Präsident Maduro im Schatten des venezolanischen Volksidols Hugo Chávez, Foto: Entorno inteligente

Venezuelas demokratische Nagelprobe

Venezuela – wieder so ein Land, das aufgrund seines Rohstoffreichtums zu eines der reichsten Länder gehören könnte. Dennoch macht das südamerikanische Land zwischen Anden und Karibik mittlerweile weltweit mehr Negativschlagzeilen. Kein Land der Welt verfügt über so viel Rohöl, nicht mal Saudi-Arabien. Außenpolitisch scheint es aber relativ isoliert, wirtschaftlich am Abgrund und politisch tief gespalten, so sieht die ernüchternde, aber ehrliche Bilanz Ende 2015 aus.

Die Parlamentswahlen Anfang Dezember brachten klare Verhältnisse. Der Mitte-Rechts-Opposition ist es überraschend gelungen, die seit 17 Jahren regierenden Sozialisten unter Präsident Nicolás Maduro zu besiegen. Das Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, das Maduros charismatischer Vorgänger und Namensgeber des so-genannten Chavismus, Hugo Chávez, eingeführt hat, steht vor immensen Problemen. Seit dem Tod des fast personalistisch verehrten Staatsführers im Jahre 2013 hat der wirtschaftliche Niedergang und damit auch die politischen Konflikte rasant zugenommen.

Die Inflation liegt bei eta 200 Prozent, der Ölpreis so gering wie lange nicht mehr, was Venezuela in eine bedrohliche Krise gestürzt hat, denn nahezu der ganze Export (96%) liegt dem Öl zugrunde und das lässt sich seit geraumer Zeit kaum noch profitbringend verkaufen. Die damit seit über 15 Jahren finanzierten Sozialprogramme der Chávez- und jetzt Maduro-Regierung sind kaum noch zu stemmen. Investitionen in andere Bereiche blieben größtenteils aus, auch die Industrie ist vergleichsweise einfältig strukturiert.

Venezuela muss aufgrund seines unbalancierten Wirtschaftssystems die meisten Güter des täglichen Bedarfs importieren, dazu gehören auch Nahrungsmittel wie Milch, Öl, Fleisch und Mehl. Produkte wie Shampoo, Waschmittel, Toilettenpapier, und Arzneimittel sind derartig knapp geworden, dass sich kilometerlange Schlangen vor den Supermärkten bilden und dann trotz Wartens die meisten Menschen leer ausgehen. Lebenswichtige Importe kann die Regierung immer weniger sicherstellen und die Staatsverschuldung ist stetig angestiegen. Lebensmittelknappheit im 21. Jahrhundert, unter einer sozialistischen Führung, die selbst die höchsten ideellen Ansprüche an sich und das Land stellen, ist für die BürgerInnen schlichtweg inakzeptabel.

Erschreckend hat sich auch die Sicherheitslage entwickelt. Die Hauptstadt Caracas gilt als eine der gefährlichsten Städte der Welt mit 140 Morden auf 100.000 Menschen im Jahr. Berlin, im Vergleich dazu, verzeichnet nur etwa 3 Morde. So steht Venezuela nun an der Spitze der Länder mit der höchsten Kriminalität, zusammen mit Honduras. Experten schätzen, dass ca. 15 Millionen (!) unregistrierte Handfeuerwaffen in Venezuela im Umlauf sind, hauptsächlich innerhalb der colectivos, also selbstgeschafften Bürgereinheiten in den verschiedenen barrios. Wenig tröstlich ist, dass andere lateinamerikanische Staaten wie Mexiko oder die Dominikanische Republik mit ähnlich katastrophalen Umständen zu kämpfen haben.

Und so brachte die Parlamentswahl einen klaren Sieger hervor: Das Oppositionsbündnis MUD (Mesa de la Unidad Democratica, zu deutsch: „Tisch der demokratischen Einheit“) um Leopoldo López aus dem Mitte-Rechts-Spektrum. Dieses sieht sich nun mit einer 2/3-Mehrheit in der venezolanischen Nationalversammlung ausgestattet, mit der sie Dekrete des Präsidenten blockieren, Verfassungsänderungen durchsetzen, und hohe Positionen in der Justiz besetzen können. Die sozialistische PSUV von Präsident Maduro sieht die chavistische Revolution und all ihre Errungenschaften in Gefahr. Auch deshalb zeigt sich Maduro wenig kooperativ und kündigt stattdessen an, gegen die konservative und wirtschaftsliberale MUD kämpfen zu wollen, denn eine Zusammenarbeit und ein Zusammenleben „mit der Bourgeoisie [oder] dem Imperialismus“ sei nicht möglich. Ob die Verurteilung López‘ im vergangenen Oktober zu 14 Jahren Haft der PSUV dabei nützen wird, ist unklar.

Um Venezuela heute zu verstehen, ist ein Blick in die Vergangenheit des Landes aber unabdingbar, denn auch hier ist die Komplexität der Zusammenhänge zu betonen. Nichts ist so einfach, wie es erscheint und die schlechte Gesamtlage ist sicherlich nicht nur Chávez, Maduro und der PSUV anzukreiden. Venezuela ist seit den 1920er Jahren ein vom Öl abhängiges Exportland, das andere Produkte nun mal importieren muss. Das ist grundsätzlich noch kein ökonomisches Problem, wäre da nicht der extrem tiefe Ölpreis von etwa 45 US-Dollar pro Barrel. Venezuelas Politik der Importe und der subventionierten Sozialprogramme funktioniert aber Wirtschaftswissenschaftlern zufolge nur bei einem stabilen Ölpreis von etwa 100 US-Dollar pro Barrel. Davon ist die Welt derzeit weit entfernt.

