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Iran – Die ökonomische Misere


Die US-Sanktionen sind nur ein Faktor von vielen, die Irans Wirtschaft in die Krise geführt haben – hinzu kommen Misswirtschaft und Korruption.

Dieser Text von Mohssen Massarrat erschien im aktuellen Sonderheft Edition N° 27 von Le Monde diplomatique

Sämtliche Indikatoren, die den Zustand der iranischen Wirtschaft abbilden, sind negativ. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) lag im Jahrzehnt von 2008 bis 2018 zwischen 406 und 452 Milliarden US-Dollar, wenn man die fetten Jahre von 2010 bis 2013 unberücksichtigt lässt, in denen die Öleinnahmen drastisch angestiegen waren.

Das BIP pro Kopf ist im selben Zeitraum deutlich (von 5621 auf 5491 Dollar) zurückgegangen, was auch mit dem Bevölkerungswachstum zu tun hat. Die Inflationsrate bewegte sich in den letzten zehn Jahren zwischen 20 und 40 Prozent. Die Folge war eine drastische Senkung der Massenkaufkraft, was die ärmeren 70 Prozent der Bevölkerung am härtesten getroffen hat.

In diesem Jahrzehnt der Wirtschaftsflaute mussten zahlreiche Betriebe – in der Industrie wie in der Landwirtschaft – ihre Produktion einstellen. Die Arbeitslosenrate schwankte, blieb aber nach offiziellen Statistiken stets deutlich über 12 Prozent. Zurzeit sind etwa 6 Millionen Menschen arbeitslos, wobei die Arbeitslosigkeit bei den Frauen etwa doppelt so hoch ist wie bei den Männern. Besonders ausgeprägt ist die Arbeitslosigkeit bei der jungen Generation und bei Leuten mit Hochschulabschluss: Beide Quoten übersteigen die durchschnittliche Arbeitslosigkeit um das Doppelte.

Die seit langem anhaltende Wirtschaftskrise wurde noch durch die Wirtschaftssanktionen verschärft, die die USA nach ihrem Rückzug aus dem Iran-Atomabkommen verhängt haben: 2018 ist das BIP um 5 Prozent gegenüber dem Vorjahr geschrumpft, für 2019 wird eine weitere dramatische Senkung um 10 Prozent prognostiziert. Die katastrophale wirtschaftliche Verfassung der Islamischen Republik ist umso tragischer, als das Land über große natürliche Ressourcen, über gut ausgebildete Arbeitskräfte und über eine relativ entwickelte Infrastruktur verfügt.

„Iranische Arbeiter sind der Islamischen Revolution in Treue ergeben.“ Propagandaplakat auf der offiziellen Webseite des Revolutionsführers Ali Khamenei. khamenei.ir, licensed under CC BY 4.0.

Der heutige Zustand der iranischen Wirtschaft hat auch damit zu tun, dass die islamische Revolution vor 40 Jahren keine soziale, sondern im Kern eine ideologisch-kulturelle Revolution gewesen ist. Wobei sich der sozialrevolutionäre Elan, der durch den Sturz des westlich orientierten zentralistischen Staats freigesetzt wurde, auch in ökonomischen Errungenschaften niederschlug. Der Aufbau einer flächendeckenden Infrastruktur innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne – und trotz des acht Jahre andauernden Kriegs gegen den Irak (1981–1989) – war eine gewaltige Leistung, zu der das gestürzte Pahlavi-Regime nicht in der Lage gewesen war. Binnen wenigen Jahren wurden sämtliche Landstraßen des Landes asphaltiert, was erstmals Transportverbindungen zwischen allen Städten und den entlegensten Dörfern ermöglichte. Auf dem Lande wurden selbst noch die kleinsten Gemeinden an das Stromnetz angeschlossen und bezogen sauberes Trinkwasser.

Durch den Ausbau des Schulwesens wurde die Analphabetenquote von über 80 Prozent auf unter 20 Prozent gedrückt. Angesichts der wachsenden Zahl von Schulabsolventen wurden zahlreiche neue Hochschulen gegründet. Heute gibt es in Iran 4,5 Millionen Studierende, deren Prozentsatz an der Gesamtbevölkerung doppelt so hoch liegt wie in Deutschland mit einer vergleichbaren Bevölkerungszahl. Jede zweite Studierende ist eine Frau.

