Der vorerst letzte Kampf – Kommt der Ein-Mann-Staat?

Wenn im April die TürkInnen zu den Wahlurnen gebeten werden, geht es um nichts geringeres als ihr politisches System. Zur Abstimmung steht die parlamentarische Demokratie, die nach Wunsch der regierenden AKP zugunsten ihres Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in ein präsidentielles System umgebaut werden soll. Die spätestens durch den gescheiterten Militärputsch und den anhaltenden Ausnahmezustand kaum noch existente türkische Demokratie würde durch die Verfassungsänderung den endgültigen Todesstoß bekommen. Für alle Kräfte im Land, die sich gegen das System Erdoğan zu stellen versuchen, könnte dieser Kampf der vorerst letzte sein, denn in einem Präsidialstaat wäre wohl auch formal das Ende der Demokratie besiegelt.

Als wäre die türkische Gesellschaft nicht schon gespalten genug, diskutiert man überaus kontrovers im Lande, ob der radikale Plan der Regierung praktisch auch Legislative und Judikative in die Hand eines exekutiv agierenden Präsidenten zu legen, unterstützt werden sollte. Während die Befürworter der Verfassungsänderung den politischen und gesellschaftlichen Pluralismus der Türkei seit Langem verschmähen und bekämpfen, wissen Kritiker um die immense Tragweite dieses Vorschlages. 339 von 550 Abgeordneten im türkischen Parlament stimmten dafür, 142 dagegen, unter ihnen die größte Oppositionspartei Republikanische Volkspartei (CHP) und die linke pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP), die das Votum allerdings boykottierte. Elf Parlamentarier der HDP sitzen unter Terrorismusvorwürfen in Gefängnissen, darunter auch die beiden Parteivorsitzenden. Nur die rechtsextreme Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) erklärte sich nach vielen Verhandlungen mit der Spitze der AKP-Regierung, dem Ministerpräsidenten Binali Yıldırım und dem Präsidenten höchstpersönlich, bereit, den Umbau mitzutragen. Die kürzlich in der Nationalversammlung beschlossene Billigung des Entwurfes wird nun im April der türkischen Wählerschaft übergeben, nicht ohne noch einmal deutlich zu machen, was „ja“ oder „nein“ respektive bedeutet: eine starke Türkei oder der Sieg des Terrorismus.

Es ist tatsächlich eine Schicksalsfrage, die die AKP dem Wahlvolk zur Abstimmung vorliegt. Die Rhetorik, mit der die Fronten klargezogen werden sollen, erinnern stark an den erbarmungslosen autoritären Kurs der AKP der letzten Jahre. AKP-Sprecher Numan Kurtulmus hob diese Dichotomie nochmal hervor: „Wer mit ‚ja‘ stimmt, wird die Stimme der Terroristen für immer zum Schweigen bringen“. Unterstützt wird das „ja“ von einer losen Allianz aus erzkonservativen, islamistischen, und nationalistischen Akteuren, die der Elite um Präsident Erdoğan nahestehen. Interessant ist der Block aus islamistischer AKP und der rechtsextremen MHP, ohne den der Parlamentsbeschluss zur Verfassungsänderung rechnerisch gar nicht machbar gewesen wäre. Nicht nur stimmt(e) die MHP ihrer eigenen Entmachtung als Parlamentspartei zu, als ultranationalistische Kraft konkurrierte sie auch seit Gründung der AKP um jene Wähler rechts und weit rechts der Mitte, die der AKP stetig zur Mehrheit mitverhalfen. Ideologische Schnittmengen wie der Kampf gegen angebliche Feinde der türkischen Nation, darunter „alte Kemalisten“, Liberale, Linke, und ethnische Minderheiten, beispielsweise die Kurden, führte die beiden zusammen.

