Der IS wird in seinem Kampf nun zu Guerilla-Taktiken übergehen und wird sich auch weiterhin aus dem institutionalisierten Sektierertum des Staates nähren – solange bis die irakische Regierung endlich die konfessionellen Spaltungen überwindet und an einem Strang zieht.
Von Hassan Abu Haniyeh.
Am 17. Oktober 2016 begannen in Mossul blutigste Kämpfe, die mehr als acht Monate andauern sollten und die meisten Viertel der Stadt in ein Trümmerfeld verwandelten. Am 10. Juli schließlich verkündete der irakische Premierminister Haider al-Abadi den Sieg über den Islamischen Staat (IS).
Nach dem völligen Kollaps der irakischen Armee sowie der irakischen Polizeikräfte und nach deren Flucht am 10. Juni 2014 konnte der IS innerhalb von acht Stunden Mossul übernehmen, mit minimalem Aufwand an Kombattanten und Ausrüstung.
Die Eroberung der Stadt führte zu zwei wichtigen Entwicklungen. Erstens erließ der höchste schiitische Kleriker des Iraks, Großayatollah Ali al-Sistani, am 13. Juni 2014 eine heilige Fatwa – „Jihad al-Kafai“ –, die zur Unterstützung von Armee und Polizeikräften die Gründung einer Schiiten-Miliz forderte. Und zweitens wurde im September 2014 die von den USA geführte Internationale Anti-ISIS Allianz ins Leben gerufen mit dem Ziel, den IS aus Mossul und anderen Städten zu vertreiben, die er im Irak und Syrien kontrolliert.
Sichtlich glücklich über die Niederlage des IS verkündete Präsident Abadi Ende Juni und bei seinem Besuch in Mossul diese Woche das „Ende der Terroristen vom IS“ und versicherte, dass die irakischen Streitkräfte den IS auch weiter bis zum letzten Mitglied im Land verfolgen werden.
Die IS-Bombardierung der al-Nuri-Moschee und des al-Hadba-Minaretts, so sagte er, seien „vielmehr das Einläuten des Endes des kleinen und nichtigen IS-Staats“.
Die Realität zeigt jedoch, wie unglaubwürdig Abadis Aussagen sind. Die Niederlage und Vertreibung des IS aus Mossul bedeutet noch lange nicht das Ende des IS. Angesichts des politischen Tauziehens im Lande scheint es viel zu früh für Abadi, davon zu reden.
Überfälle, Explosionen und Selbstmordattentate
Vom Ende des IS im Irak zu sprechen, ist nichts als Wunschdenken und offenbart die Unkenntnis über die Natur des IS.
Es ist durchaus legitim, von einem vorübergehenden Ende des politischen Projekts des IS als „Staat“ zu sprechen, von den Macht- und Verwaltungsstrukturen, die große urbane Gebiete wie Mossul und Raqqa dominierten, und von dem Regierungssystem, welches auf der Grundlage der klassischen Kriegsführung durch militärische Gewalt implementiert wurde.
Doch wird der IS nun zu seinem ursprünglichen Design zurückkehren und seine Präsenz als „Organisation“ – mitsamt Ideologie, Organisationsstruktur und Finanzierung – aufrechterhalten, die hauptsächlich auf den Taktiken des Guerillakriegs und der Zermürbung basiert.
Neben der Fähigkeit des IS, sich wieder und wieder dem Verlauf des Krieges anzupassen, kontrolliert er noch immer große Gebiete. Die irakischen Streitkräfte und die Internationale Allianz bereiten sich nach Mossul auf viele weitere Schlachten vor, um den IS aus seinen im Irak kontrollierten Territorien zu vertreiben. Hinzu kommt die Komplexität der Schlachten in Syrien und der Kampf, dessen Zeuge wir im Moment im syrischen Raqqa werden.
Der IS kontrolliert noch immer eine Reihe von Gebieten im Irak, vor allem Hawija im Kirkuk-Gouvernement im Norden des Landes, und Teile von al-Shirqat im Saladin-Gouvernement, Tal Afar im Westen Mossuls in der Provinz Ninive und al-Qa’im im al-Anbar-Gouvernement.
Wenn der IS diese Gebiete verliert, wird er sich einfach wieder in eine bewaffnete Organisation umwandeln, die sich in unkonventioneller Kriegsführung ergeht.
Mit dem Ende des IS als Staatsprojekt wird die Gruppe zu ihrer Realität als Terrororganisation zurückkehren, mit den Strategien der Zerstörung und der Guerilla-Taktik, die er entwickelt hatte, noch bevor Städte im Irak und in Syrien erobert wurden und vor der Staatsausrufung.
