Im Zeitalter von Donald Trump ist es kaum überraschend, dass es ein Wiederaufleben des sogenannten „wissenschaftlichen Rassismus“ gibt.
Das Wiederaufleben stammt aus der Zeit vor Trumps Präsidentschaftskampagne, aber sein Wahlsieg hat dieser besonderen Art des Rassismus Auftrieb gegeben, während er gleichzeitig den Verfechtern der weißen Vorherrschaft und den Rechtsextremen neues Selbstbewusstsein verlieh.
In einem vor kurzem veröffentlichten Artikel argumentiert der Politologe Edward Burmila: „Der wissenschaftliche Rassismus ist nicht ‚zurück‘ – er war nie weg.“ Aber während es sicherlich wahr ist, dass diese Ideen nie völlig verschwunden waren, gibt auch Burmila zu, dass Trumps Wahlsieg ihre Befürworter „ermutigte“.
Versuche die Wissenschaft (anstatt der Religion oder anderer Mechanismen) auszunutzen, um die Behauptung zu rechtfertigen, dass einige Gruppen gegenüber anderen rassisch überlegen seien, existieren seit dem 18. Jahrhundert. Diese Ideen wurden vor langer Zeit diskreditiert, aber weil die „Rassenungleichheit“ nicht verschwunden ist, tauchen sie regelmäßig in neuen Varianten auf und müssen immer und immer wieder widerlegt werden.3 Einige Leute hofften, dass die endgültige Todesglocke für den wissenschaftlichen Rassismus mit dem Abschluss des Humangenomprojekts im Juni 2000 erklingen würde, was zeigte, dass die Menschen 99,9 Prozent ihrer Gene teilen. Craig Venter, dessen Arbeit auf dem Gebiet der Gensequenzierung eine entscheidende Rolle bei der Erfassung des menschlichen Genoms spielte, kündigte damals an: „Rasse hat keine genetische oder wissenschaftliche Grundlage“.4 Aber da der wissenschaftliche Rassismus nicht von wissenschaftlichen Beweisen, sondern von dem Wunsch nach vermeintlicher Überlegenheit befeuert wird, haben sich diese Hoffnungen noch nicht verwirklicht.
Die Vereinigten Staaten wurden auf der Grundlage der Sklaverei und des Völkermords gegründet, so dass Rassismus und rassistische Ideen von Anfang an in das Gefüge des Landes eingewoben wurden. In der Unabhängigkeitserklärung schrieb Thomas Jefferson: „Alle Menschen sind gleich“, aber er war Sklavenhalter und innerhalb weniger Jahre begann er dies mit natürlichen Ungleichheiten zwischen Rassen zu rechtfertigen. In Notes on the State of Virginia, geschrieben Anfang der 1780er Jahre, beschreibt Jefferson, wie Schwarze „einen sehr starken und unangenehmen Geruch“ hätten. Er behauptet, dass „sie weniger Schlaf benötigen“, dass „ihre Trauer vorübergehend ist“ und dass sie „Denkvermögen in viel geringerem Maße“ besäßen. In Bezug auf Letzteres kommt Jefferson zu dem Schluss, dass „es nicht ihr Zustand, sondern die Natur ist, die den Unterschied hervorgebracht hat“. Aber Jefferson führte keine eigene systematische Forschung durch. Er stellte fest, dass „weitere Beobachtung“ und wissenschaftliche Untersuchungen (einschließlich der Verwendung des „anatomischen Messers“) erforderlich seien, um seine Hypothese zu bestätigen und in dieser Frage „Sicherheit zu erlangen“.5
Im neunzehnten Jahrhundert unternahmen führende amerikanische Wissenschaftler eifrig jene Untersuchung, die Jefferson vorschlug. Samuel George Morton, ein Mediziner und Anatomieprofessor in Philadelphia, verbrachte Jahre damit, Schädel zu sammeln und zu vermessen und behauptete auf der Grundlage seiner Forschungen, dass die Weißen deutlich größere Gehirne hätten – und daher intelligenter seien – als Schwarze, und Indianer dazwischen lägen. Nach Mortons Tod im Jahre 1851 wurde seine Arbeit von Josiah Nott und George Glidden fortgesetzt. Sie argumentierten, dass die angeblichen Unterschiede zeigten, dass jede Rasse eigentlich eine eigene Spezies sei (eine Sichtweise, die als Polygenismus bekannt wurde), die von Gott gesondert geschaffen worden seien. Nachdem Darwin 1859 Über die Entstehung der Arten veröffentlicht hatte, wurde das Argument in evolutionäre Weise umformuliert. Der Paläontologe Nathaniel Shaler von der Harvard University argumentierte zum Beispiel, dass sich jede Rasse getrennt von verschiedenen Primaten entwickelt habe.