Der schnelle Ausbau der Universitäten führte zwar dazu, dass die Qualität des Studiums keinen Vergleich mit westlichen Hochschulen aushält. Aber dass man in kürzester Zeit eine Bildungsinfrastruktur schaffen konnte, verweist auf ein beachtliches Potenzial, das unter günstigen Bedingungen eine beschleunigte Industrialisierung nach dem Vorbild Südkoreas hätte ermöglichen können.

Die durch die Revolution freigesetzte Energie traf jedoch alsbald auf traditionelle soziale Schranken, die von der Revolution unangetastet geblieben waren. Das erklärt, warum die Wirtschaft der Islamischen Republik bis heute unter massiven Strukturschwächen leidet, die das Ergebnis mehrerer Faktoren sind, deren Wirkungen sich ergänzen und gegenseitig verstärken. Das sind erstens die historischen Vorbelastungen, zweitens die Abhängigkeit von den Öleinnahmen, die den Einfluss der Handelsbourgeoisie stärkt, und drittens die staatsmonopolistische Gängelung durch eine diktatorische Regierungsgewalt.

In seiner mehrtausendjährigen Geschichte war Iran immer ein zentralistischer Rentierstaat, der auf die Einnahmen aus landwirtschaftlicher Grundrente angewiesen war. Die Abhängigkeit des Staats von diesen Renteneinnahmen wurde mit der Entdeckung beträchtlicher Ölreserven durch die Abhängigkeit von Öleinnahmen abgelöst. Seitdem ist der Staat nicht mehr so sehr von der eigenen traditionellen Wirtschaft abhängig als vielmehr vom Weltmarkt und den Hegemonialmächten Großbritannien und USA.

Die von steigenden Exporten gespeisten Ölrenten hatten allerdings auch eine fatale Wirkung: Die iranische Wirtschaft infizierte sich bald mit dem Virus der »Holländischen Krankheit«, die für alle Staaten symptomatisch ist, deren Staatsbudgets maßgeblich durch Rentenbezüge, also durch ohne Leistung erzielte Einnahmen gedeckt werden. Anstatt die eigene Politik und Herrschaft durch eine umfassende Modernisierung der Wirtschaft und den Aufbau einer funktionierenden produktiven Wirtschaft mit steigender Massenkaufkraft zu legitimieren, schlagen die meist monarchischen Regime dieser Länder einen viel einfacheren Weg ein: Gestützt auf eine Bürokratenkaste, beruht ihre Herrschaft auf der Verteilung von Almosen und auf einem engen Interessenbündnis mit den Großgrundbesitzern und den Großhändlern.

Der Rentierstaat weist zwei weitere Eigenheiten auf: Zum wichtigsten, die Konjunktur bestimmenden Wirtschaftssektor entwickelt sich die Bauwirtschaft und nicht etwa eine nationale Fertigungsindustrie. Und die scheinbar starke Währung spiegelt vor allem die steigenden Deviseneinnahmen wider, rührt also nicht von der eigenen Wirtschaftsleistung, der Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt und einer ausgeglichenen Handelsbilanz.

Im Gegenteil: Der hohe Wert der eigenen Währung verteuert den Export der traditionellen Waren, womit der Aufbau einer branchen- übergreifenden konkurrenzfähigen Industrie unmöglich gemacht wird. Statt einer auf eigenen Ressourcen basierenden Produktionsbasis entsteht also eine von Importen abhängige Industrie, die im Zweifelsfall durch Wirtschaftssanktionen besonders verwundbar ist. Und die auf Gedeih und Verderb von den Öleinnahmen abhängig bleibt. Diese Symptome der Holländischen Krankheit, von denen das iranische Wirtschaftsmodell vor der islamischen Revolution geprägt war, haben sich danach, wie zu zeigen sein wird, sogar noch dramatisch verstärkt.

Um ein besseres Verständnis für die Entwicklungen und Dynamiken der iranischen Volkswirtschaft zu erlangen, nimm dir bitte einen Augenblick Zeit für die folgenden Statistiken: 

Verschiedene Statistiken zur iranischen Volkswirtschaft. S. 36, Edition Le Monde diplomatique • Nº 27. © Le Monde diplomatique.

