Kirche – Christen – Krieg und Frieden – Die Diskussion im deutschen Protestantismus in der Weimarer Republik

Das Organ des (religiös-sozialistischen) Badischen Volkskirchen­bundes druckt im Dezember 1919 eine dichterische Vision im Stile Jean Pauls ab. Erik Peterson, Theologe und Archäologe (1890-1960), hat sie verfasst. Thema sind die Prozessakten eines Soldaten, der 1916 wegen des Zwischenrufes ,,Du sollst nicht töten“ im Kriegsgottes­dienst zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden ist und in der Haft verstarb.
Vor der Himmelstür spricht Christus auf Wink des Garnisonspfarrers drohend zum Soldaten: „Du behauptest, ich hätte mich früher anders geäußert? Das ist ein Irrtum: Ich habe nicht den Armen, sondern den Reichen selig gepriesen, nicht den Friedfertigen, sondern den, der die meisten Kanonen und besten Gift­gase hat. Ich habe nie etwas für die Barmherzigkeit übrig gehabt, sondern war immer der Meinung, dass in dem Leben, das ihr auf der Welt zu führen habt, Unbarmherzigkeit die beste Barmherzigkeit ist. Ich habe auch stets gesagt, es sei besser, Hammer als Amboss zu sein, besser Unrecht zu tun, als Unrecht zu leiden, besser um der Ungerechtigkeit willen gelobt, als um der Gerechtigkeit willen verfolgt zu werden … Frage doch den Pfarrer, der neben dir steht. Hat er jemals etwas anderes gepredigt, als was ich dir jetzt sage? … Wir haben die große Kluft, die zwischen Himmel und Erde war, zuschütten lassen … Jetzt ist das Verkehrshindernis beseitigt. Siehe jetzt sind alle im Himmel, alle in der Hölle. Da aber schrie der Mensch mit seinem ganzen Leibe: ‚Satan, hebe dich weg von mir!‘ – und der Satan, der sich in einen Engel des Lichts, ja in den Sohn Gottes verstellt hatte, entwich, und sein Blendwerk zerrann.“

In der Weimarer Republik gehörte die Diskussion über Krieg und Frieden zu den Haupt-Streitpunkten in der Evangelischen Kirche. Die meisten Pfarrer betrauerten in den Kirchenzeitungen das Ende des alten Kaiserreichs. Sie sehnten sich zurück nach dem „Geist von 1914“, dem so genannten „Gotteserleben im Vaterland“. In der Predigt vom gottgewollten Krieg vereinigte sich die Idee vom deutschen Weltberuf mit dem Gedanken von einer göttlichen Sendung des deutschen Volkes. Die Kriegspredigten verstärkten die kaiserliche Militärpolitik. Als habe ein „heiliger Krieg“ ein unheiliges Ende gefunden, wurde dann die Revolution empfunden. Die Niederlage des deutschen Heeres wurde als geistiges Versagen der demokratischen Revolutionäre und ihrer Helfer verstanden. Die Heimat habe nicht durchgehalten. Die so genannte „Dolchstoß“-Legende, das unbesiegte Heer sei das Opfer sei das Opfer linksradikaler Hetzer geworden, wurde auch in christlichen Kreisen gläubig aufgenommen. Im Nationalprotestantismus war man sich einig, der Krieg sei den Deutschen aufgezwungen worden. Dass Deutschland schuld am Kriege gewesen sei, sei die große „Lüge“ gewesen. Der Kampf gegen die „Kriegsschuldlüge“ und die „Versklavung“ von Versailles – gemeint war der Friedensvertrag, der Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich machte und umfangreiche Reparationen festlegte – gehörte zum Ritual parlamentarischer Reden und Kundgebungen.
