Die Wölfin im Schafspelz – eine Gefahr für Erdoğan?

Sultan, Alleinherrscher, Diktator – es gibt viele Beinamen, die dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zuteil wurden. In den letzten Jahren wurde es aber einsam um den reis, Führer, wie seine Anhänger*Innen ihn in der Türkei ehrfurchtsvoll und untergeben nennen. Isolation bedeutet ein politisches Risiko, dem ist sich Erdoğan nicht erst seit dem Putschversuch 2016 bewusst. Fast hätte eine kleine Fraktion innerhalb der türkischen Streitkräfte bei dem Versuch Erfolg gehabt, ihn und sein Regime zu stürzen. Dass der faire politische Wettbewerb über Wahlen so gut wie keine Veränderungen mehr herbeiführen kann, heißt nicht, dass es keine Alternativen gäbe, die gerne an Präsident Erdoğans Stelle wären. Eine nicht ganz chancenlose Kandidatin wäre die ultranationalistische Meral Akşener. 

Auch Meral Akşener hat einen Beinamen, der ihren Ruf als eisenharte Anführerin widerspiegelt: Asena, die Wölfin. Akşener führt die erst im Oktober 2017 gegründete Iyi-Partei, die sich aus der rechtsextremen und ultranationalistischen MHP abgespalten hat. Gefürchtet im In- und Ausland ist die paramilitärische, dem „tiefen Staat“ zugerechnete rechtsextremistische Gruppierung der Grauen Wölfe, ein bedeutsamer Teil des traditionell starken nationalistischen Lagers in der Türkei. Als offene Sympathisantin dieser äußerst brutal agierenden teils bewaffneten Bewegung, die für unzählige Morde an Kritiker*Innen und Oppositionellen aus dem linken und kurdischen Spektrum verantwortlich gemacht wird, ist ihr der Beiname asena gegeben worden. Schon in den 1990er Jahren hat sich Akşener einen Namen als skrupellose Innenministerin im Kabinett Erbakans gemacht. Im Zuge des vom türkischen Zentralstaat geführten „schmutzigen Krieges“ gegen die bewaffnete kurdische Arbeiterpartei PKK, aber auch gegen eine Vielzahl kurdischer Zivilist*Innen, spielte sie eine gewichtige Rolle. Bis heute zeichnet sich Akşener, typisch für die nationalistische türkische Rechte, durch hasserfüllte Rhetorik gegen die größte Minderheit in der Türkei aus, auch wenn erste Auftritte sie sogar in die Kurdengebiete geführt hatten. Nun möchte die „Leitwölfin“ neue Präsidentin der Türkei werden und niemand geringeres als den mächtigsten Mann seit Staatsgründer Atatürk, Präsident Tayyip Erdoğan, herausfordern. Politische Beobachter*Innen rechnen ihr – angesichts der Machtfülle und des zementiert erscheinenden politischen Systems zugunsten Erdogans AKP – für die Wahlen im November 2019 nicht geringe Chancen zu. Muss sich die Staatspartei AKP Sorgen um ihre Macht machen?

