Was uns die Lockerungslobby als Exit-Strategie verkauft, führt uns nicht raus aus der Coronakrise, sondern nur rein in eine zweite besonders heftige Infektionswelle und stellt die Wirtschaftskrise auf Dauer. Dies birgt Gefahren für unser aller Gesundheit wie für die Wirtschaft. Der realistische Ausweg aus der Coronakrise lautet #stopthevirus
von Katja Kipping
Die Rufe nach Lockerungen werden immer lauter. Und zur Lockerungsdynamik gehört, dass einzelne Lockerungen nicht etwa zum Innehalten führen. Vielmehr verstärkt jede einzelne Lockerung die Vehemenz, mit der nach weiteren Lockerungen verlangt wird. Wenn kleine Läden öffnen dürfen, warum dann nicht auch große Kaufhäuser? Wenn die Kaufhäuser wieder öffnen dürfen, warum nicht auch die Gaststätten? Ja und wenn die Gaststätten öffnen dürfen, warum nicht auch die Hotels? Wenn wieder mehr Beschäftigte auf Arbeit gefragt sind, müssen ja tagsüber die Kinder versorgt sein, also gerät auch die Kitaschließung unter Druck. Für Gläubige ist es schwer auszuhalten, dass man zwar wieder shoppen gehen kann, aber nicht zum Gottesdienst. Menschlich ist das alles mehr als verständlich. Das Wegbrechen aller Einnahmen durch die Schließungen stellt viele Kneipen, Läden, Freiberufler und Kultureinrichtungen vor existentielle Fragen. Ich verstehe den Wunsch vieler Eltern nach offenen Schulen und Kitas, erlebe ich doch am eigenen Leibe, dass die Kombination von Homeoffice und Homeschooling – so schön es zu Hause mit dem eigenen Kind ist – an den Kräften zehrt. Wie muss es da Eltern mit mehreren Kindern zu Hause oder gar Alleinerziehenden ergehen?
Kurs der Lockerungslobby
Der Wunsch nach Öffnung ist zutiefst verständlich. Mehrere Politiker, wie Christian Lindner (FDP), Armin Laschet (CDU) aber auch die AfD, knüpfen nun an dieser Sehnsucht an und forcieren die Debatten um Lockerung. Das weckt die Hoffnung auf eine Rückkehr in die alte Normalität vor Corona. Auch mir ist diese Sehnsucht nicht fremd. Wie schön wäre es, wenn meine Eltern ihre Enkeltochter endlich wieder in den Arm nehmen könnten. Auch ich fiebere mit Freunden mit, deren Existenzen nun gefährdet sind. Doch das, was uns da von Lindner, Laschet und Co. als Exitstrategie verkauft wird, führt uns nicht raus aus der Coronakrise. Diese Lockerungswelle droht, uns nur in eine zweite, besonders heftige Infektionswelle zu führen. Und dies birgt große Gefahren für unser aller Gesundheit, wie für die Wirtschaft.
Merkels Kurs der abgebremsten Durchseuchung
Im Gegensatz zur Lockerungslobby setzt Angela Merkel auf behutsame Lockerungen. Doch im Grunde funktioniert der Kurs der Bundesregierung nach dem Muster: ein Schritt vor – abwarten – dann vielleicht wieder ein Schritt zurück. Vor und zurück – so kann man am Lautstärkeregler agieren, um die optimale Lautstärke einzustellen. Aber funktioniert so Gesellschaft? Ich bin da skeptisch und befürchte, dass hier Nebenwirkungen außer Acht gelassen werden. So führt doch allein die ständige Debatte über mögliche Lockerungen bei vielen zu dem Gefühl: Puh, jetzt wo die Lockerung in aller Munde ist, können wir selber ja auch wieder entspannter an den Infektionsschutz rangehen. So brechen nach und nach im Alltag alle Dämme. (Ich gestehe, ich habe diesen Effekt auch bei mir beobachtet.)
Auch wenn Merkel reflektierter wirkt als Laschet, Lindner und Co., zielt ihr Kurs letztlich nicht darauf, das Virus zu stoppen, sondern lediglich darauf, die Infektionskurve abzuflachen. In den sozialen Medien wurde diese Strategie unter dem Hashtag #flattenthecurve bekannt. Dieser Kurs erfordert Reproduktionszahlen um die Eins. Soll heißen, ein Infizierter steckt im Schnitt maximal einen weiteren an. Dieser Kurs hat den Vorteil, dass die Intensivstationen nicht überfordert werden, aber den Nachteil, dass die teilweisen Einschränkungen sich über einen langen Zeitraum strecken werden. Um es zuzuspitzen: Auch Angela Merkel setzt auf eine Durchseuchung, wenn auch eine abgebremste. Doch ist die Durchseuchung wirklich der richtige Weg?