IQ-Tests und Rassismus
Bis zum Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wurde deutlich, dass der Polygenismus wissenschaftlich nicht haltbar ist, doch die Idee das Rassen biologisch unterschiedlich seien und dass Weiße überlegene Eigenschaften hätten, blieb dennoch bestehen. Mit der Erfindung der IQ-Tests, um die Jahrhundertwende, nahm das Argument nun die Form an, dass die Tests ein ausreichendes Messwert für die angeborene allgemeine Intelligenz seien, dass einige Rassengruppen bei den Tests besser abschneiden als andere, und dass die beste Erklärung für die Unterschiede darin bestehe, dass die besser abschneidenden Gruppen genetisch überlegen seien. Seitdem gibt es unterschiedliche Varianten des selben Arguments, auch wenn sie immer scheitern. Das einzige was wahr ist, ist, dass es statistisch signifikante Unterschiede zwischen den durchschnittlichen IQ-Werten verschiedener Gruppen gibt. Aber es gibt keinen guten Grund zu glauben, dass der IQ eine angeborene, unveränderliche intellektuelle Fähigkeit misst oder dass Unterschiede zwischen Gruppen eine genetische Erklärung haben.
IQ-Tests wurden 1904 ursprünglich vom französischen Psychologen Alfred Binet entwickelt, mit dem Ziel, Schulkinder zu identifizieren, die in Schwierigkeiten waren und die dann mit einer speziellen pädagogischen Unterstützung ausgestattet werden könnten, um bessere Leistungen zu erbringen. Binet entwickelte eine Reihe von Aufgaben, die man erwarten könnte, dass einem Durchschnittskind eines bestimmten Alters imstande wäre, sie zu bewältigen. Das geistige Alter und das chronologische Alter der Kinder könnten dann verglichen werden, wobei das Verhältnis der beiden ihr „Intelligenzquotient“ oder IQ sei. Es wurde zum Standardverfahren, das Verhältnis mit 100 zu multiplizieren, so dass ein Kind, dessen mentales Alter und chronologisches Alter gleich waren, einen IQ von 100 haben würde. Ein Kind, dessen geistiges Alter vor seinem chronologischen Alter lag, hätte einen IQ von mehr als 100, und eines, dessen chronologisches Alter vor seinem geistigen Alter lag, hätte einen IQ von weniger als 100. Aber Binet glaubte nicht, dass die Tests eine Eigenschaft messen, die sich nicht ändern lässt – eigentlich ging es bei den Tests vor allem darum, Kindern mit einem unterdurchschnittlichen IQ eine angemessene Unterstützung zu bieten, um sie zu fördern. Binet glaubte auch nicht, dass die Tests als das endgültige Maß für die Intelligenz eines Kindes angesehen werden sollten. „Geistige Qualitäten“, warnte er, „können nicht gemessen werden, wie Linearoberflächen gemessen werden“, und dass eine Überbewertung der Bedeutung der Tests „illusorischen Vorstellungen Platz machen kann“.6
Sobald IQ-Tests den Atlantik in die Vereinigten Staaten überquerten, wurden die illusorischen Vorstellungen immer zügelloser. IQ Bewertungen wurde von amerikanischen Psychologen wie S. H. Goddard und Lewis Terman aufgenommen, die glaubten, dass Intelligenz eine vererbte Eigenschaft sei, die wenig verändert werden könne, und dass die Tests ein genaues Maß für die allgemeine Intelligenz seien. Sowohl Goddard als auch Terman waren Anhänger der Eugenikbewegung, die Menschen mit angeblich wünschenswerten Eigenschaften ermutigte, Kinder zu bekommen, während sie diejenigen mit angeblich unerwünschten Eigenschaften von der Fortpflanzung abhielt, und ihre Ansichten über IQ-Tests waren im Einklang mit dieser Bewegung. Da behauptet wurde, dass die Intelligenz durch die genetische Vererbung eines Individuums festgelegt werde, war das Ziel der Tests nicht mehr Abhilfe für eine verbesserte akademische Leistung zu schaffen, sondern diejenigen mit einem unterdurchschnittlichen IQ in eine einfache Arbeit zu bringen. Laut Terman passte ein IQ von 75 oder darunter jemanden für ungelernte Arbeit, während 75–85 für angelernte Arbeit geeignet wäre. Er warnte jedoch davor, dass ohne eine angemessene Berufsausbildung Personen im Bereich von 75–85 „die Schule abbrechen und leicht in die Reihen der Asozialen driften oder sich der Armee der bolschewistischen Unzufriedenen anschließen“ würden.7