Akşeners Weg ins politische Machtzentrum der Türkei könnte über zwei Wege führen, durch ihre Partei ins degradierte Parlament oder als Präsidentschaftskandidatin in den Palast ak saray. Die ehemals parlamentarische Demokratie wird nach Erdogans Sieg im Verfassungsreferendum im April 2017 schrittweise in ein Präsidialsystem umgewandelt, in dem der erste Mann im Staate, der in der Türkei genannte cumhurbaşkan (Staatspräsident), alle Zügel der Macht in der Hand hält, erst Recht wenn er Tayyip Erdoğan heißt. Das auf ihn zugeschnittene System hat der personalistische, autokratische Führer der türkischen Nation eigens für sich kreiert, unter keinen Umständen könnte er sich einen Machtverlust leisten. Die Vergangenheit zeigte, dass die in der Türkei nicht mehr funktionierende Trennung der Gewalten, Wahlbetrug und eines Unrechtsstaats gleichende Repression einen rechtmäßigen Machtwechsel zu verhindern wüssten. Sowohl der im Vorfeld nötige Entzug der parlamentarischen Immunität der linken HDP-Abgeordneten im Mai 2016, als auch das Referendum selbst beruhten auf juristischen Tricks, einer Verbrüderung verschiedener nationalistisch-geprägter Parteien, und nicht zuletzt massiven Wahlbetrugs. Auch im Hinblick auf die kommenden (wertlosen) Parlaments- und entscheidenden Präsidentschaftswahlen kann davon ausgegangen werden, dass alle Eventualitäten (Abwahl Erdoğan) ausgeschlossen werden. Durch Kontrolle der Medien, des Militärs, der Justiz und des Parlaments hat die autokratisch auftretende, aber nach innen geschwächte Regierungspartei AKP daher Mittel genug. Ein Ritt auf der Rasierklinge ist dieses Machtspiel zum Selbsterhalt für Erdoğan und sein Machtzirkel aber dennoch. Alle Zahnrädchen in den formellen und informellen Organen, die die Erdoğan-treuen AKP-Loyalisten zu pflegen haben, stellen mögliche Gefahren dar.

Die Chancen Akşeners

Die neue „rechte“ Alternative. Foto: Yıldız Yazıcıoğlu (VOA), licensed under Public Domain Mark 1.0, Meral Akşener İYİ Party 1.jpg, via Wikimedia Commons

Für Akşener sprechen allerdings ihre Durchsetzungsfähigkeit, Unerschrockenheit und Skrupellosigkeit. Auch sie hat ein politisches Gefühl, kann Massen hinter sich bringen und den „rechten“ Ton vieler nationalistisch und antidemokratisch eingestellter türkischer Wähler*Innen treffen. Nach dem sogenannten „postmodernen Coup“, der die islamistische Regierung Erbakans 1997 unblutig beendete, wehte der scheidenden Innenministerin ein besonders rauer Wind entgegen. Als ein General damals ankündigte, Akşener öffentlich aufzuspießen, wies sie die unverhohlene Drohung schroff und typisch für ihre resolute Art zurück. Seitdem die AKP das repressive Netz immer enger und enger zu spannen versucht, ist auch die 61-Jährige nicht verschont worden. Auf einer Wahlkampfveranstaltung vor dem illegitimen Verfassungsreferendum wurde ihr einfach der Strom abgestellt. Statt abzubrechen und das Weite zu suchen, sprach Akşener mit einem Megafon weiter, umgeben von Anhänger*Innen, die die türkische Flagge schwenkten, das bekannte Symbol der Grauen Wölfe mit ihren Fingern formten und die damals noch unabhängige Politikerin als zukünftige Präsidentin bezeichneten. Selbst die oft erfolgreichen Denunziationen, sie gehöre zum mittlerweile verbotenen, der AKP nahegestandenen Gülen-Netzwerk, wies sie zurück. Im Gegensatz zu anderen haben die Behörden sie noch nicht mundtot gemacht, und das, obwohl sie das gleiche Wählerklientel anspricht wie die marginalisierte MHP, aus der sie ursprünglich entstammte und mit der sie durch deren Annäherung zu Erdoğan und seiner AKP 2016 brach. Ähnlich der regierenden rechtsgerichteten, moderat-islamistischen und neoliberal orientierten AKP, zielt die Iyi-Partei („die Gute Partei“) auf ein Elektorat in und weit rechts der Mitte ab. Das hat Vor- und Nachteile, wie der schwedische Politikwissenschaftler und auf die Türkei spezialisierte Svante Cornell erläutert hat.