Preis der Durchseuchung
In den USA sprach es der konservative Politiker Dan Patrick bereits öffentlich aus: Großeltern müssten bereit sein zu sterben, um die Wirtschaft für ihre Enkel zu retten. Das ist die entmenschlichte Marktradikalität konsequent zu Ende gedacht. Bisher wurde die Frage, wie viel Menschenleben das Ankurbeln der Wirtschaft wert ist, hierzulande eher verdrängt oder wegmoderiert. Doch der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer schlug vor wenigen Tagen in die gleiche Kerbe, als er sagte, dass wir durch die Beschränkungen „möglicherweise Menschen [retten], die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen“. Mit dieser Begründung könnten wir im Grunde jegliche lebensverlängernden Maßnahmen in der Medizin sein lassen. Andere sind weniger direkt. So setzen viele, die für ein Ende der Beschränkungen sind, bewusst oder unbewusst auf Herdenimmunität. Um diese zu erreichen, müssten ca. 70 Prozent der Bevölkerung einmal an Covid-19 erkranken. Das sind ca. 57 Millionen Menschen. Man könnte nun die Mortalitätsraten nehmen und errechnen, wie viele Tote es bis zur Durchseuchung von 70 Prozent der Bevölkerung geben würde. Je nachdem, welche Rate man zu Grunde legt, entspricht die Zahl der Toten der Einwohnerzahl einer Stadt wie Erfurt oder der doppelten Einwohnerzahl von Dresden. Und womöglich würde man am Ende feststellen, dass eine einmalige Erkrankung gar nicht zur dauerhaften Immunität führt. Bisher hat die Wissenschaft keine gesicherten Erkenntnisse.
Einige meinen, es müssten die Risikogruppen, gemeint sind damit dann oft die Alten, halt isoliert werden, damit für die anderen das normale wirtschaftliche Leben weitergeht. Doch wer meint, unter 60 und fit zu sein, schütze einem vor einem tödlichen Verlauf der Erkrankung, irrt leider. Auch fitte 50-Jährige werden inzwischen beatmet und es gibt 40-Jährige, die an den Folgen der Covid-19-Erkrankung verstarben. Und wollen wir wirklich eine Gesellschaft, in der alle Risikogruppen komplett isoliert leben? Und wohin führen solche Isolationsgedanken? Hinzukommt, je mehr Menschen den Virus haben, umso größer ist rein statistisch die Gefahr, dass sich ältere Menschen alleine beim Einkauf den Virus einfangen.
Auch wissen wir noch wenig über mögliche dauerhafte Folgeschäden bei denen, die als genesen gelten. Auf eine mündliche Anfrage bestätigte der Vertreter der Bundesregierung im Gesundheitsausschuss, dass es Fälle von schweren Lungenschäden nach der Genesung gibt. Dazu wird nun eine Studie verschiedener Unikliniken durchgeführt.
Und glauben wir wirklich, die Wirtschaft würde wieder florieren, wenn die Infektionszahlen explodieren und die Zahl der Toten steigt?
Zick-Zack-Kurs ökonomischer Irrsinn
Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung argumentiert, dass die (langfristigen) Kosten einer zu frühen Lockerung viel höher ausfallen werden als bei einer nachhaltigen und langsamen Lockerung: „Noch schädlicher als länger anhaltende Kontaktbeschränkung wäre eine kurze Lockerung gefolgt von einer neuen, noch mal längeren Phase von Kontaktbeschränkungen“. Bei solch einem Zick-Zack-Szenario würde schließlich die Summe der Umsatzausfälle und Betriebsschließungen besonders hoch ausfallen. Ja, uns droht ein Zick-Zack-Kurs: Die übereilten Lockerungen führen zu höheren Infektionszahlen, darauf wird die Regierung mit erneuten Schließungen reagieren. Und dann wird absehbar die Lockerungslobby in CDU, FDP und AfD die Beschlüsse unterlaufen, um dann wieder ermahnt zu werden – und alles beginnt wieder von vorne. So sieht jedenfalls keine langfristige, aussichtsreiche Wirtschaftssteuerung aus – und auf die kommt es an, wenn wir nachhaltig aus der Krise herauswollen.
Das Setzen auf Durchseuchung ist also ökonomisch fragwürdig und hat zudem menschlich einen hohen Preis: hunderttausende bis über eine Million Tote und womöglich schwere Folgeschäden bei Genesenden. Da kaum jemand hierzulande wirklich diesen Preis bezahlen will, wird diese Frage eher verdrängt. Eine Form der Verdrängung besteht darin, das Nachdenken über den Preis der Durchseuchung als Panikmacherei abzutun. Oder man hofft, dass bald der Impfstoff kommt. Daran wird ja tatsächlich unter Hochdruck geforscht, aber bevor er gesichert in den flächendeckenden Einsatz gehen kann, werden wir wohl leider das Jahr 2021 schreiben.