Trotz seines Ölreichtums ist das Land – anders als die arabischen Golfstaaten – wegen seiner hohen Bevölkerungszahl außerstande, allen Bürgerinnen und Bürgern einen mit den Scheichtümern vergleichbaren Wohlstand zu bescheren. Damit wird der Aufbau einer eigenen nationalen Industrie unerlässlich. Da die Mittelklasse schwach entwickelt war, wurde der Staat schon in der Schah-Ära zur treibenden Kraft und förderte großindustrielle Projekte in Bereichen wie der Tabak-, Zement-, Stahl- und Autoindustrie.

Nach der Revolution wurde in großem Stil eine petrochemische Industrie aufgebaut, um einen Teil der Ölproduktion im Inland zu verarbeiten. Weitere Investitionen flossen auch in die Autoindustrie und in Teile der Konsumgüterindustrie, desgleichen in den Ausbau der Bergwerke. Sämtliche Großindustrien waren ursprünglich und sind bis heute mehr oder weniger Staatseigentum und zugleich – was wichtig ist – innerstaatliche Monopole. All diese Unternehmen sind auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähig und werden mittels staatlicher Subventionen und Preismanipulationen am Leben gehalten.

Die Autoindustrie produzierte vor der Revolution 200.000 in Iran montierte Autos. Nach 1979 wurde die Produktion bis 2010 mit massiver staatlicher Unterstützung auf 1,6 Millionen Fahrzeuge gesteigert. Danach sank diese Zahl infolge der US-Sanktionen wieder auf 800.000, um nach dem 2015 erzielten Atomabkommen bis 2017 erneut auf 1,6 Millionen zu steigen. Nachdem aber Trump im Mai 2018 die US-Wirtschaftssanktionen erneuert hat, ist diese Produktion wieder rapide geschrumpft. Iran produziert nur einen Autotyp, der als »iranisches Produkt« gelten kann. Ein Großteil der Fahrzeuge sind französische und japanische Autotypen, die im Land nur montiert werden. Damit ist der Sektor zu 70 Prozent importabhängig und durch Sanktionen besonders leicht verwundbar. Iranische Autos sind auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähig und werden, wenn überhaupt, in den Irak und die zentralasiatischen Nachbarstaaten exportiert. Das Wachstum dieses Industriezweigs resultiert nicht aus technischer Innovation und Qualitätsverbesserung, sondern aus diversen Begünstigungen durch steuerliche Entlastung, Bezug von subventionierten Halbfabrikaten aus der staatlichen Metallindustrie und subventionierte Strompreise.

Ähnliches gilt für den Stahlsektor und die petrochemische Industrie, die ihre Produkte zum Teil auch exportieren. Nach Angaben des Wirtschaftsexperten Ehsan Soltani haben 17 der größten Firmen in den Bereichen Stahl, Petrochemie und Bergbau ihren Jahresgewinn 2017 gegenüber dem Vorjahr um 125 Prozent erhöht. Der Erfolg geht allerdings nicht auf technische Innovationen und eine gesteigerte Produktivität zurück. Vielmehr ist es dem Management dieser Unternehmen gelungen, deutlich niedrigere Rohstoffpreise mit den anderen staatlichen Öl-, Gas- und Eisenerzlieferanten auszuhandeln.

Wenn diese Betriebe für ihre Rohstoffe die aktuellen Weltmarktpreise zahlen müssten, käme der Export ihrer Waren sofort zum Erliegen. Dies ist ein symptomatisches Beispiel für die negativen Folgen einer Rentierökonomie, in der die Ölrenten einerseits die Innovation und Wettbewerbsfähigkeit blockieren, andererseits die Konkurrenz um die Teilhabe an den Öleinnahmen fördern – und damit die Korruption begünstigen.

Entwicklungen einiger Schlüsselindustrien im Iran vor und nach der Revolution 1979. Nach Angaben der offiziellen Webseite des Revolutionsführers Ali Khamenei. khamenei.ir, licensed under CC BY 4.0.