Das größte Wählerpotenzial befindet sich in der Türkei im Segment der politischen Mitte und der politischen Rechte. Hier könnte Akşeners Iyi-Partei tatsächlich zur ernsthafteren Konkurrenz für die AKP werden, da sich das ultranationalistische Original, die MHP unter ihrem Vorsitzenden Devlet Bahceli zum stimmenreduzierten Anhängsel der AKP gemacht hat. Die AKP hat durch die internationale politische Isolation, die massiven Säuberungen und Repressionskampagnen gegen weite Teile der Bevölkerung, nie endende Korruptionsvorwürfe und die schlechte Wirtschaftslage viele Wähler*Innen verärgert. Mit diesem Prozentsatz könnte die Iyi-Partei die 10-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament schaffen. Ob die in rechtskonservativen und nationalistischen Kreisen durchaus populäre Akşener daraus politisches Kapital schlagen könnte, hinge auch davon ab, ob es ihr gelingt, enttäuschte oder gar verfolgte Wählerschichten aus der (liberaleren) Mitte für sich gewinnen zu können. Dafür müsse sie einen moderaten Kurs gegenüber Kurd*Innen, säkularen und pro-europäisch eingestellten Wähler*Innen führen, gleichzeitig aber ihr radikales rechtes Programm nicht vernachlässigen und das fordert Härte gegen Linke, Liberale und die kurdische Ethnie. In jedem Fall kann ihre Partei zu einem Sammelbecken werden, das die AKP-Hegemonie zumindest stören und selbst zu einem Machtakteur werden könnte. Genau in der Deckungsgleichheit ihres und Erdoğans Wählerspektrums liegt aber auch die Schwierigkeit. Gelingt es ihm weiter, die politische und wirtschaftliche Entwicklung des Landes von seiner Person abhängig zu machen und Akşeners Partei zu schwächen, beispielsweise durch eine vorgezogene Wahl in 2018 bereits, könnte der/die türkische Wähler*In auch zum rechten, autoritären, islamistischen Original greifen: Erdoğan und die AKP.

Eine demokratische Alternative?

2018 wird ein spannendes Jahr für die Türkei. Foto: Mark Eslick, Flickr, licensed under CC BY 2.0.

Gerade die westlichen Medien suchen nach jeder Alternative, möge sie noch so klein sein, gegen den allgegenwärtigen Präsidenten der Türkei. Obwohl Erdoğan der starke Mann im Lande ist, steht ein ganzes System (noch) hinter ihm, das ihn stützt und ihn zur mächtigsten Figur gemacht hat. Insbesondere, und das betont der türkisch-stämmige Publizist Halil Karaveli, profitiert er aber von der nationalistischen Grundeinstellung dem Großteil der türkischen Bevölkerung, die durchweg seit der Gründung der Republik 1923 rechte und autoritäre Persönlichkeiten an die Macht gebracht hat. Diese Kontinuität endete nicht, seit Erdoğans neuartige AKP-Partei 2001 die Regierungsgeschäfte übernahm und sie werden sich auch nicht so schnell ändern, unabhängig davon, ob der reis die Machtzementierung weiter vorantreiben kann oder jemand anderes – wie zum Beispiel Meral Akşener – aus der ultranationalistischen Ecke hervorkommt. Ein charismatischer, integrativer Charakter wie der im Gefängnis sitzende HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş, der für konservative und linke Kurd*Innen, für die türkische Linke und die liberalen Kreise des Landes ein Hoffnungsträger war, ist derzeit nicht in Sicht. Nun sitzt er seit 14 Monaten hinter Schloss und Riegel, wegen vermeintlicher Terrorpropaganda für die kurdische Sache, ein Vorwurf, den sich unzählige Kritiker*Innen des Regimes ausgesetzt sehen.