Aber messen IQ-Tests wirklich die allgemeine Intelligenz? Ein Problem liegt darin, dass Intelligenz selbst ein nicht klar definierter Begriff ist. Viele der ursprünglichen Tests waren hoffnungslos kulturell verzerrt, aber selbst wenn die offensichtlichsten Verzerrungen entfernt wurden, hatte Binet sicherlich Recht, dass die Tests bestenfalls einen Aspekt dessen messen, was einigermaßen als intellektuelle Fähigkeit bezeichnet werden könnte. Der zeitgenössische Harvarder Psychologe Howard Gardner stimmt Binet zu und argumentiert, dass Intelligenz mehrere Dimensionen hat. Gardner identifiziert neun Arten von Intelligenz, aber man muss nicht mit den Details seiner Theorie einverstanden sein, um seinem allgemeinen Standpunkt zu akzeptieren.8
Ebenso wichtig ist, dass unabhängig davon was der IQ-Test misst, es sich nicht um eine unveränderliche Eigenschaft handelt. In den 1980er Jahren wies James R. Flynn darauf hin, dass in jedem Land, für das es detaillierte Aufzeichnungen gibt, die IQ-Werte seit Anfang des 20. Jahrhunderts stetig gestiegen sind – der sogenannte Flynn-Effekt. 9 So stieg beispielsweise zwischen 1942 und 2008 der durchschnittliche IQ der britischen Kinder um 14 Punkte. Die Steigerungen wurden verschleiert, weil die Tests alle paar Jahre neu kalibriert werden, um den Durchschnitt bei 100 zu halten, aber sie deuten darauf hin, dass die gemessenen intellektuellen Fähigkeiten mit Veränderungen in der pädagogischen Unterstützung und anderen Aspekten des sozialen Umfeldes verbessert werden können. Diese Schlussfolgerung wird durch Studien untermauert die zeigen, dass einzelne IQ-Werte mit der richtigen Art von Training erheblich gesteigert werden können, wie zum Beispiel Computerspiele, die das Gedächtnis verbessern.
Wissenschaftliche Rassisten, von Goddard und Terman im frühen zwanzigsten Jahrhundert über Richard Herrnstein und Charles Murray, Autoren von The Bell Curve in den 90er Jahren, bis hin zum ehemaligen Wissenschaftsjournalisten der New York Times, Nicholas Wade, vermengen die irrtümlichen Argumentation über Intelligenz mit irrtümlicher Argumentation über Rasse.10 Sie argumentieren, dass Unterschiede in den durchschnittlichen IQ-Werten zwischen verschiedenen „Rassengruppen“ weitgehend auf genetische Unterschiede zurückzuführen seien. Doch niemand kann spezifische genetische Unterschiede feststellen, daher beruft man sich indirekt auf Beweise, wie zum Beispiel Studien an eineiigen Zwillingen, die seit der Geburt getrennt aufgezogen werden, die angeblich zeigen, dass es eine höhere Korrelation zwischen den IQ-Werten der Zwillinge gebe als zwischen Kindern, die nicht verwandt seien. Aber selbst die besten dieser Studien sind methodisch zweifelhaft, denn obwohl die Zwillinge getrennt aufgezogen wurden, wurden sie in der Regel immer noch in ähnlichen sozialen Umfeldern aufgezogen. Aber in Fällen, wo eineiige Zwillinge in Haushalten aufgezogen wurden, die sich in Bezug auf den Bildungsstand und die soziale Klasse unterschieden, wurden große Unterschiede in den IQ-Werten beobachtet.11
Unabhängig von den Ergebnissen der Zwillingsstudien gibt es keinen Grund zur Annahme, dass rassische Unterschiede in den IQ-Werten eine genetische Erklärung haben – ganz im Gegenteil.12 Selbst wenn die Vererblichkeit einer Eigenschaft hoch ist und selbst wenn es einen messbaren Unterschied in dieser Eigenschaft zwischen den Gruppen gibt, ist es falsch daraus zu schließen, dass der Unterschied auf genetische Unterschiede zwischen den Gruppen zurückzuführen sei. Zum Beispiel hat die Körpergröße ein hohes Maß an Vererblichkeit – man ist eher groß, wenn man große Eltern hat, und klein, wenn man kleine Eltern hat. Wenn jedoch eine Gruppe von Individuen im Durchschnitt größer ist als eine andere, ist es dennoch möglich, dass der Unterschied ausschließlich auf Umweltfaktoren zurückzuführen ist. In vielen Ländern hat die durchschnittliche Körpergröße im Laufe des letzten Jahrhunderts zugenommen. Die 1900 geborenen Norweger waren im Durchschnitt kleiner als die 2000 geborenen Norweger. Aber die Erklärung ist nicht, dass es eine Veränderung im Genpool gab. Die Zunahme ist auf eine verbesserte Ernährung und Gesundheitsversorgung zurückzuführen.