Die Elite der Islamischen Republik ist sich über das Hauptübel im System, nämlich mangelnde Innovation der iranischen Industrie und subventioniertes Wirtschaftswachstum, durchaus im Klaren. Deshalb wurde schon 2001 per Verfassungsänderung der Weg für umfassende Privatisierungen frei gemacht.

Tatsächlich wurde der neue Privatisierungsartikel 44 der Verfassung jedoch zum Einfallstor für Selbstbereicherungen, und zwar sowohl des Führungspersonals der Staatsunternehmen als auch einflussreicher Politiker samt Angehörigen und Freunden. Das führte zu einem gnadenlosen Wettbewerb innerhalb der Elite, wobei sich jeder ein möglichst großes Stück vom Kuchen des Volkseigentums aneignen wollte.

Privatisiert wurden vor allem Betriebe, die keinen Gewinn erzielten. Dabei beschuldigen iranische Kritiker der Privatisierungspolitik die Manager bestimmter Staatsbetriebe, sie hätten ihre durchaus rentablen Unternehmen bewusst heruntergewirtschaftet, um sie anschließend zu Schleuderpreisen selbst zu erwerben.

Wie man am Beispiel der Volksrepublik China studieren kann, muss eine erfolgreiche Privatisierung unrentabler Betriebe in zwei Schritten vonstattengehen: Zunächst sind die Betriebe in Aktiengesellschaften zu überführen und die Aktien breit zu streuen. Sodann muss dafür gesorgt werden, dass die Wettbewerbshindernisse in der Binnenwirtschaft abgebaut, zugleich aber die Unternehmen gegen ausländische Konkurrenz geschützt werden.

Beides hat in Iran nicht stattgefunden. Oft wurden Betriebe im Rahmen der Privatisierung zu 100 Prozent von Betriebsmanagern übernommen. Zugleich blieben notwendige, Marktmechanismen entsprechende Strukturveränderungen in der Regel aus. Es gab also weder Aktionärsversammlungen noch Aufsichtsräte, womit die Privatisierung auf die bloße Änderung der Rechtsform reduziert war.

In Wirklichkeit handelte es sich um eine Scheinprivatisierung, sprich einen Etikettenschwindel. Auch von einem Begleitprogramm zum Schutz der nationalen Industrie kann keine Rede sein. Die Scheinprivatisierung begünstigte lediglich Korruption und Vetternwirtschaft, die in der zutiefst klientelistischen Islamischen Republik ohnehin systemisch sind.¹

In dieser Hinsicht gibt es zwischen den beiden staatstragenden politischen Flügeln – den religiös Konservativen und den Reformern – kaum einen Unterschied. Beiden geht es nicht um das Wohlergehen der Bevölkerung, sondern vor allem um die Bedienung ihrer jeweiligen Klientel. Auch deshalb verschwinden Korruptionsskandale immer wieder nach einiger Zeit in der Versenkung. Zwar gibt es ab und zu ein Bauernopfer, aber in den meisten Fällen endet die juristische Verfolgung ergebnislos. Da beide politischen Flügel an den Skandalen beteiligt sind, haben beide kein Interesse, die Hintergründe aufzuklären.

Neben der monopolistischen Wirtschaftsstruktur gibt es ein zweites großes Hindernis für den Aufbau einer nationalen Industrie: die Schicht der superreichen Großhändler. Dank der konstant fließenden Öleinnahmen haben sie sich zügig in Agenten der Warenimporte verwandelt, womit sie die nationale Industrie in den Ruin treiben.

Die Gründe für die dominierende Rolle der Großhändler sind ebenfalls in der iranischen Geschichte zu suchen. Die soziale Basis des alten Regimes waren die Großgrundbesitzer, aber die lebten schon immer in den Städten. Dort bezogen sie nicht nur die Grundrente aus ihrem Landbesitz, sondern waren in der Regel zugleich auch Großhändler, zunächst von einheimischen Produkten. Doch in dem Maße, in dem der Zentralstaat auf Öleinnahmen und Warenimporte aus den Industrieländern setzte, verwandelten sich auch die Großhändler zu Importeuren westlicher Waren.