Konsequent gegenüber Konzernen
Heißt das nun, dass wir bis dahin im Lockdown verharren sollen? Nein, es gäbe einen Ausweg aus der Coronakrise: Und zwar den Virus zu stoppen. Ist das denn überhaupt noch realistisch? Es ist auf jeden Fall realistischer und wirtschaftlich vernünftiger als der Kurs der Lockerungslobby und als die abgebremste Durchseuchung. Dieses Land muss sich eine Stop-the-virus-Politik leisten, um eine langandauernde Kombination aus verstetigter Pandemie und ökonomischer Dauerkrise zu vermeiden.
Dafür muss die Reproduktionszahl auf unter 0,5 gedrückt werden, um die 1 wird nicht ausreichen, um das Virus mittelfristig zu stoppen. (Laut Helmholtz-Institut müsste die Reproduktionszahl bei 0,2 oder 0,3 liegen.) Um dieses Ziel zu erreichen, müsste die Bundesregierung den Mut haben, gegenüber den großen Konzernen knallharte Vorgaben zu machen. So müssten zum Beispiel alle Unternehmen wie Amazon wissen, dass man es ihnen nicht durchgehen lässt, wenn sie beim Gesundheitsschutz schlampen. Der Einbau von Virusbarrieren (etwa Plexiglasscheiben, die die Verkäuferinnen schützen) muss verpflichtend sein. Womöglich muss für einige Wochen die gesamte nicht-systemrelevante Produktion runtergefahren werden. Auf jeden Fall muss die Testkapazität enorm ausgeweitet werden.
Kurzum, die Regierung muss sich entscheiden, wirtschaftlich steuernd einzugreifen. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Seit Monaten ist ein enormer Bedarf an medizinischen Masken absehbar (und zwar die Modelle FFP2 und 3, die auch die Maskentragenden effektiv schützen). Eine Regierung, die Mut zum wirtschaftlichen Steuern hat, hätte Maßnahmen ergriffen, um die Produktion solcher Masken massiv hochzufahren, mit Anreizen oder zur Not auch mit Eingriffen in Eigentumsrechte im Produktionsbereich. Schließlich geht es um den Gesundheitsschutz der gesamten Bevölkerung.
Eingreifen muss die Regierung auch, wenn es nach der Corona-Krise darum gehen wird, wer die Kosten der heute notwendigen Maßnahmen tragen wird. Und dafür gibt es eine historische Referenz.
Vermögensabgabe
1952 führte Konrad Adenauer eine einmalige Vermögensabgabe im Rahmen des Lastenausgleichs für die Vertriebenen und Geschädigten des Zweiten Weltkriegs ein. Sie betrug 50 Prozent (!) der Bemessungsgrundlage (Vermögen abzüglich Freibeträge) auf das Vermögen von 1948. Die Bezahlung erfolgte gestreckt auf 30 Jahre, was faktisch eine Bezahlung aus den Erträgen ermöglichte. Diese Maßnahme war eine wichtige Voraussetzung für das westdeutsche Wirtschaftswunder in den 1950er Jahren.
Es heißt, die Coronapandemie sei die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Deshalb gilt es, sich von diesem Beispiel inspirieren lassen und die im Grundgesetz ausdrücklich vorgesehene einmalige Vermögensabgabe zu nutzen. Dabei sollten wir vor allem das reichste 1 Prozent der Bevölkerung zur Kasse bitten. Auf keinen Fall dürfen die Kosten der Krise auf jene abgewälzt werden, die gerade noch als systemrelevant bejubelt wurden, aber meist unterdurchschnittlich verdienen. Um der Wirtschaftsrezension entgegenzusteuern, ist es notwendig, dass wir uns nach Corona von Austeritätsinstrumenten wie der Schuldenbremse verabschieden und stattdessen ein Zukunftsinvestitionsprogramm für Klimaschutz und soziale Infrastruktur auflegen.
Sozialer Schutzschirm
Dieser Ausweg aus der Coronakrise kann nicht mit Lockerungen beginnen, vielmehr muss er mit einem wirksamen sozialen Schutzschirm für die Menschen beginnen. Wichtige Bestandteile dieses Schutzschirms sind ein Kurzarbeitergeld, das mindestens 90 Prozent des bisherigen Lohnes entspricht; ein Corona-Überbrückungsgeld für alle Freiberufler, Selbstständige, Minijobbende und Kunstschaffende, denen jetzt die Einkommen wegbrechen; ein 200-Euro-Corona-Aufschlag auf alle monatlichen Sozialleistungen und ein Corona-Elterngeld für alle, die wegen der geschlossenen Kitas und Schulen nur eingeschränkt ihrer Erwerbsarbeit im Homeoffice nachgehen können oder eben einer garantierten Lohnfortzahlung in diesem Fall.