Es gibt eine sehr starke Korrelation zwischen IQ und der Leistung bei akademischen Leistungstests, und es gibt eine Schwarz-Weiß-Lücke zwischen den Ergebnissen der Leistungstests für Lesen und Mathe in den Vereinigten Staaten, wobei Schwarze im Durchschnitt deutlich schlechter abschneiden als Weiße. Aber diese Lücke hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnten deutlich verringert. Im Jahr 1963 war es etwa eine Standardabweichung, aber bis 2003 hatte es sich auf eine halbe Standardabweichung reduziert.13 Was während der Zeit geschah war, dass sich die Kluft zwischen den Bildungsressourcen und den Möglichkeiten für Schwarze und Weiße ebenfalls verringerten. Allerdings sind die Diskrepanzen nach wie vor enorm, so dass es keinen Grund zu der Annahme gibt, dass die Leistungslücke bestehen bleiben würde, wenn sie vollständig beseitigt werden sollten.14 Versuche die Lücke durch Berufung auf unbekannte genetische Unterschiede zu erklären, dienen nur als Abdeckung für konservative Angriffe auf Programme (vom Head Start bis zu Fördermaßnahmen zugunsten benachteiligter Gruppen), die darauf abzielen, Bildungsungleichheiten abzubauen.
Die soziale Gestaltung der Rasse
Es gibt einen noch wesentlicheren Grund, genetische Erklärungen von Leistungsunterschieden zwischen „Rassengruppen“ abzulehnen: Rasse selbst ist keine biologische Kategorie. Trotz des weit verbreiteten Glaubens, dass Rassismus die ganze Menschheitsgeschichte über existiert habe, ist der Begriff der Rasse ein ziemlich neuer. Der Begriff findet sich weder in Texten der Antike noch in den Reiseschriften von Marco Polo aus dem vierzehnten Jahrhundert. Seine erste bekannte Verwendung in der englischen Sprache stammt aus dem frühen 16. Jahrhundert, zeitgleich mit der Geburt des modernen Kolonialismus und des transatlantischen Sklavenhandels. In Nordamerika begann sich die Rassenkodifizierung im siebzehnten Jahrhundert durchzusetzen, als Reaktion auf bewaffnete Aufstände, wie 1676 die Rebellion von Bacon in Virginia, die arme Weiße und Schwarze gegen die kolonialen Eliten verband. Als Reaktion darauf griffen die herrschenden Klassen zu einer Politik des Teilens und Herrschens, indem sie Sklavenkodexe zur Disziplinierung der Schwarzen verordneten, während sie den armen Weißen kleine Privilegien gewährten. Vor dem Ende des Jahrhunderts verkündete das Virginia Abgeordnetenhaus, dass alle Weißen den Schwarzen überlegen seien, die zu diesem Zeitpunkt zu Sklaven geworden waren, und verabschiedete ein Gesetz, das von den Herren verlangte, dass sie den weißen Dienern Geld, Vorräte und Land zur Verfügung stellen, wenn sie ihre Zeit der verträglichen Verpflichtung beendet hätten.15 Der Historiker Theodore Allen beschreibt diese Entwicklung als „die Erfindung der weißen Rasse“. Allen führte eine Untersuchung der kolonialen Aufzeichnungen aus dem siebzehnten Jahrhundert durch und „fand keinen Hinweis auf die offizielle Verwendung des Wortes ‚Weiß‘ als Zeichen des sozialen Status, bevor es 1691 in einem Gesetz in Virginia verabschiedet wurde“.16
Der Sinn der Skizzierung dieser Geschichte soll verdeutlichen, dass Rasse eine gesellschaftspolitische Kategorie ist, nicht eine biologische. Zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten wurden die Rassengrenzen auf sehr unterschiedliche Weise gezogen. Darüber hinaus können die Grenzen zwar oberflächlichen Unterschieden (Hautfarbe, Aussehen usw.) entsprechen, haben aber keine tiefere biologische Bedeutung. Wie Dorothy Roberts sagt:
Wie die Staatsbürgerschaft ist auch die Rasse ein politisches System, das die Menschen beherrscht, indem es sie in soziale Gruppen einteilt, die auf erfundenen biologischen Abgrenzungen basieren. Rasse wird nicht nur nach erfundenen Regeln interpretiert, sondern, was noch wichtiger ist, Rasse selbst ist eine erfundene politische Gruppierung. Rasse ist keine biologische Kategorie, die politisch aufgeladen ist. Es handelt sich um eine politische Kategorie, die als eine biologische getarnt ist.17
Dorothy Roberts
Eine Erklärung der American Anthropological Association aus dem Jahr 1997 lautet:
„genetische Daten . . . zeigen, dass, egal wie rassische Gruppen definiert werden, zwei Menschen derselben Rassengruppe ungefähr so unterschiedlich sind, wie zwei Menschen aus zwei verschiedenen Rassengruppen.“18
Der Mythos der biologischen Rassen
Dennoch bleibt der Begriff der Rasse als biologische Kategorie bestehen. Zum Beispiel kategorisieren viele medizinische Forschungen die Menschen nach der selbstbestimmten Rasse. Bis in die 1960er Jahre waren in den Vereinigten Staaten fast alle Studienteilnehmer im medizinischen Bereich weiße Männer. Die Bürgerrechtsbewegung und die Frauenbewegung forderten, dass die Studienteilnehmer aus einem breiteren und vielfältigeren Pool ausgewählt werden, auch weil die Wahrscheinlichkeit, dass die an der Forschung beteiligten Personen die Leistungen erhalten höher ist, wenn sie zu einem medizinischen Fortschritt führt. Heute ist es eine Anforderung der meisten vom Bundesstaat finanzierten Studien, dass sie Teilnehmer mit mehr als einem rassischen Hintergrund umfassen und, dass sie die Ergebnisse nach Rasse analysieren. Die Einbeziehung von mehr nicht-weißen Studienteilnehmern in die medizinische Forschung ist eine gute Sache, aber sie hat dazu geführt, dass die Vorstellung verstärkt wurde, dass es biologisch bedeutsame Unterschiede zwischen den verschiedenen Rassengruppen gäbe.
Der Mythos, dass Weiße und Afroamerikaner sich in ihrer Reaktion auf die gleiche medizinische Behandlung unterscheiden oder unterschiedliche Schmerzempfinden haben, ist in der Ärzteschaft weit verbreitet. Eine Studie von Medizinstudenten und Assistenzärzten aus dem Jahr 2016, die von einem Team von Psychologen der University of Virginia durchgeführt wurde, ergab zum Beispiel, dass:
“eine beträchtliche Anzahl von weißen Medizinstudenten und Assistenzärzten falsche Ansichten über biologische Unterschiede zwischen Schwarzen und Weißen haben (z.B. dass die Haut von Schwarzen dicker sei; dass das Blut von Schwarzen schneller gerinnt), die sich darauf auswirken könnten, wie sie den Schmerz von schwarzen Patienten einschätzen und behandeln”.
Die Forscher fanden heraus, dass die Hälfte ihrer Probanden einen oder mehrerer dieser falschen Überzeugungen folgten, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie niedrigere Schmerzbewertungen für schwarze Patienten melden und niedrigere Dosen von Schmerzmitteln verschreiben würden.19
Da wir in einer rassistischen Gesellschaft leben, gibt es in der Tat erhebliche Unterschiede in den Gesundheitsergebnissen zwischen Weißen und Angehörigen rassistisch unterdrückter Gruppen, selbst wenn es Kontrollen für sozioökonomische Faktoren gibt. Aber diese Unterschiede sind auf systemische Unterdrückung zurückzuführen, nicht auf die Biologie. Da der Mythos, dass die Rasse eine biologische Bedeutung hat, nach wie vor weit verbreitet ist, wird die Forschung manchmal darauf gelenkt, nach genetischen Ursachen für die Diskrepanzen zu suchen, anstatt ihre sozialen Wurzeln zu entdecken und zu versuchen sie zu überwinden. Selbst wenn es eindeutige Umweltursachen für Krankheiten gibt, wie z.B. bei Asthma im Kindesalter, fließt immer noch Geld in die Forschung, um genetische Erklärungen zu finden, die erklären, warum schwarze und dunkelhäutige Kinder häufiger unter der Krankheit leiden, als ihre weißen Altersgenossen. Wie Roberts bemerkt:
Ein Hauptgrund, warum genetische Erklärungen über soziale Erklärungen gestellt werden ist, dass genetische Ursachen mit einem pharmazeutischen Produkt behandelt werden können. Die automatische Reaktion auf krankheitserregende Gene besteht darin, ein Medikament zu entwickeln, das sie bekämpft. Man findet einen Bericht über eine Genentdeckung genauso wahrscheinlich im Wirtschaftsteil einer Zeitung wie im Wissenschaftsteil.20
Der Einfluss der Unternehmensgewinne auf das, was erforscht wird und wie die Ergebnisse interpretiert werden, wird durch das Interesse von Pharmaunternehmen, die „rassenspezifische“ Medikamente vermarkten, noch verstärkt. Im Jahr 2005 genehmigte die US Food and Drug Administration das Herzmedikament BiDil für die Verwendung speziell durch Afroamerikaner, obwohl es keine ernsthaften Hinweise darauf gab, dass es unterschiedliche Wirkungen auf Grund einer vermeidlichen Rasse hätte. Das Medikament war ein kommerzieller Misserfolg, aber die Tür wurde geöffnet, damit mehr Medikamente auf der Grundlage der Rasse vermarktet werden könnten.21