Hermann Kantorowicz, Rechtshistoriker, Philosoph und Strafrechtler, kam aber in der Schuldfrage zu für die Deutschen ungünstigen Ergebnissen. Deshalb wurde die Untersuchung vom Auswärtigen Amt unterdrückt. Erst 1965 entdeckte der Historiker Imanuel Geiss das angeblich verschollene Gutachten und veröffentlichte es 1967. Hermann Kantorowicz war zu dem Ergebnis gekommen: Fast 20 gefälschte Gutachten wurden am 3. August 1914 dem Reichstag vorgelegt, um vor allem die Sozialdemokraten irrezuführen und den deutschen Präventiv- und Eroberungs-Krieg als Verteidigungskrieg zu tarnen. Nach dem Studium veröffentlichter Dokumente erkannte auch der prominente SPD-Abgeordnete Eduard Bernstein: „Die deutsche Regierung ist der Hauptschuldige am Kriege, wir sind eingeseift worden; die Bewilligung der Kriegskredite war ein Fehler.“ Hermann Kantorowicz konstatierte: „Fälschungen sind Schuldgeständnisse“. Der Krieg sei von „Deutschland als Präventivkrieg, von Österreich-Ungarn als Verzweiflungskrieg, von Frankreich und Russland als Machterhaltungskrieg beschlossen“ worden. Deutschland und Österreich-Ungarn erklärte er zu Hauptschuldigen. Heutzutage ist – besonders in Deutschland – die These beliebt, Europas Mächte seien hilflos in einen Krieg hineingeschlittert, den niemand gewollt habe. Aber Historiker wie Annika Mombauer, Wolfram Wette, Helmut Donat widersprechen der „Schlafwandler“-These von Christopher Clark, die Deutschland entlasten würde, und kommen zu dem Ergebnis: „Deutschland hat den Ersten Weltkrieg bewusst entfesselt.“ (Wofram Wette).
„Gottes eigentlicher Name. Der geschmähte Schem Ha Mphoras. Den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten. Starb in sechs Millionen Juden. Unter einem Kreuzeszeichen.“ So lautet das Mahnmal von W. Schmiedel 1968 unter­halb der so genannten „Judensau“ an der Stadtkirche St. Marien in der Luther­stadt Wittenberg. Ein Rückblick auf Antisemitismus und den Massenmord an den Juden. Der zweite: Wer einmal einen Soldatenfriedhof besucht und auf die unendlich scheinenden Reihen der Grab-Kreuze geschaut hat, fragt sich un­willkürlich: Gab es denn keinen rechtzeitigen Widerstand gegen Nationalsozi­alisten, die später den Weltkrieg mit 55-60 Millionen Toten auslösten? Und wo waren die Christen? Nikolaus Schneider, Präses der Evangelischen Kirche in Deutsch­land, schreibt im Geleitwort zur Materialsammlung der EKD „Erinnern an den Ersten Weltkrieg“: „Auch die Kirchen haben vor hundert Jahren Schuld auf sich geladen, haben sich vom Kriegstaumel mitreißen lassen, haben ihn sogar ange­facht. Wie ist das zu erklären? Wie konnte die biblische Friedensbotschaft so­gar von Theologen bis zur Unkenntlichkeit verzerrt werden?“
Wo waren die Christen angesichts drohender Diktatur mit der Folge des Zwei­ten Weltkriegs? Wer so fragt, begegnet zugleich der Ökumenischen Bewegung in Deutschland, vertreten in ihren Anfängen durch den „Weltbund für Freund­schaftsarbeit der Kirchen“, in Konstanz vor hundert Jahren ins Leben gerufen, und prophetischen Stimmen der Friedensethik (Friedrich Siegmund-Schultze, Martin Rade, Martin Dibelius, Karl Barth, Günter Dehn, Georg Fritze, Leonhard Ragaz, Paul Tillich, Erwin Eckert, Emil Fuchs, Dietrich Bonhoeffer, Alfred Dedo Müller und anderen) sowie Gruppen der christlichen Friedensbewegung (Internationaler Versöhnungsbund, Bund der religiösen Sozialisten Deutsch­lands, Evangelisch-Christliche Einheit, Religiöser Menschheitsbund, Kreuz­ritter, Deutsche Gruppe des Internationalen Ausschusses Antimilitaristischer Pfarrer, Evangelischer Friedensbund), die während der Weimarer Zeit vor dem Nationalsozialismus und einem kommenden Krieg gewarnt haben, aber von der Mehrheit im Nationalprotestantismus nicht gehört und ernst genommen wurden.
