Die Bologna-Reform hat das Studieren fundamental verändert. Doch seit dem Scheitern anfänglicher Proteste von Studierenden sind kritische Stimmen beinahe verstummt. Das muss sich ändern.
Partys, Freizeit, selbstbestimmt leben und lernen. Das sind Bilder, die Menschen oft über das Studieren im Kopf haben. Die Realität sieht anders aus: Überfüllte Seminare, kleinteilige und undurchsichtige Prüfungsordnungen, eine abstrus kurze Regelstudienzeit, mangelhafte Betreuung durch Lehrende, unterfinanzierte Fachbereiche. Die Party fällt flach, weil man Freitag nach einer langen Uni-Woche arbeiten muss, um das Studium zu finanzieren. Dazu kommt, dass die Pandemie eine ganze Generation von Studierenden hervorgebracht hat, die erst seit dem Sommersemester 2022 Seminare in Präsenz besuchen konnten.
Als Ursache für die prekären Studienbedingungen und die Probleme im Universitätsbetrieb wird in kritischen Auseinandersetzungen die Bologna-Reform ausgemacht. Doch was ist im Zuge von Bologna eigentlich geschehen und welche Konsequenzen hat diese Reform für unser Studium heute, 20 Jahre nach der Implementierung?
Ein kurzer Blick in die Geschichte
Die Bologna-Reform ist nur vor dem Hintergrund der zunehmenden Dominanz der neoliberalen Ideologie in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu verstehen. Diese propagiert seit den 1970ern die Deregulierung der Finanzmärkte und die Privatisierung von öffentlichen Gütern. So gerieten auch die Hochschulen durch den Wunsch nach der Steigerung internationaler Wettbewerbsfähigkeit in den Fokus der EU. Die Konsequenz daraus waren Forderungen nach erhöhter Mobilität, Vergleichbarkeit und Harmonisierung der Abschlüsse sowie arbeitsmarktbezogener Qualifizierung.
Im Jahr 1999 unterzeichneten zunächst 29 EU-Staaten die Bologna-Erklärung, um einen gemeinsamen europäischen Hochschulraum zu schaffen. Weil die EU über keine Kompetenz im Bildungsbereich verfügt, war diese Erklärung nie rechtsverbindlich, und die einzelnen EU-Staaten setzten sie unterschiedlich um. In Deutschland, wie in vielen anderen Staaten, beinhaltete dies vor allem die folgenden Punkte: ein zweigliedriges Studium, also die Einführung des Bachelor- und Mastersystems; den Ausbau des EU-Austauschprogramms ERASMUS; ein Leistungspunktesystem (ECTS) und ständige Maßnahmen zur Qualitätssicherung wie Akkreditierungen von Studiengängen und Evaluationen.
Der Rückgang der Grundfinanzierung bei gleichzeitigem Ausbau des Drittmittelsektors sowie der laufzeitgebundenen staatlichen Finanzierung geschah parallel, wenn auch nicht im Zuge von Bologna. Die Änderungen sorgten für weniger Geld und eine ungleiche und bürokratische Verteilung der noch vorhandenen Mittel. Auch die Einführung der sogenannten Exzellenzinitiative, der Abbau von Stellen im akademischen Mittelbau und das Wissenschaftszeitvertragsgesetz zählen dazu.
Uni als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse
Der Sozialwissenschaftler Alex Demirović hebt hervor, dass Universitäten den Prozess der Erkenntnis, der Wissensverarbeitung und -verbreitung organisieren. Sie sind Ausdruck von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Im Zuge der Neoliberalisierung sollten auch Universitäten nach dem Vorbild von wettbewerbsfähigen Unternehmen in eigenständige Akteure umgebaut werden. Doch die neoliberalen Reorganisationsversuche haben vieles zum Schlechteren verändert und die Lehr- und Studienfreiheit weiter eingeschränkt als je zuvor.
Während es zu einer zunehmenden Akademisierung von breiten Gesellschaftsschichten kam und die Studierendenzahlen Jahr für Jahr weiter stiegen, entsprach dies dem Wachstum der Ausstattung auf Seite der Hochschulen nicht. Sie sind unterfinanziert, die Gebäude unzulänglich und der Umfang des wissenschaftlichen Personals für die Lehre ist zu klein. Für alle ist dies kein guter Zustand, aber besonders Studierende aus einem nicht-akademischen Kontext werden dadurch an Hochschulen allein gelassen.
Wenn das Studium nicht finanziert wird, die Organisation nicht transparent und der Lehrstoff nicht übersichtlich gegliedert ist, hat das Studium einen abschreckenden Effekt.
Als das BAföG 1971 eingeführt wurde, erhielten 47 Prozent der Studierenden eine Förderung. Mittlerweile sind es nur noch elf Prozent. Etwa ein Drittel aller Studierenden lebt unterhalb der Armutsgrenze, unter BAföG-Beziehenden sind es sogar 45 Prozent. Auch die Mobilitätserfahrung durch das ERASMUS-Programm muss man sich erst einmal leisten können. Strenge Regelstudienzeiten erschweren es zudem, nebenher berufstätig zu sein. Durch die Arbeitsmarktorientierung müssen schließlich sogenannte »Soft Skills« durch Praktika erlernt werden, die in den meisten Fällen nur gering oder gar nicht bezahlt sind.
Widerspenstige Praktiken
Währenddessen schreitet die Neoliberalisierung des Bildungswesens auf globaler Ebene weiter voran. So wird mittlerweile die Vereinheitlichung der Studienabschlüsse auf globaler Ebene angestrebt. Gerade für Menschen aus dem globalen Süden, deren Abschlüsse in Deutschland nicht anerkannt werden, kann dieses Vorhaben natürlich auch positive Aspekte bieten. Gleichzeitig zeigen sich bereits Tendenzen eines Bildungsimperialismus globaler Ausmaße: Die sogenannte Harmonisierung marginalisiert Wissen aus dem globalen Süden, zerstört lokale Bildungstraditionen und erzwingt eine einseitige Anpassung an den globalen Norden – vor allem an das amerikanische Universitätssystem. Der voranschreitenden Anpassung der Universitäten an den Markt muss etwas entgegengesetzt werden, sonst werden Mittelkürzungen, Anwendungsorientierung, Wettbewerbs- und Profitlogik das Studium letzten Endes unzumutbar machen.
Seit den großen Bildungsstreiks 2009 gab es keine größeren studentischen Proteste mehr. Zwar wurde sich – teilweise auch erfolgreich – gegen einzelne Landeshochschulgesetzreformen gewehrt, aber der neoliberale Umbau wird kaum noch grundsätzlich in Frage gestellt. Um die eigenen Schwierigkeiten im Studium mit einer systemischen Kritik an den Verhältnissen verbinden zu können, braucht es Räume für Diskussionen darüber, wie Universitäten und Studienbedingungen gestaltet werden sollen. Das Thema muss wieder in seiner ganzen Breite präsent werden, um jenen dienen zu können, die in den Universitäten studieren und arbeiten.
Das Kollektiv Organisierte Halbbildung fordert euch auf, unter #OrganisierteHalbbildung über eure Erfahrungen mit dem Studium zu twittern, sich auszutauschen und zu organisieren. Ob auf Twitter oder im Seminar, es wird Zeit, die Missstände des Universitätssystems auf die Tagesordnung zu setzen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der aktuellen critica.