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Im Sanktionsrausch

Die Covid-19-Pandemie hat viele Missstände verschärft und ans Licht der Öffentlichkeit gebracht. So auch die teils verheerenden Auswirkungen der Sanktionspolitik. Denn bei der Frage, wie außenpolitisch auf Verletzungen der Menschenrechte, Brüche demokratischer und rechtsstaatlicher Standards oder des Völkerrechts reagiert werden soll, wird eine Antwort immer beliebter: Sanktionen.

Gerade in Zeiten des Gesundheitsnotstands potenzieren sich die negativen Effekte dieser Maßnahmen für die Menschen in den betroffenen Ländern. So rang sich im Frühjahr der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, zu einer klaren Botschaft durch: Unilaterale Sanktionen müssten insbesondere zu Corona-Pandemiezeiten ausgesetzt werden, weil sie Menschenleben kosten, forderte er. „Dies ist die Zeit der Solidarität und nicht der Ausgrenzung.“ Ähnlich äußerte sich Michelle Bachelet, Hohe Kommissarin der für Menschenrechte der UN. Sie nannte insbesondere Kuba, Venezuela, Nordkorea, Iran und Zimbabwe als die am meisten betroffenen Länder.

Seien es die Wahlmanipulation und die Repression gegen Protestierende in Belarus, die Vergiftung des russischen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny oder Menschenrechtsverletzungen in Syrien: Insbesondere in der EU dauert es nie lange, bis der Ruf nach Sanktionen zu vernehmen ist.

Natürlich ist das Bedürfnis verständlich und richtig, aktiv zu werden, wenn Menschenrechte verletzt werden. Doch die Wirkung von Sanktionen steht häufig dem proklamierten Ziel entgegen. DIE LINKE setzt sich deshalb seit langem gegen die Sanktionspolitik ein, wie zuletzt im Juni in einem Beschluss des Parteivorstandes bekräftigt wurde.

Sanktion ist nicht gleich Sanktion

Zunächst gilt es zu differenzieren, denn unter dem Begriff „Sanktionen“ werden heute äußerst verschiedene Maßnahmen in einen Topf geworfen. Nicht jede Maßnahme, die eine Regierung als Reaktion auf Entwicklungen in einem anderen Land ergreift, ist eine Sanktion in diesem Sinne. So ist es doch etwas gänzlich anderes, beispielsweise die Militär- und Geheimdienstkooperation mit der Türkei einzustellen, weil diese systematisch und wiederholt Menschenrechte und das Völkerrecht missachtet hat.

Es gibt einen rechtlichen Rahmen für die zweifellos „legitimsten“ Sanktionen: Einen Beschluss des UN-Sicherheitsrates. So geschehen zum Beispiel als Reaktion auf Raketentests durch Nordkorea oder bei Konflikten in verschiedenen afrikanischen Ländern. Dabei handelt es sich um multilaterale Vereinbarungen, die von Waffenembargos über sogenannte „Smart Sanctions“ gegen Einzelpersonen bis hin zu Wirtschaftssanktionen reichen können.

Dem gegenüber stehen unilaterale Zwangsmaßnahmen, sei es durch einzelne Staaten wie die USA oder auch Staatengruppen wie die Europäische Union. Sie machen den Großteil der bestehenden Sanktionen aus.

Zu unterscheiden ist außerdem, wie sanktioniert wird. Denn in den meisten Fällen schaden Sanktionen mehr, als sie nutzen.

Wirtschaftssanktionen treffen vor allem die Bevölkerung, wie man an den US-Sanktionen gegen Venezuela, Iran und Syrien eindrücklich sehen kann. Sie dürften für tausende Tote verantwortlich sein, weil Nahrungsmittel, Medikamente und andere essenzielle Güter nicht im normalen und notwendigen Umfang in die Länder importiert werden können. Durch die Erdrosselung der Wirtschaft wächst außerdem die Armut – mit allen bekannten negativen Folgen. Insbesondere in der Covid-19-Pandemie sind diese Sanktionen tödlich.

Die EU setzt in den meisten Fällen eher auf individuelle Sanktionen, das heißt Einreiseverbote und Kontensperrungen von Personen, die sie für Rechtsbrüche verantwortlich macht. Auch Waffenembargos zählen zu häufig genutzten Sanktionen. Gegen Russland und Syrien hat allerdings auch die EU Wirtschaftssanktionen verhängt.

Aktuell wird vermehrt über sogenannte „Magnitski-Sanktionen“ debattiert. Der Name geht auf den Fall des russischen Steuerberaters Sergei Magnitski zurück, der einen Steuerskandal öffentlich gemacht hatte und 2009 in einem Gefängnis in Moskau unter nicht restlos aufgeklärten Umständen starb. Die USA nahmen den Fall als Anlass für ein Gesetz, durch das weltweit Menschenrechtsverletzer mit Sanktionen belegt werden können. Auch in Deutschland werden Forderungen nach einem solchen Gesetz lauter. Doch wer entscheidet auf welcher Grundlage, ob Sanktionen verhängt werden?

