Müssen wir wieder lernen, wütend zu sein?

Die aktuelle Krise spitzt nicht nur die gesellschaftlichen Konflikte zu, sondern stellt uns auch alle vor neue Herausforderungen. Die Linke hat damit so ihre Schwierigkeiten. Eine Einordnung versuchen Jeremiah Nollenberger und Dorian Tigges.

Für die Geschehnisse der letzten Monate fehlen uns die Erfahrungswerte. Und auch mit Blick nach vorne heißt es: Die merkwürdigen Zeiten werden weitergehen. Mit dem Herbst nehmen die Infektionszahlen wieder zu und damit auch die Angst vor einer Ansteckung. In Deutschland sind bereits mehrere tausend Menschen gestorben und noch deutlich mehr erkrankt. Doch die von dem unsichtbaren Krankheitserreger ausgehende Gefahr bleibt für die meisten von uns im Alltag gänzlich abstrakt und einzig sichtbar an den Maßnahmen der Politik.

Es ist genau diese konkret schwer fassbare Bedrohungslage, die uns Angst macht und uns akzeptieren lässt, dass sämtliche Regeln des menschlichen Miteinanders außer Kraft gesetzt werden, dass Parlamente zugunsten der Exekutive entmachtet und öffentliche Debatten oder Demonstrationen eingeschränkt werden. Was wir, neben der gesundheitlichen Bedrohung, nicht vergessen dürfen, ist, dass durch die Maßnahmen zur Bekämpfung viele ins psychische und/oder finanzielle Elend gestürzt wurden und werden. Wir haben es inzwischen mit einer schweren Wirtschaftskrise zu tun, die hinsichtlich der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts und der Arbeitslosenzahlen die Finanzkrise von 2008 weit in den Schatten stellt. Dabei sind die Lasten der Krise extrem ungleich verteilt.

Nur zusammen schaffen wir das – aber bleib mir bloß vom Leib

Mehr als der Rest der Gesellschaft bekamen viele Frauen die Auswirkungen der Krise zu spüren, als sie zu Hause gleich drei Aufgaben unter einen Hut bringen mussten: Kindererziehung, Erwerbsarbeit und Haushalt. Besser sichtbar waren sie in den Sektoren wie Krankenpflege und Einzelhandel. Hier wurde für ihre scheinbare Selbstlosigkeit geklatscht, mehr aber auch nicht. Allein gelassen wurden Soloselbständige und prekär Beschäftigte, für die nicht mehr als der Rückfall in Hartz-IV übrig blieb. Allein gelassen wurden kleine Kulturbetriebe und Künstlerinnen und Künstler, die große Teile ihres Einkommens verloren. Allein zurechtkommen mussten auch Studierende im Digital- und Hybridsemester. Laut Befragungen haben knapp 40 Prozent ihren Nebenjob verloren. Die völlig unzureichende „Unterstützung“ kam erst Ende Juni in Form von „Überbrückungshilfen“. Mit maximal 500 Euro pro Monat und Ablehnungen der Anträge aus formalen Gründen, trugen diese aber kaum zur Linderung der finanziellen Probleme bei. Damit wird der Studienabbruch vieler in Kauf genommen, vor allem derjenigen, die aus sozial schlechter gestelltem Elternhaus kommen.

Diese Ungleichheit wurde lange verschleiert. Man versuchte uns einzureden, vor dem Virus seien wir alle gleich. Dissens anzumelden, wurde erschwert und die zunehmende soziale Schieflage zeigte sich nicht wie sonst auf den Straßen, da sie leergefegt waren. Viele von uns wurden bestenfalls noch im Rahmen von #stayathome ins Home-Office gesteckt, andere blieben auf Kurzarbeit oder ohne Arbeit zuhause und Besorgungen wurden auf das Nötigste heruntergefahren. Lange Zeit war es kaum noch möglich, gegenseitige Hilfe und Unterstützung zu leisten. Wir waren gefangen in unseren vier Wänden, verbunden mit der Außenwelt nur über das Internet. Jobverlust, zunehmende familiäre Gewalt, die Verbreitung von Verschwörungsmythen und psychische Probleme waren die Folgen, als man sagte, wir würden diese Krise nur gemeinsam überstehen und damit doch meinte, dass sie jeder für sich allein überstehen müsse.