Er oder sie würde in der höchst autoritären Türkei auch kaum eine Chance haben. Das politische Klima ist nicht durch Rechtsstaatlichkeit und liberaldemokratisches Miteinander gekennzeichnet, das Land ist tief gespalten und ihm fehlt ohnehin die liberaldemokratische Tradition. Karaveli macht dies nicht nur an der Omnipräsenz autokratischer Führer wie Atatürk, Inönü, Evren oder Erdoğan fest, es gab nie eine sozialdemokratische oder sozialistische Alternative, die der rechtsautoritären Herrschaft die Regierungsgeschäfte hätte streitig machen können. Der aktuelle Vorsitzende der nationalistischen-sozialdemokratischen Zentrumspartei CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, ist dabei besonders oft Zielscheibe der Kritik von verschiedenen Strömungen der liberalen pluralistischen Türkei. Als die HDP-Abgeordeten ihre Immunität verloren und damit ihre komplette Freiheit, stimmte Kılıçdaroğlus CHP-Fraktion ausdrücklich nicht dagegen, obwohl es das Ende des türkischen Parlamentarismus bedeutete. Er sprach sich für ein hartes, militärisches Vorgehen gegen Kurd*Innen im eigenen Land aus und paktierte, wenn nötig, mit der Regierungspartei AKP. Große Teile des linksliberalen Spektrums sehen ihn als vollständig diskreditiert, rückgrat- und damit chancenlos, die Demokratie wieder herzustellen, sollte dies in diesem späten Stadium überhaupt noch im Bereich des Möglichen liegen. Mittelfristig, so vermutet auch die Politikwissenschaftlerin Bilge Yabancı, ist der Wandel nicht zu erwarten. In der Langzeitperspektive ist die AKP jedoch nicht konsolidiert genug in der gespaltenen politischen Landschaft, so dass es durchaus eine alternative Kraft von Rechts geben könnte, die zur Konkurrenz wird.

Damit ist das eigentliche Problem der Türkei beschrieben. Aus dem Inneren, wo zwar zahlreiche Parteien, politische Bewegungen, zivilgesellschaftliche Organisationen den wahren Pluralismus ausmachen, ist seit geraumer Zeit kein Umschwung mehr zu erwarten. Zigtausende Menschen sind hinter Gittern gebracht worden, Medien und NGOs unterdrückt und geschlossen, die Judikative unter die Parteilinie gebracht und zigtausende Menschen in brutalen Militäroffensiven getötet worden. Initiativen, die den fatalen Absturz des Landes in eine autoritäre Diktatur hatten verhindern wollen, mundtot gemacht. Die einzige Hoffnung wäre laut Karaveli da noch das internationale Interesse für eine intakte türkische Demokratie gewesen. Angesichts der geostrategischen Bedeutung der hochmilitarisierten Türkei, die zudem ein wichtiger Absatzmarkt für europäische Waren und ein Transitland für Energielieferungen ist, war dies nur eine Illusion. Bis heute erfährt die Türkei – trotz lautem Getöse aus Deutschland – große wirtschaftliche und militärische Unterstützung, die maßgeblich zur Erhaltung des Systems „Erdoğan“ beigetragen haben. Dementsprechend schwarz wird die politische Zukunft gesehen. Auch wenn in großen westlichen Medien Akşener etwas naiv als Hoffnung für eine Post-Erdoğan-Ära gehalten wird, ihre Vergangenheit als rechte Scharfmacherin, ist weiterhin präsent, auch weil die selben Konflikte weiter vorherrschen. Ihre nicht viel weniger empfundene und geäußerte Ablehnung für bestimmte soziale Gruppen, unterscheidet sie praktisch nicht von der AKP oder der MHP, sie sieht sich tief verankert in der gewaltbereiten, türkisch-nationalistischen Grauen-Wölfe-Bewegung und wird deshalb als „Wölfin im Schafspelz“ gesehen. Nichts, was für eine versöhnliche und respektvolle Politik für die pluralistische türkische Gesellschaft spricht. Auch wenn die Chefin der Iyi-Partei das autokratische präsidentielle System wieder abschaffen möchte, vieles moderater klingende könnte zu dieser frühen Zeit noch politisches Kalkül sein, um die Kanäle in die politische Mitte offen zu halten. Wenn nötig, wird asena alles ihr Mögliche gegen den übermächtigen Präsidenten in den Ring werfen. Es heißt wieder abzuwarten, ob man sie lässt und ob es sogar einen dritten konservativen Kandidaten geben wird, den Ex-Präsidenten und ehemaligen Weggefährten Erdoğans, Abdullah Gül.

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