Fehlende Rechtsstaatlichkeit

In einem rechtsstaatlichen Verfahren gäbe es eine Anklage. Die Beschuldigten würden angehört und könnten sich verteidigen. Dann würde ein unabhängiges Gericht ein Urteil fällen. Das ist bei Entscheidungen über Sanktionen nicht gegeben. Außenminister Heiko Maas hat dies jüngst eindrücklich belegt, als er zum EU-Beschluss über Sanktionen gegen Russland in der Causa Nawalny sagte, die EU habe Sanktionen gegen Personen auf den Weg gebracht, „die wir für mitverantwortlich für diesen Verstoß gegen internationales Recht halten“.

Die subjektive politische Einschätzung wird also als Grundlage sehr einschneidender Entscheidungen genommen. Mit rechtsstaatlichen Prinzipien hat das nichts zu tun.

Doppelte Standards

Peter Scholl-Latour hat das Dilemma vor einigen Jahren auf den Punkt gebracht, als er sagte: „Ich bin es leid, dauernd diese Reden von Menschenrechten und Demokratie zu hören, die ja nur dann gültig sind, wenn die betroffenen Länder wirtschaftlich oder strategisch in das westliche Konzept passen.“ In der Sanktionspolitik sind diese doppelten Standards überdeutlich. Denn während einerseits Länder mit Sanktionen überzogen werden und die gravierenden Folgen für die dort lebenden Menschen in Kauf genommen werden, können sich andere Länder des aktiven Wegschauens des „Westens“ sicher sein.

Dass geostrategische Interessen wichtiger sind als die oft proklamierte „wertebasierte Außenpolitik“, zeigt sich nicht zuletzt an der Türkei. Seit Jahren unterdrückt Präsident Erdoğan vehement die Opposition, tritt Menschenrechte mit Füßen und reiht einen Bruch des Völkerrechts an den nächsten. Dennoch hält allen voran die deutsche Bundesregierung an der privilegierten Partnerschaft fest und will diese sogar ausbauen. Ähnliches gilt für Saudi-Arabien. Die Verbrechen dieser brutalen Diktatur tun den regen Beziehungen westlicher Länder mit dem „strategischen Partner“ keinen Abbruch und trotz des grausamen Kriegs gegen Jemen florieren die Rüstungsexporte. Auch in Lateinamerika ist die Doppelmoral offenkundig. Man muss sich nur die Toleranz gegenüber Verbrechen in Kolumbien ansehen und diese mit den Reaktionen auf die Lage in Venezuela vergleichen.

Mangelhafte Effektivität und Ablenkung vom Wesentlichen

Ein weiteres Problem: In den wenigsten Fällen sind Sanktionen effektiv. Zumindest wenn man die Ziele zugrunde legt, die bei der Verabschiedung der Sanktionen angegeben werden. Das bestätigte kürzlich nicht nur Wirtschaftsminister Peter Altmaier. Er kenne keinen Fall, wo Sanktionen gegen Staaten wie Russland etwas bewegt hätten, sagte er. Aber auch wissenschaftliche Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis. Dennoch werden Sanktionen gehäuft eingesetzt.

Nicht nur die mangelnde Wirksamkeit von Sanktionen stellt ein Problem dar. Die Fokussierung auf dieses Instrument der Außenpolitik lenkt auch von wesentlich wichtigeren Initiativen ab. Die Situation nach der Wahl in Belarus ist ein trauriges Beispiel dafür. Es dauerte nur wenige Tage, bis der Ruf nach Sanktionen die Debatte in Deutschland und der EU dominierte. Dann vergingen Wochen, in denen auf EU-Ebene gezerrt und gestritten wurde – vor allem, weil Zypern verlangte, dieselben Standards auch auf die Türkei anzuwenden, was die Regierung Merkel erfolgreich hintertrieb. Schließlich einigte man sich auf Sanktionen, zunächst gegen hochrangige Funktionäre und dann auch gegen Lukaschenko.

In dieser Zeit wurden zivile Mechanismen zur Vermittlung weitgehend vernachlässigt. Von einem Dialog ihm Rahmen der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, an dem hohe Vertreter der Regierung Lukaschenko und der Opposition teilnahmen, bekam das Auswärtige Amt offenbar nicht einmal etwas mit.

Multilateralismus statt Sanktionsrausch

Dies zeigt: Anstatt sich auf reale multilaterale Prozesse zur Vermittlung einer Konfliktlösung zu konzentrieren, hat sich die EU in erster Linie mit symbolischen Debatten über Reisebeschränkungen und Kontensperrungen von Funktionären beschäftigt, die vermutlich weder in die EU reisen würden, noch dort Konten besitzen. Die mediale Diskussion dreht sich darum, ob die EU nun zu weich oder ausreichend hart reagiert hat und die Regierungen versuchen, sich mit dem Sanktionsbeschluss zu brüsten.

Bewirken wird all das wenig – außer, dass es tatsächlich aussichtsreichen Initiativen die nötige Aufmerksamkeit und Unterstützung entzieht. Der Fokus muss deshalb entgegen dem Trend weg vom Sanktionsrausch und hin zu wirklichen Lösungen in multilateralen Formaten gelenkt werden. Das mag zäh sein und weniger Möglichkeiten zur öffentlichen Profilierung bieten. Dafür können aber ernsthafte Lösungen erreicht werden.

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