Die Vorstellung das Rasse biologisch sei, wurde auch von Menschen gefördert die Abstammung mit Rasse verwechseln, auch von denen, die es besser wissen sollten. So veröffentlichte der Harvarder Genetiker David Reich Anfang des Jahres [2018] in der New York Times einen Artikel mit dem Titel „How Genetics is Changing Our Understanding of ‚Race‘“ („Wie die Genetik unser Verständnis von ‚Rasse‘ verändert“).22 Reich ist einer der weltweit führenden Experten für uralte DNS. Laut einem ausführlichen Profil von ihm, das in der Times einige Tage vor seinem eigenen Artikel veröffentlicht wurde, heißt es:
„Reichs Labor hat DNS aus den Genomen von 938 uralten Menschen veröffentlicht – mehr als alle anderen Forschungsteam, die auf diesem Gebiet arbeiten zusammen. Die Arbeit in seinem Labor hat unser Verständnis von der menschlichen Vorgeschichte neu gestaltet.“23
Die Analyse der DNS unserer Vorfahren liefert unschätzbare Einblicke in ihre wahrscheinlichen Migrationsmuster und ihre Evolution. Reichs Arbeit im Bereich der Paläoanthropologie ist wegweisend und von unschätzbarem Wert, aber leider kann man das Gleiche nicht von seinen Ansichten über Rasse sagen.
Reich (der auch der Sohn des ersten Direktors des Holocaust-Memorial-Museums ist) räumt ein, dass „Rasse ein soziales Konstrukt ist“ und akzeptiert, dass genetisch gesehen die menschliche Bevölkerungsgruppen sehr ähnlich seien. Er äußert auch „tiefes Verständnis für die Sorge, dass genetische Entdeckungen zur Rechtfertigung von Rassismus missbraucht werden könnten“. Aber er weist die Ansicht zurück, dass „die durchschnittlichen genetischen Unterschiede zwischen den Menschen, die nach den heutigen Rassenbegriffen gruppiert sind, so geringfügig seien, wenn es um sinnvolle biologische Merkmale gehe, dass diese Unterschiede ignoriert werden könnten“, was seiner Meinung nach zu einer neuen Orthodoxie geworden sei. Nachdem Reich sich also zunächst darauf eingelassen hat, dass Rasse sozial konstruiert sei, macht er sofort einen Rückzieher, indem er behauptet, dass es erhebliche biologische Unterschiede zwischen verschiedenen Rassengruppen gäbe.
In Wirklichkeit bestätigen die Beweise aus der Genetik, die wir aus der Anthropologie und Paläontologie haben: Wir sind alle Afrikaner.24 Der moderne Mensch hat sich in Afrika vor etwa 200.000 Jahren entwickelt. Vor etwa 65.000 bis 70.000 Jahren begannen Gruppen von Menschen in aufeinanderfolgenden Wellen aus Afrika zu wandern, zuerst in den heutigen Nahen Osten, dann nach Asien und Europa und schließlich nach Nord- und Südamerika. Da es sich bei den wandernden Gruppen um Untergruppen der gesamten Bevölkerung handelte, enthielten sie weniger genetische Vielfalt als die ursprüngliche Bevölkerung. Neue genetische Varianten sind in den Bevölkerungsgruppen entstanden, die Afrika verlassen haben, aber da unsere Spezies für die ersten zwei Drittel ihrer Existenz nur in Afrika lebte und sich die Menschen langsam über den Globus ausbreiteten, entsprechen die genetischen Veränderungen, die sich in verschiedenen Bevölkerungsgruppen entwickelt haben, überhaupt nicht den traditionellen Rassen. Darüber hinaus gab es immer wieder erhebliche Vermischung zwischen den verschiedenen menschlichen Untergruppen. Wie der Psychologe Paige Harden feststellt: „Abstammungsforschung … ermöglicht ununterbrochenere und detailliertere Unterschiede als unsere relativ groben Rassenkategorien. Die Abstammungskomponenten, die Genetiker am häufigsten in ihre Analysen einbeziehen, unterscheiden feinkörnig zwischen Menschen, die heute in den USA alle als ‚Weiße‘ in einen Topf zusammengeworfen werden“.25