Das Resultat war ein weitgehend von Öleinnahmen abhängiger Wirtschaftskreislauf. Nach der islamischen Revolution blieb dieser Wirtschaftskreislauf im Wesentlichen unangetastet. Allerdings wurden die alten, mit dem Schah-Regime verbundenen Großhändler abgelöst von den traditionell stark religiösen Basar-Großhändlern, die die islamische Revolution mitgetragen hatten und nun an der »politischen Rente« des Machtwechsel partizipieren wollten.

Die Teheraner Handelskammer entwickelte sich zu einer Art Zentralkomitee aller Großhändler, das über ein weit verzweigtes, aber überwiegend unsichtbares Netzwerk verfügt, zu dem auch neoliberale Ökonomen und einflussreiche Medien gehören. Die Repräsentanten dieser Machtgruppe sind auf allen Ebenen der Regierung, im Parlament und im Umfeld des Revolutionsführers stark verankert und bestimmen im Grunde, welche Richtung die Wirtschaft des Landes einschlagen soll.

Der bekannteste Repräsentant dieser nachrevolutionären Elite war Haschem Rafsandschani. Der nach dem Revolutionsführer einflussreichste religiöse Würdenträger ist selbst Großhändler und Besitzer der größten Pistazienplantagen des Landes. Während seiner Amtszeit als vierter Präsident der Islamischen Republik (1989–1997) hat Rafsandschani die iranische Wirtschaft von einer im Zuge des iranisch-irakischen Kriegs (1981–1988) streng regulierten Kriegswirtschaft auf ein insgesamt stark dereguliertes neoliberales Wirtschaftsmodell umgestellt. Auf seine Initiative ging nicht nur die Privatisierung der Staatsbetriebe zurück, sondern auch die Liberalisierung des Handels, die Senkung der Unternehmenssteuern und die Einführung von befristeten Beschäftigungsverhältnissen. Diese Maßnahmen aus der Mottenkiste des Neoliberalismus wurden zur Richtschnur für die Wirtschaftspolitik aller nachfolgenden Regierungen – bis heute.

Haschem Rafsandschani (l.) war acht Jahre Präsident des Iran und galt als moderater Politiker. Rafsandschani war auch Großhändler, seine Familie baute ein Wirtschaftsimperium auf. Die neoliberale Wende der iranischen Wirtschaft geht maßgeblich auf Rafsandschanis Präsidentschaft zurück. Hier mit Präsident Rouhani (r.) im September 2013. By Tasnim News Agency, Wikimedia Commons, licensed under CC BY 4.0.

Mit den zu erwartenden fatalen Folgen: Das Importvolumen stieg im Zeitraum 2000 bis 2016 von 13,9 auf 40 Milliarden US-Dollar. Dabei wurden nicht nur Luxusgüter für das reichste Zehntel und Halbfabrikate für die Fertigungsindustrie eingeführt, sondern auch Agrarprodukte und einfache Industriewaren. Ehsan Soltani hat ausgerechnet, dass Iran 2017 etwa 30 Milliarden Dollar für rund 300 Importgüter ausgegeben hat, die auch in Iran produziert werden.

Die Großhändler interessiert es eben nicht, ob die Importe dem Gemeinwohl dienen und dazu beitragen, das Land zu industrialisieren, oder ob sie die bestehende nationale Industrie zerstören. Der Hauptzweck ihrer Tätigkeit besteht darin, möglichst große und möglichst rasche Handelsprofite zu erzielen.

Angesichts der rasanten Zunahme der Warenimporte nimmt es kein Wunder, dass in den letzten 20 Jahren zahlreiche Agrar- und Industriebetriebe – insbesondere in der Textil- und Bekleidungsbranche (einschließlich Schuhe) oder in der Produktion von Lebensmitteln und anderen Konsumgütern – unrentabel geworden sind und hunderttausende Beschäftigte entlassen mussten.

Nach einer amtlichen Studie über den Zustand von 37.000 in Industriezonen angesiedelten Betrieben meldeten 2016 mehr als 7.000 von ihnen Konkurs an und mindestens 20.000 meldeten eine Unterauslastung ihrer Produktionskapazität um 30 bis 70 Prozent. Nur 9300 Betriebe, also nur ein Viertel, hatten eine Kapazitätsauslastung von über 70 Prozent, was als Voraussetzung für eine rentable Produktion gilt.

