Bewaffnete Einheiten sind keine Lösungen für soziale Probleme. Sie gehören durch gewaltfreie und zivile Konzepte ersetzt. Möglich wär‘s.
Es war eine laue Sommernacht in Ostbrandenburg vor einigen Jahren. Nach dem Feiern liefen wir durch den Wald zurück nach Hause. Ein Dutzend Nazis kam uns entgegen. Die eine Hälfte prügelte auf meinen Kumpel ein, die andere Hälfte auf mich. Meine Freundin brüllte sich die Seele aus dem Leib und tat ihr Bestes. Irgendwann kam die Polizei. Die Nazis verschwanden im Wald. Seitens der Staatsgewalt keine Anstalten, auch nur einen von ihnen zu packen. Keine zwei Minuten später lag ich an diesem Abend zum zweiten Mal mit dem Gesicht im Staub, zu Boden geschlagen von einem Polizisten, die Hände mit Kabelbindern hinterm Rücken gefesselt, Knie im Nacken.
Die Polizei landet nicht vor Gericht
Ich habe oft am eigenen Leib Polizeigewalt erfahren oder bei anderen bezeugt. Die Geschichte oben gehört zu den harmloseren. Absolute Unverhältnismäßigkeit auf Demos und im Alltag. Belästigungen, Schläge, Tritte, Gewalt jeder Art, Herablassung. Obsession mit der Macht, die Uniform und Schusswaffe für einen Moment verleihen. Alles Einzelfälle? Anekdotische Evidenz kann schließlich nichts Systematisches belegen.
Wer mit offenen Augen durchs Leben läuft, erkennt recht schnell die Ausmaße von Polizeigewalt in Deutschland, die Straffreiheit der Täter*innen und die Komplizenschaft der Politik an alldem. Ein besonders spektakuläres Beispiel, der G20-Gipfel in Hamburg Anfang Juli 2017: Eine Flut an Fotos und Videos exzessiver Polizeigewalt gegen Demonstrierende verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die Weltpresse. Sinnlose Einsätze von Pfefferspray und Wasserwerfern, Gewaltexzesse jeder Art für uns alle auf YouTube und Twitter einsehbar. „Polizeigewalt hat es nicht gegeben“, meint hingegen Olaf Scholz (SPD), damals Hamburger Bürgermeister, über die Orgien „seiner“ Polizei und macht sich so zum Komplizen der Gewalt. „Die haben alles richtig gemacht und einen heldenhaften Einsatz zustande gebracht“, so Scholz weiter. Rückendeckung auch von Bundespräsident Steinmeier, medial geschickt platziertes Händeschütteln mit der Polizei.
#dankeOlaf #nog20 pic.twitter.com/2VPgttExoB
— G20 in Hamburg (@g20hh) July 7, 2017
Aufgrund der erdrückenden Online-Beweislast wurden 169 Verfahren gegen Polizist*innen eingeleitet, allerdings offensichtlich zur Täuschung der Öffentlichkeit, denn die allermeisten davon wurden mittlerweile eingestellt – keine einzige Anklage, geschweige denn eine Verurteilung. „Das Signal, das von Hamburg ausgeht“, schreibt netzpolitik.org, „ist fatal: Polizist:innen können sich sicher sein, dass sie selbst in eindeutigen Fällen keine Strafverfolgung zu befürchten haben und dabei die Rückendeckung der Politik genießen.“
Wir haben es in Hamburg nicht etwa mit einer Ausnahme in einem normalerweise funktionierenden System gegen Exzesse der Exekutive zu tun – nein, Hamburg ist die Regel: Eine systematische Untersuchung der Uni Bochum aus dem letzten Jahr ergab, dass es in Deutschland mindestens 12.000 mutmaßliche Fälle von Polizeigewalt pro Jahr gibt – im Schnitt also 33 jeden Tag. Von den Staatsanwaltschaften werden davon lediglich rund 2.000 überhaupt bearbeitet, 83 Prozent der Fälle von Polizeigewalt landen also nicht einmal auf irgendjemandes Schreibtisch. Dies liegt einerseits daran, dass Staatsanwaltschaften ihr Verhältnis zur Polizei, die ihnen routinemäßig ja zuarbeitet – nicht belasten wollen. Und andererseits daran, dass viele Menschen Angst haben, Polizist*innen anzuzeigen, oder schlicht keinerlei Vertrauen darauf, dass etwas dabei herauskommt. Weniger als 2 Prozent der 2.000 staatsanwaltschaftlich bearbeiteten Fälle werden letztlich überhaupt vor Gericht verhandelt, sage und schreibe weniger als ein Prozent führt zu einer Verurteilung.