Zwar gab es in den letzten vierzig Jahren eine Reihe historischer Studien über den Bund religiöser Sozialisten und die ökumenische Bewegung, aber in der breiten Öffentlichkeit sind sie nicht bekannt geworden. Kirchen, Parteien und gesellschaftliche Gruppen haben frühe Friedensrufe kaum gewürdigt, viele Ak­tivisten der Friedensbewegung sind vergessen worden. Dabei ist ihr Wirken bis heute eine Mahnung, den Frieden in einer von Kriegen bedrohten Welt zu er­halten. Frieden ist im Zeitalter der Massenvernichtungsmittel „nicht nur eine Fra­ge der Humanität und Moral, sondern eine Frage der nackten Existenz“, wie der von der NS-Diktatur ermordete Widerstandskämpfer und religiöse Sozialist Theodor Haubach (1896-1945) sagte. „Wollt ihr denen Gutes tun, / die der Tod getroffen, / Men­schen, lasst die Toten ruhn / und erfüllt ihr Hoffen!“ (Erich Mühsam, Dichter, Publizist, Antimilitarist, ermordet von der SS am 10. Juli 1934 im KZ Oranien­burg)
Die Evangelische Kirche hat nach zwei Weltkriegen bekannt, „in die Irre gegangen“ zu sein und die „Nation auf den Thron Gottes gesetzt“ zu haben. (Darmstädter Wort des Bruderrates vom 8. August 1947) Doch in welche Tradition stellt sie sich heute? Räumt sie jenen Personen und Gruppen, die nach 1918 vor dem weiteren Weg in die Barbarei gewarnt haben, heute wirklich jene Ehre ein, die ihnen gebührt? Insbesondere die oft verschwiegene Haltung, die der deutsche Protestantismus von 1918 bis 1933 zum Thema Krieg und Frieden, zur Kriegsschuldfrage und zum Versailler Vertrag eingenommen hat, erklärt, warum so viele Pfarrer und Würdenträger mit fliegenden Fahnen ins Dritte Reich marschiert sind. Lediglich Minderheiten, oft beschimpft und ausgegrenzt, erkannten, dass Kreuz und Hakenkreuz nicht miteinander vereinbar sind.
Angesichts des riesigen Potentials an Vernichtungswaffen, Gewalt und Kriegen ist Frieden zur Lebensbedingung der Menschheit geworden. Umso dringlicher ist nach Beiträgen einzelner Regierungen und Persönlichkeiten für die zivile Lösung von Konflikten zu fragen sowie nach Möglichkeiten der Kirchen, gesellschaftlichen und christlichen Gruppen, dabei mitzuwirken. Die Weimarer Zeit ist zu untersuchen und friedensfeindliche, bis heute nicht überwundene Tendenzen aufzudecken. Dazu gehört, wie der deutsche National-Protestantismus den Reformator Luther für sich vereinnahmte, jede Schuld des Kaiserreiches am Ersten Weltkrieg bestritt und sich mehrheitlich dem Nationalsozialismus öffnete. Wir müssen uns wieder an die Mahnung der religiös –sozialistischen Internationale von 1930 erinnern: „Christentum und Faschismus sind unvereinbar!“ Zugleich ist die seinerzeit geschmähte und verachtete ökumenische wie christliche Friedensbewegung zu würdigen und an ihr in Vergessenheit geratenes Zeugnis im Sinne einer neuzeitlichen Friedensethik und ökumenischen Theologie anzuknüpfen.

Reinhard Gaede
Kirche – Christen – Krieg und Frieden
Die Diskussion im deutschen Protestantismus in der Weimarer Republik
336 Seiten, 66 Abbildungen, Hardcover, 16.80 € ISBN 978-3-943425-75-8
(= Schriftenreihe Geschichte & Frieden, Bd. 41) (14.01.2018)

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