Diese Unterauslastung ist auch ein wichtiger Grund dafür, dass die Gesamtzahl der Beschäftigten seit 2007 praktisch konstant geblieben ist. Diese liegt heute bei gut 20 Millionen, während die iranische Bevölkerung im gleichen Zeitraum um 10 Millionen angewachsen ist.

In entwickelten kapitalistischen Ländern läuft eine neoliberale Wirtschaftspolitik, die auf totalen Freihandel, steuerliche Entlastung der Unternehmer und Senkung der Lohnkosten setzt, auf die Bereicherung der Elite und eine relative Verarmung der lohnabhängigen Beschäftigten hinaus. In Entwicklungsländern wie Iran hat eine solche Politik noch weitergehende Folgen: Sie zerstört die einheimischen Industrien und verwandelt diese Länder in billige Rohstofflieferanten und Absatzmärkte für die Exporte der Industrieländer.

Der Neoliberalismus blockiert also buchstäblich jegliche ökonomische Entwicklung und Armutsbekämpfung – und die enorm einflussreichen iranischen Großhändler und ihre neoliberalen Propagandisten machen sich zu Handlangern eines Systems, dessen Hauptnutznießer die Konzerne der Industriestaaten sind.

Der Freihandel, den der Neoliberalismus als grundlegendes Prinzip propagiert, bringt allen beteiligten Staaten nur dann Vorteile, wenn diese erstens über ähnliche ökonomische Rahmenbedingungen und zweitens über ein annähernd gleiches wirtschaftspolitisches Steuerungs- und Interventionsinstrumentarium verfügen. Wenn dies nicht der Fall ist, gleicht die Auseinandersetzung einem Boxkampf, bei dem ein Schwergewichtler gegen einen Leichtgewichtler in den Ring geschickt wird.

Wenn die nationale Industrie darniederliegt, versuchen die Superreichen ihre riesigen Profite, die sie im Handel und in monopolistischen Unternehmen erzielt haben, in unproduktive Sektoren zu verschieben, zum Beispiel in den Immobilien- oder in den Finanzsektor. Im Zeitraum 2001 bis 2016 sank der Prozentsatz der Investitionen in den produktiven iranischen Industrie- und Bergbausektoren (ohne Öl) von 19 Prozent auf 10 Prozent (des gesamten Investitionsvolumens), während parallel dazu die Investitionen in Grund und Boden sowie Immobilien von 24 auf knapp 40 Prozent anstiegen. Diese Trends schlagen natürlich auch auf die Beschäftigtenzahl durch, die im industriellen Sektor bei 4 Millionen stagniert.

Für Länder wie Iran sind die gigantischen Öleinnahmen also kein Segen, sondern viel eher ein Fluch. Sie begünstigen eine Kultur der Plünderung des Volkes und der natürlichen Reichtümer des Landes nach dem amoralischen Motto: Jeder raubt, wo immer möglich und so viel er kann. Was das konkret bedeutet, lässt sich anhand von aktuellen Beispielen veranschaulichen, die in den iranischen Medien offen diskutiert werden.

So deckte Abbas Akhundi – ehemals Bauminister der Regierung Rohani und wegen seiner scharfen Kritik an der offiziellen Wirtschaftspolitik als »Opposition innerhalb der Regierung« bezeichnet – im Januar 2018 in der Tageszeitung Etemad auf, wie »das korrupte und räuberische Bankensystem« seit 2004 zu einer Quelle der Bereicherung einflussreicher Clans geworden ist.

Dabei kritisierte er auch, dass die Regierung die Defizite des privaten Bankensektors im Umfang von 11.000 Milliarden Tuman (etwa 3 Milliarden US-Dollar) finanzierte, um über 5 Millionen Kleinsparer zu entschädigen, die Opfer von betrügerischen Machenschaften geworden waren. »Anstatt dem Volk die Lasten aufzubürden«, fordert Akhundi, »sollte man die Betrüger zur Kasse bitten«.