Zu diesem sozialen Schutzschirm gehört auch eine Politik der Ermöglichung für jene, die von den Einschränkungen besonders betroffenen sind. So sollte natürlich die Notbetreuung geöffnet werden für Kinder von Alleinerziehenden. Mehr Schutzräume müssen geschaffen werden für Menschen, die vor häuslicher Gewalt fliehen müssen. Zudem gilt es, in Pflegeheimen gelegentliche Besuche unter Einhaltung des Infektionsschutzes zu ermöglichen: Entweder durch Besuche über den Gartenzaun unter freiem Himmel, bei denen der Mindestabstand garantiert ist. Oder die Heime werden mit Besuchsboxen nachgerüstet, in denen die Seniorinnen und Senioren unter Einhaltung des Infektionsschutzes ihre Enkel und Urenkel treffen können. In Sachsen gibt es bereits ein Modellprojekt dafür. Damit diese Lösung flächendeckend kommt, muss die Bundesregierung die bauliche Nachrüstung finanzieren.
Und um Missverständnisse auszuschließen: Das Virus zu stoppen, bedeutet ausdrücklich nicht, dass der Infektionsschutz als Vorwand missbraucht wird, um pauschal jeglichen politischen Protest und demokratische Grundrechte, wie die Versammlungsfreiheit, auszusetzen oder arbeitsrechtliche Standards wie den 8-Stunden-Tag auszuhebeln. Inzwischen entwickeln die verschiedenen Initiativen Protestformen, die deutliche Botschaften setzen und trotzdem mit Infektionsschutzregeln vereinbar sind. So setzte Fridays for Future statt auf eine Demo von vielen auf ein starkes Bild mit unzähligen selbstgestalteten Plakaten auf der Wiese vorm Bundestag.
Das Virus zu stoppen, wird nicht einfach, aber letztlich ist es der einzige ehrliche Ausweg aus der Coronakrise. Der soziale Schutzschirm, der dazu notwendig ist, wird uns zunächst einiges kosten. Das Virus zu stoppen, kostet aber letztlich viel weniger als die falschen Versprechen der Lockerungslobby und weniger als der drohende Zick-Zack-Kurs von Lockerung und Shutdown – weniger Euro und definitiv weniger Menschenleben. Und deshalb müssen wir raus aus der Spirale der Lockerungsdebatte und rein in eine ernsthafte Verständigung darüber, wie wir das Virus stoppen können, welches konsequente Durchgreifen gegenüber Konzernen dafür notwendig ist und welchen sozialen Schutzschirm wir dafür aufspannen.
Dieser Beitrag von Katja Kipping erschien online zuerst hier auf Katjas Seite.
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Eine Antwort
Werte Katja Kipping,
ich habe als erstes zu 2 Punkten offene Fragen bzw. Bemerkungen:
**Doch der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer schlug vor wenigen Tagen in die gleiche Kerbe, als er sagte, dass wir durch die Beschränkungen „möglicherweise Menschen [retten], die in einem halben Jahr sowieso tot wären**
Hier wird ein Satz aus einem Interview heraus gepickt und aus dem eigentlichen Zusammenhang gerissen und bewertet.
Ich mag diese Ausdrucksart wie von H. Palmer angesagte auch nicht . Jedoch finde ich ist es wichtiger auf das Thema einzugehen welches im Interview ging und sich nicht an einer Bemerkung, die einzeln gesehen natürlich daneben ist, sich also an der Person jetzt abzuarbeiten.
Sie fallen somit auf den Köder rein, verschwenden Energie, diese Sie für eine lebhafte Debatte zum Thema nutzen könnten. Das ist übrigens einer der Gründe warum die Linke nicht weiter kommt.
Lesenswert zum diesem einstigen Thema auf Heise/TP:
https://www.heise.de/tp/features/Wir-retten-Menschenleben-mit-Menschenleben-ohne-darueber-zu-verhandeln-4715085.html?seite=all
Sie schreiben:
Auch fitte 50-Jährige werden inzwischen beatmet und es gibt 40-Jährige, die an den Folgen der Covid-19-Erkrankung verstarben.*
Hatten diese Personen Vorerkrankungen, unentdeckte Krankheiten wie z.b. Diabetis1 usw.
und wurden diese Personen obduziert?
Und woher stammen diese Informationen ?
Danke für Ihre Antworten
und freundliche Grüße