Es ist also fair zu sagen: Polizeigewalt – selbst wohldokumentierte und extrem brutale Fälle gegen unbewaffnete Personen, die keinerlei Gefahr darstellen – hat keine rechtlichen Konsequenzen für die Täter*innen. Polizei und Justiz begreifen die Bevölkerung, die sie beauftragt sind zu schützen, als Freiwild.
Eine taz-Kolumnistin treibt Seehofer zur Weißglut
Im Zuge der Proteste in den USA nach der Ermordung von George Floyd, der von einem Polizisten in Minneapolis durch 8 Minuten 46 Sekunden Knie auf Hals ermordet wurde, wurde das Netz durch besonders schreckliche Beispiele von Polizeigewalt regelrecht überflutet: Eine junge Frau wird erst von hinten an ihre Brüste gegrabscht, dann von zwei Polizisten mit Schlagstöcken bearbeitet, bis sie zu Boden geht. Ein 75-jähriger Friedensaktivist wird von zwei Beamten zu Boden gestoßen, schlägt mit dem Kopf auf den Beton und fängt sofort an, aus den Ohren zu bluten. Zwei Polizeiautos fahren in eine Menschenmenge hinein – in Nizza nennen wir sowas islamistischen Terror, in Charlottesville Naziterror: Wie nennen wir das, wenn Polizisten in New York Terroranschläge begehen?
Im Geiste dieser Videos schrieb taz-Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah kürzlich ihre auf Klickzahlmaximierung ausgelegte Satire „All cops are berufsunfähig“, in der sie darüber sinniert, wenn die Polizei, nicht aber der Kapitalismus abgeschafft würde, „in welche Branchen kann man Ex-Cops dann überhaupt noch reinlassen?“ „Schließlich“, so Hengameh, „ist der Anteil an autoritären Persönlichkeiten und solchen mit Fascho-Mindset in dieser Berufsgruppe überdurchschnittlich hoch“. Spontan falle ihr die „Mülldeponie“ ein: „Unter ihresgleichen fühlen sie sich bestimmt auch selber am wohlsten.“
Die taz-Kolumne ist infantil und hat keinen journalistischen Wert, doch Innenminister Horst Seehofer (CSU) verfiel derart in Rage, dass er – stilecht, im Interview mit der rechten BILD – ankündigte, die Autorin anzuzeigen. Vier Tage benötigte er, um sich diesen unerhörten Angriff auf die Pressefreiheit wieder aus dem Kopf zu schlagen, doch bestellte er die taz-Führung zur Standpauke ins Innenministerium ein. Dass die taz-Redaktion, das „Gesprächsangebot“ annehmen will, wenn auch an einem anderen Ort, ist in meinen Augen eine Blamage für das ehemals kämpferisch linke Blatt. Dass der Innenminister nicht etwa die Verantwortlichen ähnlich reichweitenstarker rechter Hetzmedien zum Spießrutenlauf einbestellt, sondern wegen einer im Grunde harmlosen Anti-Polizei-Polemik vor Wut kocht, ist eine Bankrotterklärung seiner Person und seines Amtes. Was für eine absurde Geschichte. Nun gut.