Die Umstände dieses Betrugs an einfachen Bankkunden machen deutlich, in welchem Maße die Korruption mittlerweile zur Normalität und damit systemisch geworden ist. Unter Präsident Ahmadinedschad wurden über Nacht zahlreiche neue Privatbanken gegründet. Manche von ihnen versprachen den Anlegern astronomische Renditen bis zu 80 Prozent. Damals sind Millionen Anleger auf den Schwindel hereingefallen und haben ihr ganzes Hab und Gut bei diesen Banken angelegt. Die zahlten im ersten Jahr auch tatsächlich hohe Renditen zurück, und zwar zuallererst an die Eigentümer, die selbst hohe Milliardensummen angelegt hatten. Sie waren die großen Gewinner, als ihre Banken – wie von vornherein geplant – nach zwei oder drei Jahren zahlungsunfähig wurden und Konkurs anmeldeten.

Der Ökonom Faribors Raisdana² enthüllte im Oktober 2019 in der Zeitschrift Chechmandaz den Korruptionsskandal beim Bau der Teheran Mall, die zu den vier größten Einkaufszentren der Welt gehören soll. »Die Bereitstellung billigen Grund und Bodens und vergünstigter Kredite«, fand Raisdana heraus, »machte es einflussreichen Händlern möglich, das gigantische Einkaufszentrum zu finanzieren, damit die kaufkräftige Schicht des reichsten Zehntels der Gesellschaft ihre luxuriösen Konsumbedürfnisse befriedigen kann«.

Bereicherung durch Finanzbetrügereien und Bodenspekulation haben eine lange Tradition. Jüngeren Datums ist die Devisenspekulation, die seit dem Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen eine neue Hochkonjunktur erlebt.

Da die von Washington verhängten umfassenden Wirtschaftssanktionen gegen Iran die Importe der iranischen Industrie erheblich verteuern, stellt die Zentralbank den Firmeninhabern Devisen zu einem deutlich niedrigeren Dollarkurs zur Verfügung. Prompt entstanden über Nacht einige tausend neue Firmen, deren »Gründer« sich enorme Dollarsummen zu Sonderkonditionen beschaffen konnten, um diese anschließend zu deutlich höheren Kursen wieder zu veräußern oder ins Ausland zu schaffen. Zum Beispiel in Form iranischer Investitionen in den Immobiliensektor der Türkei, die nach den Berichten iranischer Medien deutlich zugenommen haben.

Noch weiter geht der schärfste Kritiker der Regierungspolitik, Hossein Raghfar. Der Ökonomieprofessor an der Teheraner Frauenuniversität Sahra geht davon aus, dass auch die iranische Regierung selbst die US-Sanktionen als Vorwand benutzt, um in Kooperation mit der Zentralbank und dem Parlament bei der Devisenspekulation mitzumischen. In einem Interview mit der Zeitschrift Sanaat News (vom August 2019) argumentierte Raghfar, die überhöhten Dollarkurse seien nicht das Ergebnis der Marktkräfte und der US-Sanktionen, sondern einer politischen Entscheidung der Regierung. Diese nutze die Differenz zwischen dem von der Zentralbank festgesetzten Dollarkurs und dem tatsächlich deutlich niedrigeren Devisenwert dazu aus, die Löcher im Staatshaushalt zu stopfen. Die künstlich in die Höhe getriebenen Devisenkurse haben freilich in den letzten zwei Jahren die Preise für importierte Industrie- und Konsumgüter steigen lassen, wie Raghfar vorrechnet: »Die Lebenshaltungskosten haben sich dadurch um das 2,5-Fache erhöht, die Löhne dagegen lediglich um 30 Prozent.«

Die Inflation wird aber nicht nur durch steigende Importpreise angeheizt. Ein weiterer treibender Faktor sind die umfangreichen Staatsanleihen, die zur Finanzierung der Haushaltsdefizite ausgegeben werden. Auf diese Weise hat die Regierung das Geldvolumen zwischen 2013 und 2018 von 500 Milliarden auf 2.000 Milliarden Tuman aufgebläht, also innerhalb von fünf Jahren auf das Vierfache.

Mit der Inflation hat sich auch die Schere zwischen Arm und Reich, die seit dem Beginn der neoliberalen Wirtschaftspolitik ohnehin kontinuierlich größer wurde, in den letzten Jahren noch weiter geöffnet. Inzwischen leben 50 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Der durchschnittliche Mindestlohn ist zwischen 2010 und 2018 von monatlich 400 Dollar auf 100 bis 130 Dollar gesunken – und das bei gleichzeitiger Erhöhung der Lebenshaltungskosten.