Neben der Aussicht auf ein Stück des „Macht-Kuchens“ muss die AKP noch mehr gegen die eigentlich gespaltene MHP in der Hand haben, was genau liegt wohl im Bereich der Spekulationen. Mit Inkrafttreten des präsidentiellen Systems dürfte der neofaschistische Parteiführer der MHP, Devlet Bahçeli, zum Vize-Präsidenten der Republik aufsteigen. Damit wäre die sozio-politisch pluralistische Türkei ausschließlich und auf unbestimmte Zeit von Islamisten und Ultranationalisten regiert, ohne echte Teilhabemöglichkeiten für abweichende politische Strömungen. Institutionell verankerte Macht hätten diese oppositionellen Kräfte mit Abschaffung des parlamentarischen Systems nicht mehr, die politische Meinungsbildung über den demokratischen Wettbewerb im Parlament fällt faktisch weg, die Entscheidungsfindung zentriert sich im Präsidentenpalast.

Die Mitstreiter Erdoğans aus AKP und MHP erhalten durch die von der Regierung kontrollierten Massenmedien ein wirksames Sprachrohr, können sie so die öffentliche Meinung entscheidend steuern. Wer keine balanciertes Informationsangebot geboten bekommt, kann auch kein ausgewogenes Urteil fällen, ein Problem, das die Türkei in den vergangenen Jahren besonders schmerzlich erfahren musste. Noch immer geht der Gegenputsch der regierungstreuen Justiz weiter, mehr als 150 Medien wurden geschlossen, mindestens genauso viele JournalistInnen und PublizistInnen befinden sich in Haft, und die Säuberungen gegen vermeintliche Kritiker nehmen kein Ende. Zudem findet das Referendum in Zeiten eines Ausnahmezustandes statt, der nun mindestens bis zum 19. April 2017 gelten wird. Kritische Einwände gegen den Entwurf können kaum effektiv wahrgenommen werden. Demonstrationen, Kundgebungen, und andere öffentliche Kampagnen für ein „nein“ können nur mit Genehmigung der Behörden stattfinden, Oppositionsgruppen bleiben nur die sozialen Medien.

Ein folgenreicher Staatsumbau

Schicksalsentscheidung in der Türkei – Foto: William John Gauthier, CC BY-SA 2.0, Turkish flag, via flickr.com

Der Plan sieht vor, das Amt des Regierungschefs und des Staatsoberhauptes zusammenzulegen. Der Präsident als Staatschef hätte dann nicht nur repräsentative Aufgaben, sondern wäre auch per Verfassung der stärkste Mann im Staat. Eine Übergangsphase von zwei Jahren soll die parlamentarische Türkei in eine auf einen Mann zugeschnittene präsidentielle Autokratie machen. 2019 würde der aktuelle Ministerpräsident Yıldırım sein Amt dem Präsidenten übergeben, der dann bis 2029 herrschen könnte. Er könnte jederzeit das Parlament auflösen und er dürfte Mitglied einer Partei sein, was die türkische Verfassung derzeit nicht vorsieht. Der pluralistische, demokratische Rechtsstaat mit Gewaltenteilung („checks and balances“) wäre damit aufgelöst.

Natürlich kann angesichts der harschen Repression und den exzessiven Säuberungen davon ohnehin kaum noch die Rede sein. Durch den vom Volk dann womöglich legitimierte Verfassungsumbau wäre dieser demokratische Rechtsstaat endgültig verschwunden. Als Chef der Exekutive dürfte er 12 von 15 Verfassungsrichtern ernennen, ebenso die Dekanatsleitungen der Universitäten. Dies sind weitreichende Kompetenzen, die im internationalen Vergleich der größeren Demokratien mehr als ungewöhnlich sind. Nicht einmal die ebenfalls als Präsidialdemokratie funktionierenden Vereinigten Staaten sind mit dem der möglicherweise zukünftigen Türkei vergleichbar, sind dort die für eine Demokratie üblichen Kontrollmechanismen zwischen den einzelnen Institutionen (Exekutive, Legislative, Judikative) noch gegeben. Trotz der faktischen Entmachtung des Parlaments wird seine Zahl von 550 auf 600 Abgeordnete steigen, das Einzugsalter für Kandidaten in die türkische Nationalversammlung von 25 auf 18 Jahre gesenkt.

