Marxismus und Intersektionalität

Eine englischsprachige Monografie versucht sich an einer verbindenden Analyse. Und scheitert.

Intersektionalität ist zu einem der wichtigsten linken Schlagwörter der letzten Jahre geworden. Politik soll intersektional, also alle einschließend gedacht werden. Soziale Differenz nicht als Hindernis sondern als Möglichkeit einer vielfältigen linken politischen Praxis wahrgenommen werden. Aufgeteilt in drei Sektionen unternimmt Ashley J. Bohrer den Versuch, marxistische Analysen mit solchen aus der Intersektionalität kritisch ins Gespräch zu bringen. Hierzu zeichnet sie die Geschichten der jeweiligen politischen Traditionen sowie die dominanten Debatten um marxistische Ansätze zu Geschlecht, ‚Rasse‘ oder Sexualität bzw. intersektionale Ansätze gesellschaftlicher Analyse nach. Ihr Fokus liegt dabei größtenteils auf den USA, auch wenn dies nicht explizit als spezifisch historisch-geografische Brille deutlich gemacht wird. Hierdurch wirkt die geschichtliche Nachzeichnung wie eine globalhistorische – welche sie nicht ist.

Bohrer zeichnet beide Traditionen als sich gegenseitig überlappende nach; eine Darstellung, die mindestens verwirrt, da Intersektionalität als analytische Brille meist in den US-Debatten Ende der 1970er Jahre verortet wird und der historische Anfang des Marxismus als Kritik, Methode und politische Perspektive in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts verortet werden kann. Für Bohrer gibt es aber beispielsweise bereits in den 1920er Jahren Stimmen schwarzer Radikaler, welche die Verwobenheit der ‚Rassenfrage‘ mit der der Frauenfrage auch ökonomisch verorteten. Hier kommen die ersten Probleme auf: Wer ‚Rasse‘, Geschlecht und Klasse – in keiner partikularen Ordnung – sagt, meint halt noch nicht Intersektionalität. Als politische und bald auch akademische Strömung kommen Intersektionalität und Intersektionalitätstheorie tatsächlich erst viel später auf und auch wenn sich Intersektionalit:innen besonders eklektisch diverser Diskussionen, auch vor ihrer Zeit, bedienen, stehen Kommunistinnen wie Claudia Jones nicht in einer „intersektionalen Tradition“, wie Bohrer sie ausmacht.

Besonders nennenswert ist hier das wirklich falsche Verständnis von Bohrer von dem, was Dialektik und damit was der dialektisch-historische Materialismus ist. Unter dem Titel „Dialectics of Difference“ versucht Bohrer, sowohl ein marxistisches als auch ein intersektionales Dialektikverständnis nachzuzeichnen. Dabei behauptet sie, Marx würde auf „die dynamische Bewegung von konfliktiven Gegensätzen“ weisen – und zitiert dabei noch nicht einmal Marx selber. Das ganze Kapitel liest sich nur kopfschüttelnd, da eine falsche Behauptung zu Dialektik nach der anderen zu Tage tritt: bei Dialektik ginge es nicht um die Auflösung der Gegensätze in eine Einheit (Doch!), es ginge um „wahre Gegensätze“ und darum, diese nachzuzeichnen. Kein einziges Mal wird Georg Wilhelm Friedrich Hegel benannt oder zitiert – ein großer Fehler, denn ein nennenswerter Teil von dem, was später Karl Marx und Friedrich Engels auf die sich vor ihren Augen verändernde kapitalistische Klassengesellschaft als wissenschaftlichen Sozialismus methodisch anwenden, kommt in der Methode von Hegel.

Bohrer reduziert somit Dialektik auf die Frage von gesellschaftlichen Gegensätzen und übersieht, dass die Zentralität der Erscheinungsform bestimmter gesellschaftlicher Phänomene der Ausgangspunkt einer marxistischen Gesellschaftskritik darstellt: Wie erscheint uns Gesellschaft auf einer Art und Weise, die verschleiert, was tatsächlich hinter Phänomenen wie Sexismus oder Rassismus in Gesellschaft liegt? Wie verstecken sich Prozesse der Kapitalakkumulation, welche durch Geschlecht, Sexualität und ‚Rasse‘ vermittelt werden, hinter patriarchaler und rassistischer ideologischer Formationen? Und ab welchem Moment verlassen patriarchale und rassistische Logiken jegliche Funktionalität für Kapitalakkumulation und existieren in relativer Autonomie zur Ökonomie?