Die Republik ist außer sich wegen der Kolumne. Polizeivertretungen stellen Strafanzeige, Hunderte Beschwerden und Dutzende Anzeigen beim Presserat, die taz-Führung distanziert sich zum Teil von Text und Autorin, CSU und andere Rechte und etatistisch Bürgerliche schäumen vor Wut, Merkel merkelt herum. „Wie radikal darf links sein?“, fragt die Zeit im Kontext der taz-Kolumne. „Radikal“ will vom Wortstamm her bekanntlich an die „Wurzel“ von Problemen, weshalb die Fragestellung überhaupt keinen Sinn macht: Wenn etwas nicht radikal ist, ist es auch nicht links, liebe Zeit. Jede*r mag von Hengamehs Clickbait-Stil und reißerischem Gehabe der Kolumne halten, was sie oder er mag, doch die zugrunde liegende Prämisse ist von fundamentaler Bedeutung: Die Polizei als staatsgewaltliche Institution gehört abgeschafft. Nicht über Nacht und natürlich nicht ersatzlos gestrichen. Schritt für Schritt, gesellschaftliche Umstürze revolutionären Ausmaßes funktionieren bekanntlich nicht von heute auf morgen.
Entwaffnung der Polizei
2019 wurden in Deutschland 5,4 Millionen Straftaten registriert – der niedrigste Wert seit 1992. Von dieser Gesamtzahl fallen gerade einmal 3,3 Prozent in die Kategorie „Gewaltkriminalität“, die etwa Mord, Vergewaltigung und schwere Körperverletzung umfasst. Die Zahl wird so in den Statistiken nicht publiziert, doch gehört von diesen 3,3 Prozent gewiss wiederum nur ein Bruchteil in die Kategorie „auf frischer Tat ertappt“ – in der also auch nur die theoretische Möglichkeit besteht, dass der Einsatz polizeilicher Zwangsmittel überhaupt irgendetwas am Verlauf eines Gewaltverbrechens ändern könnte.
Warum trägt also jede*r Polizist*in dauerhaft eine potentielle Mordwaffe mit sich herum? Fühlst Du dich beim täglichen Anblick von Mordwerkzeug sicherer?
In Bayern und bei uns in Sachsen dürfen Polizist*innen Handgranaten gegen Personen einsetzen – Handgranaten! Fühlst Du dich beim Anblick von kleinen Bomben etwa sicherer?
Das wäre der erste von vielen Schritten, der in kürzester Zeit in allen Bundesländern umgesetzt werden könnte: Entwaffnung der Polizei. Das mag in einigen fantasielosen Köpfen absurd und unmöglich realisierbar klingen, doch gibt es insgesamt 18 Länder auf der Welt, in denen die Polizei bereits heute standardmäßig unbewaffnet unterwegs ist. Darunter insulare Zwergstaaten wie Vanuatu und Nauru, doch auch Norwegen, Neuseeland, Malawi, Irland, Botswana und selbst Großbritannien. In Island wurde 2013 die erste und einzige Person seit der Unabhängigkeit 1944 von der Polizei erschossen. (In der Netflix-Serie Valhalla Murders wird die Nichtbewaffnung der isländischen Polizei in einer Schlüsselszene eindrucksvoll thematisiert.)
In den USA hingegen werden jedes Jahr rund 1.000 Menschen von der Polizei getötet, die in Auftreten und Bewaffnung mehr und mehr dem US-Militär gleicht. Nachdem Bill Clinton 1997 das entsprechende Gesetz erließ, wurde militärische Ausrüstung vom Pentagon in Milliardenhöhe an Polizeikräfte übertragen, obwohl wissenschaftlich gesichert ist, dass die zunehmende Militarisierung der Polizei auch direkt zu zunehmenden Tötungen durch ebendiese Polizei führt. Wir haben es mit einem kulturellen Problem zu tun, wenn Kriegsrhetorik „nach Hause“ gebracht und der Einsatz von Waffengewalt als legitime „Lösung“ für zivile Probleme dargestellt wird: Dem „War on Terror“ gingen der „War on Drugs“, der „War on Crime“ und der „War on Poverty“ voraus.
Ganze Bevölkerungsteile werden so zu Kriegsfeinden erklärt – und mit welchen Mitteln werden Kriege geführt?
Wer mutmaßliche Verbrecher erschießt, braucht sich nicht mit den Ursachen der mutmaßlichen Verbrechen auseinandersetzen, ein Extrembeispiel: Der megalomanische Präsident der Philippinen Rodrigo Duterte hat seit Beginn seiner Schreckensherrschaft 2016 Zehntausende Menschen in seinem „Drug War“ exekutiert – denkt irgendjemand ernsthaft, dass so dem Drogenkonsum begegnet werden kann?