Diese Strategien beruhen auf schnellen Killerkommandos, improvisierten Sprengladungen, Autobomben und Selbstmordattentätern, die sich in Undercover-Zellen verborgen unter Zivilisten verstecken. Der Militärrat des IS hat ein Modell der hybriden Kriegsführung entwickelt, das sich schnell an veränderte Gegebenheiten auf dem Feld anpassen und von der klassischen Schlacht auf diese Art des Guerillakriegs zurückkehren kann, der auf agilen Kämpfern beruht, die effektiv in der Lage sind, angreifende Kräfte zu zermürben.
Die wahre Schlacht
Mit seinen taktischen Fähigkeiten könnte man sagen, dass der IS als jihadistische Organisation autark ist. Die tatsächliche Macht des IS kommt jedoch in erster Linie aus der politischen Krise des Iraks in Folge der US-Besatzung – aus der „Sunnitenkrise“.
Mit dem Auftauchen der „konfessionellen Frage“ und der Dominanz eines diktatorischen schiitischen Regimes wurden die Sunniten vom politischen Prozess des Landes ausgeschlossen.
Die Zukunft des IS im Irak hängt also vom Erfolg des politischen Prozesses in einem ethnisch gespaltenen Land ab.
Die wirkliche Herausforderung beginnt erst mit dem Ende der militärischen Operationen. Es fehlt an einer klaren politischen Vision für die Verwaltung von Mossul und anderen sunnitischen Städten, zusätzlich zu dem Fehlen von praktikablen Plänen, Ressourcen und finanziellen Mittelzuweisungen, die die Frage des Wiederaufbaus und der Rückkehr der Vertriebenen auf den Tisch legen.
Es ist unwahrscheinlich, dass die irakische Regierung in der Lage sein wird, ihre Versprechen an die verwüsteten sunnitischen Gouvernements zu erfüllen. Die Vertrauenskrise zwischen den sunnitischen und schiitischen Teilen wird sich weiter verschärfen.
Das Ende des IS im Irak ist in weiter Ferne. In Wirklichkeit tragen die krassen Widersprüche des Iraks zu seiner Instabilität bei und könnten dieselben Bedingungen reproduzieren, die zum Aufstieg des IS und seiner Kontrolle über große Territorien führten.
Die Intensivierung des Schia-Kurden-Konflikts beispielsweise könnte zu einem Bürgerkrieg führen, insbesondere mit dem Beharren von Masud Barzani, Präsident der Autonomen Kurdischen Regionalregierung, am 25. September ein Referendum über die kurdische Unabhängigkeit abzuhalten.
Das Referendum wird nicht auf die Grenzen Kurdistans beschränkt sein, sondern auch die umkämpften Gebiete umfassen, in denen Kurden vor Ort sind und die derzeit unter der Kontrolle kurdischer Milizen stehen.
Die wachsende Stärke der schiitischen Milizen, die mit dem Iran verbunden sind und sich in der Nationalen Mobilmachung organisieren, wird die sektiererische Zwietracht weiter befeuern und könnte aufgrund ihres Bestehens auf die Kontrolle der sunnitischen Gebiete an der irakisch-syrischen Grenze gar zu Konflikten mit den US-Streitkräften im Irak führen.
Ende Mai drängten diese vom Iran unterstützten Schia-Milizen darauf, große Gebiete zu kontrollieren, in denen kein einziger Schiit zu finden ist. Dies ist Teil des iranischen Plans, der darauf abzielt, die Schlachtfelder im Irak und in Syrien zu verbinden und das politische Schicksal beider Länder in die Errichtung eines zusammenhängenden Landkorridors vom Iran bis in den Libanon zu integrieren.
Diese komplizierte Problemlage im Irak arbeitet zum Vorteil des IS, sie sichert seinen Fortbestand und seine Zukunftsfähigkeit. Der IS im Irak ist letztlich das Ergebnis der „Sunnitenkrise“. Ohne einen politischen Prozess, der darauf abzielt, die Sunniten zu integrieren und ihren legitimen Forderungen gerecht zu werden, wird der IS in vielen Erscheinungsformen zurückkehren – möglicherweise brutaler als je zuvor.
This piece by Hassan Abu Haniyeh was originally published on Middle East Eye. JusticeNow! sends the best wishes to Jordan to Hassan Abu Haniyeh and to London to the Middle East Eye staff and says THANK YOU! to everyone involved for their great job – connect critical journalism worldwide!
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