studentenprotest, bewaffneter Kampf und Knast sind allerdings in der Literatur bereits ausführlich erforscht und auch autobiographisch intensiv ausgeleuchtet – anders als das antiimperialistische Milieu der 80er und seine Verbindung zur Hafenstraße, die Themen des zweiten Teil des Buches.
Antiimperialistisches Milieu der 80er
Nach ihrer Haftentlassung 1982 geht Anne Reiche nach Hamburg, um den von der RAF propagierten Aufbau einer antiimperialistischen Front in Westeuropa aus legalen Strukturen heraus zu unterstützen. Sie beteiligte sich am antiimperialistischen Frauenplenum in Hamburg und an den bundesweiten antiimperialistischen Städtetreffen, geht auf Kongresse und Demonstrationen dieser Szene und widmet sich intensiv der Betreuung inhaftierter RAFler*innen und der Unterstützung ihrer Hungerstreiks für eine Zusammenlegung – dabei unter ständigem Repressionsdruck und in Angst, wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung wieder im Gefängnis zu landen, lebend. Die Bewegung hatte sich im Vergleich zu den 70ern sehr gewandelt:
„Ich war auf etlichen Demos und vielen Treffen, gegen die Startbahn West, gegen Volkszählung, gegen Raketenstationierung und atomare Nachrüstung, auf dem Plenum gegen Munitionstransporte, aber alles hat keinen besonders bewegenden Eindruck auf mich gemacht. Es kam mir vor wie der Ausläufer einer vorherigen, größeren Bewegung. Es war immer gegen, immer anti. Das fing an, mir auf die Nerven zu gehen. Ich war auch gegen vieles und gegen das System als Ganzes, aber wofür kämpfen wir, was stattdessen? Das war doch viel interessanter. Das fehlte.“
Leider bleibt ihre Schilderung dieses Milieus eher farblos. Um so lebendiger beschreibt sie dafür ihr neues Leben als Hausbesetzerin.
Hausbesetzung in der Hafenstraße
Eine neue Perspektive findet sie in der Besetzung der Hafenstraße, in die sie bald zieht und wo sie glückliche Jahre verbringt:
„Es war für mich der Keim einer neuen Gesellschaft, einer besseren Welt, eines besseren Lebens. … In mir breitete sich ein neues Lebensgefühl aus. Ein ganz tiefes, das von ganz unten kam, von meinen Wurzeln. Als wäre die Saat von vielen Träumen aufgegangen, was für ein Glück, das zu sehen.“
Anfangs nur still besetzt, hatte die weitab von allen damaligen Hotspots der linksradikalen Hamburger Szene gelegene Hafenstraße zunächst keinen guten Ruf bei den politischen Strukturen, galt als versoffen und prollig. Aber die ständige Polizeischikane und häufige Fascho-Überfälle führten rasch zu einer Politisierung und immer militanteren Aktionen. Bald gingen die Bewohner nur noch mit Helmen auf Demos und sicherten ihre Häuser u. a. mit NATO-Draht gegen Angriffe aus Polizeihubschraubern. Nicht zuletzt Anne Reiches wegen galten die Häuser in den Medien bald als eine Art legaler Basis der RAF, und auch unter ihrem Einfluss wurden sie zu Trutzburgen des antiimperialistischen Kampfes in den Metropolen: Bei Staatsbesuch mit Hafenrundfahrt der Britischen Königin grüßten Transparente in Solidarität mit der IRA und INLA von den Häusern, Wandbilder riefen zur Unterstützung der RAF-Hungerstreiks, aber auch nach einem Boykott Israels – einer Forderung, deren Problematik sie nur am Rande thematisiert.
1987 spitzte sich die Situation bei den „Barrikaden-Tagen“ dramatisch zu, erst in letzter Minute konnten Räumung und brutaler Häuserkampf durch ein – von Anne Reiche abgelehntes – Verhandlungsangebot verhindert werden. Immer mehr Energie geht in der Folgezeit in die Instandhaltung der Häuser, die politischen Strukturen zerfallen allmählich wieder, die Hafenstraße wird schließlich mit einem – ebenfalls von Anne Reiche abgelehnten – Genossenschaftsmodell legalisiert und zu einem quasi normalen Wohnprojekt:
„Unser Zusammenhang war zerbröselt in Kleingruppen und Zweierbeziehungen, in unterschiedliche Aktivitäten, in WGs, ins Privatleben. Der gemeinsame Boden war sehr dünn geworden. … Wir waren hier, wir hatten erkämpft und durchgesetzt, dass wir bleiben können, aber unser innerer Zusammenhalt existierte praktisch kaum noch.“
Politdepression und Sinnkrise
Zunehmend deprimiert von der Entpolitisierung des Hafens, des Endes der RAF nach Bad Kleinen und dem gesellschaftlichen Rollback nach dem Zusammenbruch des Ostblocks trifft sie die Trennung von ihrem Freund schwer:
„Als ich gepeilt habe, dass es ernst war, habe ich mich völlig in das Psychogestrüpp des Verletztseins der Verlassenen reingesteigert, mich mit Leidenschaft in mein Leiden verstrickt. Es hat Monate gedauert, bis ich wieder etwas Nützliches machen wollte und konnte.“
Als dann mit Rio Reiser auch noch ihr engster Freund stirbt, bricht sie mit Anfang 50 zusammen:
„Ich fühlte mich trostlos und unfähig, neue Vorstellungen zu entwickeln. … Ich wollte was machen, worauf ich Lust hatte, aber mir fiel nichts ein, wofür es sich zu kämpfen gelohnt hätte. Ich wollte nicht mehr kämpfen, das war’s. Wozu kämpfen, ich will nicht immer kämpfen müssen. … Ich war völlig ausgebrannt und leer. Ich konnte und wollte nicht mehr weitermachen wie vorher, es ging nicht. Aber ich konnte mir keine Vorstellung davon machen, was und wie ich weiter machen wollte.“
Aber sie bleibt radikal und unversöhnlich und lässt ihr Buch entsprechend mit dem Hamburger G20-Protest 2017 enden, dessen Randale die bei den Ereignissen schon über 70-Jährige begeistert feiert:
„Die Bullen wurden angegriffen, immer wieder, bis sie zurückgeschlagen waren. … Die Barrikaden brannten stundenlang lichterloh, hell und hoch, sie wurden ständig befeuert. … Diese Intensität aus Freude, Mut und Entschlossenheit war ein Glücksgefühl. … Das Leuchtfeuer wurde überall auf der Welt verstanden, wo Menschen aufstehen. Es drang bis in die Knäste Europas.“
Wer auf der Suche nach einem spannenden und gut lesbaren autobiographischen Zugang zu diesem Strang linksradikaler Geschichte ist, wird an dem 270-Seiten-Buch, das für 15 Euro hier von edition cimarron zu beziehen ist, sicher einige Freude haben.
Florian Wilde ist Historiker und linker Aktivist. Mehr vom Autor auf seinem Blog »WildeTexte«: https://wildetexte.florianwilde.org
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