Die wachsende Ungleichheit der Einkommen hat – neben der Inflation und der gestiegenen Arbeitslosigkeit – noch einen weiteren Grund: die ungerechte Besteuerung. Das lässt sich anhand einiger Zahlen demonstrieren: Vom gesamten Steueraufkommen des iranischen Staats im Haushaltsjahr 2016 stammten lediglich 0,8 Prozent aus der Besteuerung von Immobilien und 2,6 Prozent aus der Vermögensteuer. Dagegen entfielen 10 Prozent der Steuerlast auf die Lohnabhängigen und 22 Prozent in Form der Mehrwertsteuer auf die Konsumenten, also überproportional auf die »kleinen Leute«.

Als Folge der hemmungslosen Bodenspekulation liegt der Anteil der Wohnkosten am Haushaltseinkommen in Teheran inzwischen bei 50 Prozent – ein Spitzenwert weltweit. Die Verarmung hat dazu geführt, dass iranische Arbeitskräfte in die Golfstaaten auswandern, wo sie mit den Billigstarbeitskräften aus Pakistan, Bangladesch und Indien konkurrieren müssen. Allein schon diese Entwicklung ist eine höchst beunruhigende Auskunft über die iranischen Lebensverhältnisse.

Die herrschende Einkommensungleichheit veranschaulicht der Ökonom Hossein Raghfar mit erschreckenden Zahlen: Während sich eine reiche Familie in Nordteheran ein Auto für 32 Milliarden Tuman leisten kann, sieht sich eine Familie in Südteheran gezwungen, ihr eigenes Kind für 2 Millionen Tuman zu verkaufen, um überleben zu können. Die Geschichte hat einen realistischen Hintergrund. Tatsächlich hat auch der Organhandel dramatisch zugenommen.

Solche Fakten sind keine Schwarz-Weiß-Malerei. Sie geben vielmehr ein realistisches Bild der iranischen Wirtschaft, die bei Berücksichtigung der Kaufkraftparität (KKP) immerhin an 18. Stelle der IWF-Liste der stärksten Volkswirtschaften liegt.³ Die wirtschaftliche Entwicklung in der Islamischen Republik entspricht in keiner Weise dem Potenzial ihrer humanen und natürlichen Ressourcen. Die Verantwortung für dieses Versagen trägt eine mächtige Elite, die skrupellos die Menschen ausbeutet und die Naturreichtümer des Landes plündert. Dabei kann sich diese Elite auf eine theokratische Herrschaft stützen, die ihrem Treiben eine religiös-moralische Legitimierung verschafft.


Dieser Text von Mohssen Massarrat erschien im aktuellen Sonderheft Edition N° 27 von Le Monde diplomatique.

Mohssen Massarrat ist im Iran geboren und lebt seit 1961 in Deutschland. Er studierte Bergbau und promovierte später in Wirtschafts- und Politikwissenschaften in Berlin. Massarrat ging an die Universität Osnabrück, wo er 1978 habilitierte (2008 emeritiert). Seine Themenschwerpunkte sind politische Ökonomie, Globalisierung, Energie- und Umweltthematiken sowie Friedens- und Konfliktforschung im Großraum Nahost. Massarrat hat diverse Bücher geschrieben und sitzt seit 2001 im Wissenschaftlichen Beirat von attac Deutschland. 

Die Freiheitsliebe bedankt sich herzlich beim Autor, bei Le Monde diplomatique und der tageszeitung.taz für das Recht zur Übernahme.


Anmerkungen
1 Siehe Vivek Chibber, »Die Industrialisierungsfalle«, Le Monde diplomatique, Oktober 2019.
2 Raisdana wollte bei den Parlamentswahlen von 2000 für das linke Lager antreten, seine Kandidatur wurde aber vom Wächterrat der Kleriker nicht zugelassen.
3 Auf der IWF-Rangliste nach dem nicht kaufkraftbereinigten BIP liegt Iran auf Platz 28, Link. Auf der globalen Rangliste nach BIP pro Kopf liegt Iran allerdings nur auf Platz 101, beim kaufkraftbereinigten BIP pro Kopf auf Platz 73, Link.

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