Bereits die Vorgängerregierungen in den vergangenen Jahrzehnten tragen eine Mitschuld an Venezuelas Lage heute. Parteikartelle, Bereicherung der herrschenden Elite, eine nach dem „Washington Consensus“ ausgerichtete neoliberale Wirtschaftsordnung sorgte für große soziale Unterschiede, die die Armut und die Machtlosigkeit der Bevölkerung immer weiter zu verschärfen drohte, bis Hugo Chávez kam Ende der 1990er Jahre. Sein Wahlsieg 1998 läutete nicht nur in Venezuela eine neue Era ein, der „Chavismus“ wurde Staatsideologie und weitere Länder in Südamerika widerstanden der neoliberalen Verlockung nur bestimmte Schichten reich und mächtig zu machen. Dazu zählen heute unter anderem Ecuador, Bolivien oder Uruguay, die auch von links regiert werden. Durch lose Staatenbunde wie ALBA und Petrocaribe organisierte sich Venezuela auch abseits der Hauptorganisationen OAS, Mercosur oder OPEC, in der man auch Mitglied ist, separat.

Chávez, der sich den lateinamerikanischen Unabhängigkeitshelden Simon Bolívar als Vorbild nahm, hatte Großes vor. Er wollte die Armut reduzieren, das ökonomische und politische Monopol wieder voll dem Staate übertragen. Davon waren auch Privatisierungen betroffen, die im Rahmen von Enteignungen und Kollektivierung zentral in Caracas geregelt werden sollten. Die „bolivarische Revolution“ hatte tatsächlich revolutionäres vor. Der „Plan Bolívar 2000“ sah vor, den Lebensstandard der VenezolanerInnen signifikant zu verbessern und in einigen Bereichen ist es den Chavisten nachweislich gelungen. Die Armutsrate sank zwischen 1999 von 49% auf unter 30% in 2013. Die Schulbesuchsquote stieg von 48% auf 72% innerhalb der genannten Periode. Mithilfe des verbrüderten „Nachbarlandes“ Kuba werden Bildungs- und Alphabetisierungsraten kontinuierlich verbessert. Auch das Pro-Kopf-Einkommen (BIP) verzeichnete einen Anstieg von 14.000 auf 16.000 USD.

Die fast religiöse Verehrung Chávez durch weite Teile der Gesellschaft ist aber auch nicht einfach an seiner Sozialpolitik festzumachen, denn Chávez war mehr als nur der „Anwalt der Armen“. Es entstand viel mehr eine inhärente Logik für die von den Politikern bislang so enttäuschten WählerInnen. Er verstand es, die Hoffnungen auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Weiterentwicklung allein auf die von ihm getaufte „bolivarische“ sozialistische Revolution und seine Person selbst zu projizieren. Keinem Mann vertraute das Volk mehr, auch wenn das Konstrukt des venezolanischen Sozialismus streng genommen nicht ganz richtig ist. Venezuelas Wirtschaftsform ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht sozialistisch, sondern durchaus marktkapitalistisch, da das Öl mit der USA einen unerwarteten Hauptabnehmer hat und der Staat einfach ein Monopol ausübt.

Mit dem Tod Chávez fing auch die „bolivarische Revolution“ an zu bröckeln. Nachfolger Maduro vermochte es nie, einen ähnlichen Status zu erreichen, innenpolitisch tritt er unversöhnlich und spaltend auf, außenpolitisch begab er sich auch auf fragwürdigen Boden, in dem er vermutete, die USA habe Chávez vergiftet und so seinen Krebstod verursacht, oder besonders eng mit Iran, China, Syrien oder Weißrussland verkehrt hat.

Nun ist das nicht entscheidend für die Menschen in Venezuela, es zeigt aber, dass speziell Maduro ein zumindest kritikwürdiges Verständnis von Demokratie hat. Eine eventuelle Abwahl seinerselbst durch die neue Oppositionsmehrheit kontert er mit eines möglichen Militärputsches, sollte die „rechte Konterrevolution“ die „Bolivarische“ beseitigen. Auch der Umgang mit Oppositionspolitikern, Medien und der wenig existenten Privatwirtschaft hat wenig mit demokratischer und umsichtiger linken Politik zu tun. Die PSUV hatte leider viel zu häufig Schwierigkeiten die politisch und soziale Vielfalt seines eigenen Landes so anzuerkennen, dass oppositionelle Meinungen und deren repräsentative Kräfte den demokratischen Spielregeln nach eingebunden und respektiert werden.

Das sind mit Sicherheit große Fehler, die sich Venezuelas Sozialisten vorwerfen lassen müssen. Korruption und Vetternwirtschaft war und ist auch bei der PSUV Gang und Gäbe, solche Praktiken widersprechen aber echten links-alternativen Politikansätzen, mögen sie nun Sozialismus heißen oder nicht. Mit den hohen moralischen Standards eines Sozialismus kann Maduro und die PSUV schon lange nicht mehr mithalten, zu sehr ist die Spaltung Venezuelas vorangeschritten, siehe letzte Wahl, und die Angst die Macht zu verlieren, ist groß in Caracas. Verschärfte Rhetorik wird Maduro nicht vor einer demokratischen Auseinandersetzung mit der neu-erstarkten Mitte-Rechts-Parlamentsmehrheit schützen.

Angesichts der Fülle von Problemen, aber auch des Potenzials diesen Landes, ist es höchste Zeit für Venezuelas Mächtige, wieder Vernunft walten zu lassen, sonst ist der Weg nach unten vorgezeichnet. Die bolivarischen Errungenschaften und die Vision einer anders gearteten links-solidarischen Gesellschaft, die nicht der zunehmenden neoliberalen Selbstzerstörung nacheifert, könnten hier die Basis sein.

Martin Dudenhöffer, Universität Aalborg, Dänemark

 

 

 

 

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