Keine einzige Anklage – Polizeigewalt beim G20

Kein einziger Polizist wurde wegen Polizeigewalt beim G20-Gipfel in Hamburg angeklagt. Die Straflosigkeit ist eine Bankrotterklärung des vielbeschworenen Rechtsstaats und ein Freibrief für Täter in Uniform.

Unmittelbar nach dem G20-Gipfel in Hamburg Anfang Juli 2017 tauchten dutzende Videos, Fotos und Augenzeugenberichte auf, in denen Fälle von mutmaßlich rechtswidriger Polizeigewalt dokumentiert sind. Die teilweise brutalen Videos lösten eine bundesweite Debatte über Polizeigewalt aus.

Drei Jahre später sind die Ermittlungen so gut wie abgeschlossen. Die traurige Bilanz: Von den 169 eingeleiteten Verfahren, 133 davon wegen Körperverletzung im Amt, hat bislang kein einziges zu einer Anklage geführt.

Täter konnten oftmals entweder nicht identifiziert werden oder die Ermittlungsbehörden hielten den Gewalteinsatz für gerechtfertigt. Mittlerweile sind 120 Verfahren eingestellt. Das geht aus den Antworten auf eine Große Anfrage der Fraktion der Linken in Hamburg hervor. Der einzige erlassene Strafbefehl richtete sich gegen einen Polizeibeamten, der einen anderen Polizeibeamten am Finger verletzte.

Um ein Gefühl zu bekommen, welche Art von Gewalt die Staatsanwaltschaft für gerechtfertigt hält, muss man sich die Beispiele anschauen.

Das mildeste Mittel?

Eine Frau in roten Leggins und blauem Shirt war auf einen Räumpanzer der Polizei geklettert. Dass die Polizei hier Maßnahmen ergreifen darf, ist unstrittig.

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beim polizeilichen Handeln legt fest, dass die Polizei als Träger des Gewaltmonopols immer das mildeste Mittel einsetzen muss, das geeignet und erforderlich ist, um das Ziel einer Maßnahme zu erreichen. Polizistinnen und Polizisten haben nicht das Recht, die für sie einfachste, bequemste, effektivste und schnellste Maßnahme umzusetzen.

In einem längeren Video sieht man, dass die Polizei nicht unter Druck ist oder angegriffen wird. Ein Polizist spricht die Frau auf dem Panzer an, etwas später erscheinen etwa 30 weitere Polizistinnen und Polizisten und zwei Wasserwerfer. Das mildeste Mittel ist ganz offenbar, dass die Polizei nun die Frau noch einmal anspricht und dann mit Polizistinnen und Polizisten unter Anwendung einfacher Gewalt vom Dach des Panzers holt.

Stattdessen greifen zwei Beamte zu Pfefferspray, einem Reizstoff, der vom Bundesgerichtshof als „gefährliches Werkzeug“ eingestuft wird und dessen nicht-polizeilicher Einsatz regelmäßig zu Verurteilungen wegen gefährlicher Körperverletzung führt. Der Reizstoff löst starke körperliche Schmerzen aus, außerdem können bei bestimmten gesundheitlichen Voraussetzungen Komplikationen mit Todesfolge auftreten.

Pfefferspray ist offensichtlich nicht das mildeste Mittel, in der Antwort des rot-grünen Senats aber heißt es: Der „Einsatz von Pfefferspray gegen Person auf Räumpanzer war gerechtfertigt“.

Zusammenschlagen und weitergehen

Im Fall des „Mannes mit den lila Haaren und der Beinschiene“ schlagen mehrere Beamten eine Person, werfen sie zu Boden traktieren sie mit einem Tritt und mehreren Faustschlägen ins Gesicht. Die Polizistinnen und Polizisten lassen irgendwann von ihm ab und gehen einfach weiter. Es sieht damit wie eine Strafmaßnahme aus.

Auch hier wurde das Ermittlungsverfahren eingestellt, „weil die polizeilichen Maßnahmen gerechtfertigt waren“, heißt es in der Antwort.

Es gibt zahlreiche Fälle wie diesen.

Nach dieser „Aufarbeitung“ der Polizeigewalt von Hamburg müssen wir fragen: Was bitte müssen Polizeibeamte eigentlich noch machen, damit eine Maßnahme später nicht mehr als gerechtfertigt eingestuft wird?

