Es sind wie immer aufregende Zeiten in Spanien. Während sich die Welt in der Hauptstadt Madrid trifft, um beim Klimagipfel über die Rettung des Planeten diskutieren, schmieden Verantwortliche der regierenden Sozialdemokraten (PSOE) von Ministerpräsident Pedro Sánchez einen Pakt mit linken Kräften von Unidas Podemos und zahlreichen Parteien aus den teils abtrünnigen Regionen. Ein Ritt auf der Rasierklinge, denn im Hintergrund lauern schon Spaniens Rechten und Neofaschisten.
Der Gegenwind ist stark. In Spanien regieren heißt seit jeher an mehreren Fronten gleichzeitig unter Beschuss stehen und standhaft bleiben. Pedro Sánchez, seines Zeichens Präsident der spanischen Zentralregierung in Madrid, war auch in seiner recht kurzen Amtszeit von etwa einem Jahr nichts anderes gewohnt. Im Sommer 2018 löste er den unter Korruptionsverdacht stehenden Mariano Rajoy vom rechten PP ab. Gestützt von Parteien aus dem linken und regionalistischen Spektrum führte Sánchez eine Regierung, die sich allerdings in einem lähmenden Patt befand. Hin- und hergerissen ist die spanische Arbeiterpartei zwischen klassischen linken Forderungen wie dem Wiederaufbau des spanischen Sozialstaates und der Dialogbereitschaft mit Abspaltungsbefürworter*innen aus Katalonien und neoliberal-rechten Ansichten, weiterhin soziale Rechte zu untergraben, repressiv gegen katalanische Politiker*innen und Aktivist*innen vorzugehen und einen anachronistischen spanischen Nationalismus zu schüren.
In diesem Spannungsfeld verhandelten PSOE, Unidas Podemos und einige Parteien aus den Regionen, doch Sánchez wollte vor allem den Forderungen von Iglesias und Co nicht stattgeben. Das Platzenlassen einer möglichen Regierung aus „progressiven“ Kräften, wie sich Iglesias und seine Verbündete aus den Regionen mehrheitlich sehen, bedeutete eine große Chance für Premierminister Sánchez: Mit einem Erstarken des PSOE könnte er seinen Erzfeind Iglesias und Unidas Podemos überflüssig machen und mit den wirtschaftsliberalen und gesellschaftlich rechts-orientierten Ciudadanos gemeinsame Sache machen. Dieser Plan ging allerdings nicht auf, stattdessen verlor der progressive Block an Sitzen, die Mehrheitsbildung ist erheblich schwieriger geworden und Sánchez machtpolitische Fehlkalkulation hat noch einen weiteren, tiefgreifenden Schaden verursacht: Mit VOX ist eine offen rechtsextreme politische Gruppierung drittstärkste Kraft geworden. Im Hintergrund warten eine geschwächte Volkspartei, eine marginalisierte Ciudadanos-Partei und eben VOX auf ihre Chance, Spanien noch weiter nach rechts zu lenken.
VOX ist so stark wie nie und es gelingt den francotreuen Rechtsextremen immer weiter Fuß in Politik und Gesellschaft zu fassen. Während VOX vor einigen Jahren marginal klein war und trotz enger Verbindungen zu Militär, Wirtschaft und insbesondere zum rechtskonservativen PP kaum in Erscheinung trat, verdoppelte das reaktionäre Bündnis seine Parlamentssitze und damit seinen politischen Einfluss in einem tief zerstrittenen Land. Faschistoide Ideen wie nationalistische Selbstüberhöhung, eine reaktionäre Gesellschaftspolitik, politische Verfolgung und Repression, die im faschistischen Spanien 40 lange Jahren währten, haben mit VOX wieder Konjunktur.