So macht Bohrer Intersektionalität als Ort aus, wo tatsächlich Dialektik – in ihrem Sinne – gelebt werden würde: die Dialektik der persönlichen Erfahrung mit der von politischer Theorie. Beides würde in seiner Widersprüchlichkeit in politischen Einklang gebracht werden, da weder die persönliche Erfahrung noch die politische Theorie überhand nehmen würde; in der Intersektionalität existieren beide als wichtige Teilmomente von politischer Erkenntnis und Wissen. Nichts von dem zuvor Beschriebenen hat freilich mit marxistischer Dialektik zu tun – für Bohrer aber kein Problem, welche in Intersektionalität die konsequentere „Dialektik“ meint, erkannt zu haben.

Auch der Begriff Sozialismus taucht kaum auf. Denn Bohrer strebt keine sozialistische Weltrevolution an – sie möchte mehr Offenheit von beiden Spektren für die analytischen und abstrakt politischen Anliegen der Gegenseite. Es wirkt so, als ob der Status quo eines atomisierten Aktivismus fortgeführt und ein abstraktes Sich-aufeinander-Beziehen angeboten werden soll. Dabei wird in keinem Moment die Frage nach Taktik, Strategie oder auch Ziel der jeweiligen Politik gestellt, geschweige denn ausgesprochen, dass es durchaus sehr unterschiedliche Zielsetzungen für Sozialist:innen auf der einen Seite und für Intersektionalist:innen auf der anderen Seite gibt. Wenn Marxismus zu einem „ja Ökonomie ist auch wichtig und Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit darf nicht vergessen werden“ verkommt, wundert es auch nicht, dass Bohrer keine grundsätzlichen Widersprüche zwischen einer marxistischen und einer intersektionalen politischen Tradition sieht.

Schlussendlich scheitert Bohrers Vorhaben, Marxismus und Intersektionalität miteinander zu verschmelzen, denn dieses gemeinsame Terrain, von dem Bohrer so überzeugt ist, es historisch nachgezeichnet zu haben, gibt es nicht. Nur weil sich Menschen Sozialist;innen nennen (wie das Combahee River Collective, Selma James und die „Wages for Housework“-Kampagne) oder weil diese Klasse sagen (wie bell hooks oder Patricia Hill Collins), weisen sie noch lange keine dialektisch-historisch materialistische Analyse auf, geschweige denn sind sie im Sinne der Arbeit hin zu einer sozialistischen Weltrevolution der direkt und indirekt lohnabhängigen Massen, der notwendigkeit von Gründungen sozialistischer Arbeiterparteien etc. Sozialist:innen.

Empfehlenswert ist das Buch für seine recht detaillierte Zusammenfassung und lange Literaturliste von Texten der Intersektionalitätstheorie. Bohrers Auswahl marxistischer Texte zur Beziehung von Klasse, Geschlecht, Sexualität und ‚Rasse‘ ist limitiert und oft nicht unbedingt einem sozialistischen Projekt verpflichtet – darüber hinaus weist dies große Lücken auf, bezogen auf beispielsweise europäische, lateinamerikanische und westasiatische marxistische Diskussionen des 20. und 21. Jahrhunderts. Dadurch stimmt die Auswahl zwar mit dem hegemonial (also US-amerikanischen) akademisch-aktivistischen Kanon überein, setzt sich jedoch nicht mit den verschiedenen widersprüchlichen Debatten innerhalb diverser sozialistischer und kommunistischer Parteien und Organisationen (wie Gewerkschaften) des 19., 20. und 21. Jahrhundert – im globalen Norden und Globalen Süden – auseinander.

Ein Beitrag von Eleonora Roldán Mendívil.

Ashley J. Bohrer, Marxism and Intersectionality. Race, Gender Class and Sexuality Under Contemporary Capitalism, transcript Verlag, Bielefeld, 2019, 279 Seiten, 29,99 Euro.

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