David Reich hat Recht, wenn er sagt, dass genetische Unterschiede zwischen menschlichen Untergruppen andere Unterschiede zwischen ihnen erklären können (wie er sagt: „Wir wissen jetzt, dass genetische Faktoren helfen zu erklären, warum Nordeuropäer im Durchschnitt größer als Südeuropäer sind“), aber die in Frage kommenden Untergruppen sind keine Rassen. In einer Antwort an Reich stellte eine Gruppe von 67 Naturwissenschaftlern und Forschern fest, dass Menschen westafrikanischer Abstammung „eine höhere Häufigkeit einer Version eines bestimmten Gens haben können, die mit einem höheren Risiko für Prostatakrebs verbunden ist. Aber auch viele Menschen, die nicht westafrikanischer Abstammung sind, haben das selbe Gen. Wir nennen nicht diese anderen Menschen eine ‚Rasse‘ noch sagen wir, dass ihre ‚Rasse‘ für ihren Zustand relevant sei. Eine hohe Verbreitung einer bestimmten genetischen Variante in einer Gruppe zu finden, macht diese Gruppe nicht zu einer ‚Rasse‘.“26
Obwohl er „tiefes Verständnis für die Sorge, dass genetische Entdeckungen zur Rechtfertigung von Rassismus missbraucht werden könnten,“ äußert, hat Reichs schlampiger Gebrauch des Begriffs „Rasse“ genau diesem Vorschub gleistet. Innerhalb weniger Tage nach der Veröffentlichung seines Artikels hatte Michael Barone vom American Enterprise Institute – das auch Charles Murray beschäftigt – einen Artikel geschrieben, in dem er argumentierte, dass Reichs Werk das Argument unterstütze, dass „Rassenquoten und Präferenzen“ aufgegeben werden sollten.27 In ähnlicher Weise haben sowohl Murray selbst, als auch der Autor Sam Harris, den Link zu Reichs Artikel getwittert und behauptet, dass er ihre Kritiker widerlege. Harris, der sich ursprünglich als Führer der „neuen atheistischen“ Bewegung profilierte, ist inzwischen – zusammen mit anderen prominenten „neuen Atheisten“ – nahe an die „alt-right“-Bewegung [etwa „alternative Rechte“ – Anm. d. Red.] herangerückt.28
Dieser Artikel hat einige der Schlüsselargumente von wissenschaftlichen Rassisten und das, was mit ihnen nicht stimmt, untersucht. Aber wie eingangs erwähnt, reicht es nicht aus, die Argumente zu widerlegen. Die Überwindung der jüngsten Wiederbelebung des wissenschaftlichen Rassismus erfordert nicht nur gute Argumente, sondern auch die Niederschlagung der rechten Bewegungen, mit denen er verbunden ist. Und die Überwindung des wissenschaftlichen Rassismus an seinen Wurzeln erfordert eine radikale Veränderung der Gesellschaft, die Rassenungleichheit erzeugt und von ihr abhängt.
- Nicole Hemmer, “‘Scientific Racism’ Is on the Rise on the Right. But It’s Been Lurking There for Years.” Vox, 28. März 2017. https://www.vox.com/the-big-idea/2017/3/28/15078400/scientific-racism-murray-alt-right-black-muslim-culturetrump. Gavin Evans, “The Unwelcome Revival of ‘Race Science’,” Guardian, 2. März 2018. https://www.theguardian.com/news/2018/mar/02/the-unwelcome-revival-of-race-science.
- Edward Burmila, “Scientific Racism Isn’t ‘Back’: It Never Went Away,” Nation, 6. April 2018, https://www.thenation.com/article/scientific-racism-isnt-back-it-never-went-away/.
- See, for instance, Allen Chase, The Legacy of Malthus: The Social Costs of the New Scientific Racism (Knopf, 1977); Stephen Jay Gould, The Mismeasure of Man, revised ed. (New York: W. W. Norton & Co., 1996) (in deutscher Sprache: Der falsch vermessene Mensch. Birkhäuser, Basel u. a. 1983); und Michael Yudell, Race Unmasked: Biology and Race in the Twentieth Century (New York: Columbia University Press, 2014).
- Dorothy Roberts, Fatal Invention: How Science, Politics, and Big Business Re-Create Race in the Twenty-First Century (New York: The New Press, 2011), 50.
- Sean Braswell, “Thomas Jefferson: Founding Father … White Supremacist?” OZY, 15. August 2007, https://www.ozy.com/flashback/thomas-jefferson-founding-father-white-supremacist/79574.
- Zitiert in Evans, “The Unwelcome Revival of ‘Race Science.’” Für weitere Ausführungen über Binets Arbeit, siehe Theta H. Wolf, Alfred Binet (University of Chicago Press, 1973).
- Zitiert in Gould, The Mismeasure of Man, 212.
- Howard Gardner, Frames of Mind: The Theory of Multiple Intelligences (New York: Basic Books, 1983) und Multiple Intelligences: New Horizons in Theory and Practice (New York: Basic Books, 2006).