Die Entwaffnung der Polizei wäre der erste kurzfristige Schritt, die Abschaffung der Institution Polizei als Ganze muss das mittelfristige Ziel sein.
Abschaffung der Polizei
Angestoßen durch den Mord an George Floyd werden solche Konzepte sogar in den waffenüberschwemmten USA nun breit diskutiert. In jedem Unglück liegt bekanntlich immer auch eine Chance auf Wandel. Erwartungsgemäß von der US-Linken, doch selbst in der zentristischen New York Times finden unterdessen Stimmen Gehör, die unter dem Stichwort Police Abolition Alternativen zum Dogma Polizei diskutieren.
Anarchist*innen erarbeiten seit Anbeginn der Zeit tragfähige, nachhaltige Konzepte, wie Gesellschaft ohne Staatsgewalt und damit ohne Polizei organisiert werden kann.
Doch wir haben gesamtgesellschaftlich die Lösung sozialer Probleme im großen Stil an Menschen mit Schusswaffen ausgelagert, die dafür weder Eignung noch Ausbildung aufweisen. Die Polizei dringt in Lebensbereiche vor, in denen sie nichts verloren hat, etwa in die natürlichen Domänen von Sozialarbeit, Gesundheitssystemen, Seelsorge, Community, Mediation, Drogenberatung, und in viele andere.
Ein Meth-Konsument braucht – bei Bedarf – eine gute Sozialarbeiterin, keinen Polizisten. Ein Gewalttäter braucht einen guten Therapeuten, keine Polizistin; und dessen Opfer braucht medizinische Versorgung, Seelsorge und eine starke Community, die sie auffängt. Und eine Obdachlose braucht keinen Polizisten, der sie von ihrem Schlafplatz vertreibt, sondern bei Bedarf eine temporäre oder dauerhafte Unterkunft und öffentliche Versorgung, oder eben einfach dich, dass Du ab und zu was zu essen vorbeibringst.
In Minneapolis, wo George Floyd ermordet wurde, hat der Stadtrat jetzt die Auflösung der bestehenden Polizei beschlossen, in einer vetosicheren 9-zu-4-Abstimmung. Die jetzige Polizeibehörde soll nicht einfach neu aufgebaut, sondern mittelfristig durch ein neuartiges gemeinschaftsbasiertes System öffentlicher Sicherheit ersetzt werden. Lisa Bender, die Präsidentin des Stadtrats, erklärt: „Unser Commitment ist es, das Polizeisystem, wie wir es kennen, zu beenden und Systeme öffentlicher Sicherheit wiederherzustellen, die uns tatsächlich schützen.“ Auch wenn Äußerungen über die Beschaffenheit dieses neuen Systems noch eher vage sind: Eine US-amerikanische Großstadt beschließt die Auflösung ihrer Polizei, was ein historischer Schritt in die richtige Richtung ist.
Wir müssen Probleme von unten an ihren Wurzeln packen und nicht von oben auf sie einschlagen. Wir müssen Ressourcen aus der Kriminalisierung, Bestrafung und Verfolgung von Menschen abziehen und in die Communitys tragen. Wir müssen zunächst den Löwenanteil der Polizeiarbeit – für den Polizist*innen schlicht ungeeignet sind – auf zivile Stellen übertragen, auf präventive und mediative Einrichtungen. Wir müssen Geld in Wohnungsinitiativen, Programme zur Sucht- und Gewaltprävention, in Gemeindezentren und Infrastrukturen rund um psychische Gesundheit stecken – und parallel die Polizei Schritt für Schritt abbauen. Wir müssen alternative Strukturen entwickeln, wie wir als Gesellschaft mit Gewalt umgehen.
Wir müssen die Polizei abschaffen.
Dieser Text von Freiheitsliebe-Autor Jakob Reimann erschien online bei der anarchistischen Monatszeitung Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen der GWR gibt es hier.
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