Die letzten Jahre haben auf spektakuläre Art und Weise gezeigt, wie es mit der Stabilität im Land rasant bergab gegangen ist. Terrorismus und der Putschversuch sind Produkte der Politik, die vor allem auch die AKP zu verantworten hat, wie auch der Politikwissenschaftler Ismail Küpeli in einem Beitrag beschreibt. Viele der Konflikte, unter denen die Türkei heute leidet, sind von der Regierung und Präsident Erdoğan selbstgemachte und politisch teilweise gewollte Probleme. In turbulenten Zeiten fordert die Mehrheit einen starken Mann, den gibt es bereits, doch dieser braucht noch weit mehr Machtbefugnisse um autokratisch durchzuregieren, als es das aktuelle System ihm bieten kann. Auch deshalb wird die Frage nach dem präsidentiellen System als eine existenzielle für das türkische Volk diskutiert. Fakt ist, die Lage ist beunruhigend, allein die Sicherheitslage hat sich drastisch verschlechtert. Sicherheit, Stabilität, und ein entschlossener Krieg gegen Staatsfeinde aller Art gibt es nur mit Präsident Erdoğan, auch hierbei wird die Regierungspartei mit ihrem unumstrittenen Führer leichteres Spiel haben.

Ein vergiftetes Klima

Eine in sich geschlossene Gegenbewegung, die dem Regierungslager gefährlich werden könnte, gibt es aus verschiedenen Gründen nicht. Tausende Parteianhänger der HDP sind in Haft, dadurch ist die bedeutendste linke und kurdische Kraft landesweit ausgeschaltet. Die kemalistische CHP leidet neben dem Führungsproblem auch an fehlender Integrität, vor allem in der Sache der verbannten HDP, der man nicht zur Seite zu stehen wollte. So bleibt das säkulare, liberale, und linke Lager mit all den unterschiedlichen sozio-politischen Gruppen, die es vertritt, fragmentiert und geschwächt. Zudem ist es mit der zuvor angesprochenen einseitigen, gleichgeschalteten Medienlandschaft konfrontiert.

Erdoğan – Der starke Mann. Foto: Global Panorama, licensed under CC BY SA 2.0, Recep Tayyip Erdogan, via flickr.com

Aktuelle Umfragen deuten auf ein enges Rennen hin, leichte Tendenz in Richtung „pro-Verfassungsänderung“, aber die TürkInnen sind in dieser Frage gespaltener, als man es bei Erdoğans Allmacht erwartet hätte. Vor allem während des Ausnahmezustandes nahm die Repression gegen kritische Stimmen, aus welchem „Lager“ sie auch immer kommen mögen, so dramatisch zu, dass viele Beobachter befürchten, die Staatsspitze wird alles nötige tun, um ihr „ja“ zu bekommen. Die Polarisierung innerhalb der türkischen Gesellschaft ist hoch, fast schon explosiv, denn wer es wagt, der Regierungsmeinung zu widersprechen, riskiert nicht nur eine Verhaftung, er sieht sich auch eine teils rasenden Bevölkerung gegenüber. Der Kult um den großen lider Tayyip Erdoğan führte dazu, dass das ohnehin schon angespannte politische Klima ganz vergiftet wurde, die letzten Jahre haben ihr übriges getan, sodass die Gräben kaum noch aufzuschütten sind.

Sollte es doch eine Mehrheit geben, die den Umbau des Staates ablehnt, wird auch das mit Konsequenzen verbunden sein. Präsident Erdoğan ließ bereits verlautbaren, dass er dann zu Neuwahlen aufrufen wolle, denn die Umsetzung des Präsidialsystems wäre mitnichten vom Tisch. Ein „nein“ wäre zunächst einmal eine Niederlage für die Regierungselite in Ankara, sie könnte die Opposition in ihrem Kampf gegen den Ein-Partei-Staat neuen Auftrieb geben, auch wenn ihre Startbedingungen und Gestaltungsmöglichkeiten im „System Erdoğan“ begrenzt sind. Auch bei Neuwahlen hat die AKP eine absolute Mehrheit zu erwarten, ernsthafte Konkurrenz aus dem links-liberalen Spektrum wäre bei den derzeitigen Verhältnissen nicht gegeben. Für die TürkInnen ist die Abstimmung im April über das politische System, in dem sie in Zukunft leben werden, daher eine Frage von herausragender Bedeutung: die Wahrung der repräsentativen Demokratie oder die Einrichtung des autoritären Ein-Mann-Staates?

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