Währenddessen konnten Spitzenverdienerinnen, Spitzenverdiener, Manager und Managerinnen der Großunternehmen sich auf Unterstützung des Staates verlassen. Über 800 Milliarden Euro an staatlichen Garantien wurden ausgesprochen. Die Rettungen von TUI und Lufthansa zeigen, dass die großen Unternehmerinnen und Unternehmer Grund haben, mit rosaroter Brille in die Zukunft zu schauen. Mitten in der Krise ist der DAX auf dem besten Weg, auf das Vorkrisenhoch anzusteigen. Die Vermögensungleichheit verschärft sich weiter. Dies gilt es in Erinnerung zu rufen, wenn es von herrschender Seite wieder heißt, wir alle müssten den „Gürtel enger schnallen“ und der Rotstift müsse gezückt wird.

Und was ist mit der Linken?

2020 war bis jetzt eine Durststrecke für die Linke. Anfang des Jahres unterlagen Sanders und Corbyn, auf die auch die deutsche Linke hoffnungsvoll blickte. Viel Dynamik an der Basis erlosch, wo gemeinsame Treffen nicht mehr möglich waren. In dieser Situation gelang es nicht, eine eigene Erzählung in die Gesellschaft zu tragen. Stattdessen verschwand man entweder mit der Betonung auf die bestehende Gesundheitsgefahr im Mainstream oder betonte die Bedrohung für den bürgerlichen Rechtsstaat, den die aktuelle Situation darstelle und fand sich im Spagat zwischen allen Stühlen wieder. Als Sprachrohr für die angestauten Sorgen und Nöte – gesundheitlich, psychisch oder finanziell – zu wirken, ist nicht gelungen. Unter den Umständen eines permanenten Ausnahmezustands und aus dem Rückwärtsgang heraus muss es gelingen, sich mit eigener Kraft und schlagfertigen Antworten herauszumanövrieren, die an unser aller Lebensrealität anknüpfen. Die Herausforderung ist groß; die Antworten müssen einerseits der gesundheitspolitischen Situation Rechnung tragen, dürfen andererseits das durch die „Maßnahmen“ ausgelöste psychische und finanzielle Leid nicht vernachlässigen.

Dafür muss die gesamte Linke einige grundlegende Fragen beantworten: Wie verhalten wir uns als Gesellschaft solidarisch, trotz der großen räumlichen Distanzierung? Ist allen am meisten geholfen, wenn jede und jeder sich um sich selbst sorgt und von allen anderen fernhält? Stimmt sie dieser Vereinnahmung des Solidaritätsbegriffs im Mainstream zu? Oder ist da noch mehr? Ist Solidarität nicht auch eine Form der Liebe, bezeichnet sie nicht auch jenes unsichtbare Band zwischen den Menschen, das erst fühlbar wird, wenn wir uns gegenseitig nahe kommen?

Wie kann es sein, dass so viel Wut in der Gesellschaft nicht mehr wahrgenommen wird oder mit dem Verweis auf den Infektionsschutz delegitimiert wird? Warum sehen viele Linke dies nicht mehr? Ist es ihnen vielleicht egal? Kann uns das, die wir uns doch einstmals von der Gleichheit aller Menschen ausgehend aufgemacht haben, eben diese auch gesellschaftlich zu erkämpfen, wirklich egal sein, wenn immer mehr Menschen leiden? Und warum kommt vieles von dieser Wut scheinbar nur bei Rechten zum Vorschein? Dabei leiden auch viele von uns Linken unter den aktuellen Umständen, schweigen aber lieber und schlucken das Unbehagen herunter. Manche mögen sich mit diesem Opfer für die Gesellschaft besser fühlen und doch: ist es wirklich gut, wenn wir nicht mehr schreien können, wenn niemand mehr dazu fähig ist, sich ernsthaft zu empören?

Müssen wir wieder lernen, was es heißt, wütend auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu sein? Was bedeutet Solidarität in diesen Tagen? Kurz: Was bedeutet es, links zu sein?

Der Beitrag von Jeremiah Nollenberger und Dorian Tigges erschien in gedruckter Form in der neuen Critica

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