Unüberbrückbare Konflikte
Als Hauptgrund für die letzten Wahlerfolge der spanischen Rechtsextremen ist hier besonders der eskalierte Katalonien-Konflikt zu nennen. Er beflügelte Spaniens Rechtsextremisten, gerade in Zeiten, in denen ihr großer Führer Francisco Franco seine Ruhestätte im „Tal der Gefallenen“ verlassen musste. Der Konflikt zwischen spanischem Zentrum und katalanischer Peripherie ist jahrhundertealt, in denen letzten zwei Jahren nahm er allerdings enorm an Fahrt auf, mit verheerenden Folgen für Spaniens demokratische Qualität, wie NGOs belegen. Die staatliche Repression gegen Politiker*Innen, Aktivist*Innen, aber auch einfache Demonstrierende in Katalonien erreichte neue Stufen der Gewalt. Mit berüchtigten Polizeieinheiten aus Guardia Civil, einer fast paramilitärischen Polizeieinheit aus dem Franco-Spanien, und deren verbrüderten katalanischen Arm „Mossos d’Esquadra“ verfügt Madrid über brutal agierende Eingreiftruppen. Aber auch die Justiz zeigte sich hart gegenüber der Unabhängigkeitsbefürworter*innen aus Barcelona. Politische Vertreter*innen sind mit bis zu 13 Jahren Haft für eine liberale Demokratie in unwürdiger Weise (juristischer Vorwurf: Aufruhr) ihrer Freiheit beraubt worden.
Für die ohnehin tief zerstrittene Gesellschaft in der Katalonien-Frage eine kaum zu befriedende Situation. Dieser Umstand schafft Raum für diejenigen, die statt Dialog und Versöhnung auf Hass, Abgrenzung und Strafen setzen. Der soziale Frieden in Katalonien ist passé, das beweisen die teils gewaltsam geführten bzw. aufgelösten Demonstrationen der vergangenen Wochen in Barcelona. Zudem wurden legitime Forderungen nach einem föderaler organisierten Spanien delegitimiert und sogar kriminalisiert. Der legalistische Ausspruch, eine katalanische Unabhängigkeit verstoße gegen die Verfassung, half bislang nicht weiter, die Gräben zwischen Madrid und Barcelona zu kitten. Ohnehin haben viele Wähler*innen das Gefühl, das Land befinde sich seit Jahren, womöglich seit Jahrzehnten in einem soziopolitischen Patt, der sich durch Wirtschaft- und Finanzkrisen, durch das historisch nicht haltbare Bild des „einen, ewigen Spaniens“ und weitere sozialpolitische Krisen immer weiter verfestigt hat.
Fragen über Fragen
Welche Antwort hat die (künftige) spanische Regierung insbesondere auf diese tiefgreifenden Konflikten? Finden nationale Parteien wie Podemos und PSOE zusammen mit denen sie zu unterstützenden Regionalparteien aus den Autonomen Gemeinschaften einen Konsens? Wie werden die Interessen der Banken und Konzerne, der Finanzmärkte und der europäischen Partner umgesetzt, ohne dass vor allem die linksalternative Podemos-Partei ihre Glaubwürdigkeit verliert? Die Liste der offenen Fragen, die diese mögliche Koalition und potenziellen Minderheitsregierung ist lang, auch die Widersprüche, mit denen die Verantwortlichen konfrontiert sind. Schon jetzt werfen Kritiker*innen den möglichen Koalitionären Wortbruch vor.
Sollte der Europäische Gerichtshof die Haft des katalanischen Politikers Oriol Junqueras (ERC, Republikanische Linke Kataloniens) durch seine politische Immunität für nichtig erklären, bricht für die zerbrechliche Koalition ein kaum abschätzbares Unwetter ein. Doch genau diese katalanischen Kräfte braucht das Bündnis, um die Regierungsgeschäfte im Moncloa-Palast zu übernehmen. Wie Sánchez PSOE und Iglesias Unidas Podemos dieses Unterfangen gelingen soll, bleibt fraglich. Sánchez machte im Wahlkampf auch damit Stimmen, den berüchtigten Artikel 155, die Aufhebung der katalanischen Selbstverwaltung, wieder auszulösen.
Das gespaltete Spanien steht so weiterhin vor einer unsicheren Zukunft. Nichts scheint ausgeschlossen, nicht einmal ein weiterer Wahlgang. Das wäre der dritte innerhalb eines Jahres. Die unüberbrückbar erscheinenden Differenzen zwischen Konservativen, Rechten, Progressiven und Regionalisten werden auch dann nicht aus dem Weg geräumt sein. Hinter geschlossenen Türen verhandeln die „ehemaligen“ Erzrivalen Sánchez und Iglesias nun wohl auch ihre politische Zukunft. Für sie ist es vorerst die letzte Chance, die politische Rechte auf Abstand zu halten.