- James R. Flynn, What Is Intelligence? Beyond the Flynn Effect, Erweiterte Auflage (Cambridge, England: Cambridge University Press, 2009).
- Richard Herrnstein and Charles Murray, The Bell Curve: Intelligence and Class Structure in American Life (New York: Free Press, 1994). Nicholas Wade, A Troublesome Inheritance: Genes, Race and Human History (New York: Penguin Press, 2014). Für eine Kritik an Herrnstein und Murray, siehe Gould, The Mismeasure of Man. Für eine Kritik an Wade, siehe Rob DeSalle and Ian Tattersall, Troublesome Science: The Misuse of Genetics and Genomics in Understanding Race (New York: Columbia University Press, 2018).
- Evans, “The Unwelcome Revival of ‘Race Science.’”
- Eric Turkheimer, Kathryn Paige Harden, und Richard E. Nisbett, “There’s Still No Good Reason to Believe Black-White IQ Differences Are Due to Genes,” Vox, 15. Juni 2017. https://www.vox.com/the-big-idea/2017/6/15/15797120/race-black-white-iq-response-critics.
- Turkheimer, et al.
- Lindsey Cook, “US Education: Still Separate and Unequal,” US News & World Report, 25. Januar 2015. https://www.usnews.com/news/blogs/data-mine/2015/01/28/us-education-still-separate-and-unequal.
- Howard Zinn, A People’s History of the United States (New York: HarperPerennial, 2003) (in deutscher Sprache: Eine Geschichte des amerikanischen Volkes. Gesamtausgabe. Schwarzerfreitag, 2007), Kapitel 2, “Drawing the Color Line.”
- “Summary of the Argument of The Invention of the White Race,” Cultural Logic 1, Nr. 2 (Frühjahr 1998), https://clogic.eserver.org/1-2/allen. Für mehr über die soziale Konstruktion der Rasse, siehe George M. Fredrickson, Racism: A Short History (Princeton, NJ: Princeton University Press, 2002); Roberts, Fatal Invention; und Karen E. Fields und Barbara J. Fields, Racecraft: The Soul of Inequality in American Life (London: Verso, 2012).
- Roberts, Fatal Invention, 4.
- Quoted in Roberts, Fatal Invention, 53.
- Fariss Samarrai, “Study Links Disparities in Pain Management to Racial Bias,” UVAToday, 4. April 2016, https://news.virginia.edu/content/study-links-disparities-pain-management-racial-bias.
- Roberts, Fatal Invention, 146.
- Jonathan Kahn, Race in a Bottle: The Story of BiDil and Racialized Medicine in a PostGenomic Age (New York: Columbia University Press, 2012).
- David Reich, “How Genetics is Changing Our Understanding of ‘Race’,” New York Times, 25. März 25, 2018, https://www.nytimes.com/2018/03/23/opinion/sunday/genetics-race.html.
- Carl Zimmer, “David Reich Unearths Human History Etched in Bone,” New York Times, 20. März 2018, https://www.nytimes.com/2018/03/20/science/david-reich-human-migrations.html.
- Daniel J. Fairbanks, Everyone is African: How Science Explodes the Myth of Race (Amherst, NY: Prometheus Books, 2015).
- Turkheimer, et al.
- “How Not to Talk About Race and Genetics,” Buzzfeed, 30. März 2018, https://www.buzzfeed.com/bfopinion/race-genetics-david-reich. Die Autoren sind “Wissenschaftler aus Disziplinen der Naturwissenschaften, Medizin- und Bevölkerungsgesundheitswissenschaften, Sozialwissenschaften, Rechts- und Geisteswissenschaften.”
- “How Genetic Science Is Undercutting the Case for Racial Quotas,” Washington Examiner, 4. April 2018, https://www.washingtonexaminer.com/opinion/columnists/michael-barone-how-genetic-science-is-undercutting-the-case-for-racial-quotas.
- Phil Torres, “From the Enlightenment to the Dark Ages: How ‘New Atheism’ Slid into the Alt-right,” Salon, 29. Juli 2017, https://www.salon.com/2017/07/29/from-the-enlightenment-to-the-dark-ages-how-new-atheism-slid-into-the-alt-right/.
2 Antworten
Verwechselt wird es mit Kulturen. Eine Städtische Multikulti Gesellschaft hat keine Kultur und ist bei einem Zusammenbruch der Infrastruktur hilflos der Natur ausgesetzt und die wird dann wüten das Milliarden Menschen dahin gerafft werden können.
Wenn die ganze Erde eine Stadt wäre, dann wäre die Erde eine Wüste.
If the whole earth were a city, then the earth would be a desert.