In jedem fünften Fall bleiben Polizistinnen und Polizisten unerkannt

Neben den Entscheidungen, dass derart brutale Vorgehensweisen gerechtfertigt sein sollen, zeigt der Stand der Ermittlungen ein anderes Problem auf: Viele mutmaßliche Täterinnen und Täter in Uniform können gar nicht erst identifiziert werden.

In 24 Fällen der 120 eingestellten Verfahren konnten die Polizist:innen nicht gefunden werden. Das ist jedes fünfte Ermittlungsverfahren.

Mit einer konsequenten Kennzeichnungspflicht von Polizeibeamtinnen ließe sich diese Ermittlungslücke in vielen Fällen schließen. Daran besteht aber auf Seiten von Polizei, Polizeigewerkschaften und konservativer Sicherheitspolitik kein Interesse, die Kennzeichnung wird als „Generalverdacht“ verunglimpft. Bis heute haben mehrere Bundesländer und die Bundespolizei keine Kennzeichnungspflicht.

„Bankrotterklärung des Rechtsstaats“

Der Republikanische Anwaltsverein (RAV) spricht bei der Aufarbeitung der Polizeigewalt beim G20-Gipfel von einer „Farce“. Es seien keine Ermittlungen, sondern es gehe um die „umfassende Immunisierung der Polizei gegen jede Strafverfolgung“. Philipp Krüger von Amnesty International nennt die bisherige Aufarbeitung  „eine Bankrotterklärung des Rechtsstaats“.

Deniz Celik von der Fraktion der Linkspartei in Hamburg sagt gegenüber netzpolitik.org, es sei „unfassbar, dass nach wie vor kein einziger Polizist angeklagt wurde“. Die derzeitigen Strukturen zur Aufarbeitung und Verfolgung von Polizeigewalt seien offenbar völlig ungeeignet.

Das Signal, das von Hamburg ausgeht, ist fatal: Polizistinnen und Polizistenkönnen sich sicher sein, dass sie selbst in eindeutigen Fällen keine Strafverfolgung zu befürchten haben und dabei die Rückendeckung der Politik genießen.

Während gegen mutmaßliche Gewalttäterinnen unter den Demonstrierenden immer wieder die „ganze Härte des Rechtsstaates“ in Stellung gebracht wird, bleibt dieser in der Verfolgung von Straftaten von Polizistinnen und Polizisten windelweich und zahnlos.

Ein Rechtsstaat zeichnet sich aber dadurch aus, dass er verbindliche Regeln für alle schafft und auch die staatlichen Organe diesen unterwirft. Der so oft beschworene Rechtsstaat wird sonst zur hohlen Phrase, die einzig und allein der „Desavouierung des politischen Gegners, der dadurch zum inneren Feind gestempelt wird“ dient, wie Danijel Majić nach dem G20-Gipfel treffend schrieb.

Es gibt Ideen für Reformen

Der staatliche Umgang mit der Polizeigewalt von Hamburg macht deutlich, dass sich etwas ändern muss, wenn wir der Polizei in Zukunft nicht einen Freibrief für Gewalttaten gegen Protestierende geben wollen.

In einer Demokratie gibt es viele mögliche Reformansätze, die das Ausmaß von rechtswidriger Polizeigewalt eindämmen können. Das fängt mit Kleinigkeiten an, wie die Hürden für den Einsatz von Pfefferspray höherzusetzen und dessen Gebrauch und die dadurch entstehenden Schäden zu erfassen. Eine Kennzeichnungspflicht würde zumindest die Chance bieten, dass Täterinnen und Täter in Uniform ermittelt werden können.

Wir könnten polizeiliche Befugnisse zurückdrehen oder die Grundrechte von Demonstrierenden stärken. Wir könnten die Militarisierung der Polizei stoppen, mit Anti-Diskriminierungsgesetzen Rassismus bekämpfen oder versuchen die Cop Culture in der Ausbildung der Polizei zu verändern. Es gibt viele Ansätze.

Die Pseudo-Aufarbeitung von Hamburg zeigt aber vor allem eines: Wir brauchen so schnell wie möglich von der Polizei unabhängige Beschwerdestellen, damit nicht die Polizei gegen sich selbst ermittelt und so wie in Hamburg auch die härtesten Rechtsverletzungen unter den Tisch gekehrt werden.


Dieser Text von Markus Reuter erschien zuerst hier auf netzpolitik.org (unter Lizenz CC BY-NC-SA 4.0). Wir bedanken uns vielmals für das Recht zur Übernahme.


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