Theaterrezension: „The Melancholic Melody of the New Economy“ – Eine kraftvolle Reflexion über migrantische IT-Expert*innen in Berlin

Das Theaterstück „The Melancholic Melody of the New Economy“, inszeniert von Ariel William Orah, bringt die wenig beleuchtete Realität migrantischer IT-Arbeiter*innen ins Rampenlicht und schafft es, aktuelle gesellschaftliche und wirtschaftliche Fragen eindringlich auf die Bühne zu bringen. In dieser Inszenierung stehen fünf migrantische IT-Arbeiter*innen im Zentrum, die aus Südasien und Südostasien nach Berlin gekommen sind. Sie verkörpern die Geschichten von Menschen, die in Berlin ein neues Leben suchen und zwischen Visabestimmungen, Jobanforderungen und Rollenerwartungen navigieren.

Im Ballhaus Naunynstraße wurde vom 6.-10.September 2024 mit „The Melancholic Melody of the New Economy“ eine eindrucksvolle musikalisch-dokumentarische Theaterproduktion auf die Bühne gebracht, die eine gesellschaftlich wenig beleuchtete Gruppe ins Zentrum stellt: Migrantische IT-Expert*innen aus Südasien und Südostasien, die ihren Weg nach Berlin gefunden haben. Unter der Regie und dem Konzept von dem Multimedia-Künstler, Musiker und Komponist Ariel William Orah und der Dramaturgie unter Thu Hoài Trần entfaltet sich ein poetisches und zugleich kritisches Stück, das die Arbeitsrealitäten verflochten mit transnationalen und (post-) kolonialen Verflechtungen dieser Menschen beleuchtet und ihre Geschichten mit großer Dringlichkeit erzählt.

Ein Theaterstück, das die Realität migrantischer IT-Expert*innen in Berlin ergründet

„The Melancholic Melody of the New Economy“ ist nicht nur eine Erzählung über fünf Menschen, die aufgrund von (post-)kolonialen, ökonomischen und persönlichen Umständen nach Berlin kamen, sondern auch eine tiefgehende Analyse über die oft unsichtbare Rolle, die migrantische IT-Expert*innen in unserer globalisierten Wirtschaft spielen. IT-Expert*innen beeinflussen tagtäglich unser Leben: von den Apps, die wir benutzen, bis hin zu den technologischen Infrastrukturen, auf die wir angewiesen sind. Doch während ihre Arbeit allgegenwärtig ist, bleiben ihre Erfahrungen und die prekären Bedingungen, unter denen sie arbeiten, meist im Verborgenen.

Das Stück ist ein mutiges Unterfangen, da das Thema IT-Arbeit in der Migrationsdebatte bisher wenig Beachtung findet. Während Geschichten von Gastarbeiter*innen in Deutschland fest in der kollektiven Erinnerung verankert sind, so fehlt doch eine ähnliche Sichtbarkeit für die neue Generation migrantischer Arbeitskräfte, insbesondere im IT-Sektor. „The Melancholic Melody of the New Economy“ bringt dieses Thema auf die Bühne und schafft damit Raum für dringend notwendige Gespräche.

Die einzigartige Besetzung und ihre beeindruckende Leistung

Besonders bemerkenswert ist die Besetzung des Stücks. Alle fünf Darsteller*innen – Eri Dürr, Tyz Juny, Pwincess Pweach, Babyji und Arie Rids – sind selbst IT-Expert*innen, die über einen online Casting-Aufruf gefunden wurden und wenig bis keine Bühnenerfahrung hatten. Dies verleiht der Aufführung eine besondere Authentizität. Die Geschichten, die sie erzählen, sind ihre eigenen – sie berichten von ihren realen Erfahrungen als IT-Arbeiter*innen in Berlin, von den Herausforderungen der Migration, den oft ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, ihre Visabestimmungen und der Isolation, die sie erleben.

Trotz der fehlenden Schauspielerfahrung gelingt es den Darsteller*innen, eine eindrucksvolle Performance abzuliefern. Das Ensemble zeigt eine bemerkenswerte Bühnenpräsenz, die durch die persönliche Verbundenheit mit den erzählten Geschichten verstärkt wird.

Die Magie des Zusammenspiels von Licht, Musik, Kostüm und Bühne

Neben der kraftvollen Erzählung trägt das visuelle und akustische Zusammenspiel maßgeblich zur Wirkung des Stücks bei. Die Bühnenbilder, entworfen von Leonie Brüggenwerth und Val de Licer, sowie das Videodesign kreiert von Arel Dewi, schafft eine technologische und digitale Atmosphäre, die den urbanen, oft anonymen Charakter der Stadt Berlin einfängt. Das Lichtdesign von Thais Nepomuceno verstärkt diese Wirkung, indem sie die Darsteller*innen immer wieder in melancholisches Licht taucht, das ihre Erzählungen von Vergangenheit und Zukunft, familiäre und gesellschaftliche Rollenerwartungen und der Suche nach Selbstbestimmung und Zugehörigkeit widerspiegelt.

Auch die Musik spielt eine zentrale Rolle. Das Sounddesign und die Musik, die von Ariel William Orah und Ashiq Khonder gestaltet wurde, ist nicht nur Hintergrund, sondern Teil der Erzählung. Die Melodien wirken wie ein zusätzliches Erzählelement und unterstützen die emotionalen Tiefen der Geschichten. Kostümbildner*in Mathieu Amadou hat dafür gesorgt, dass die Kostüme futuristisch und industriell erscheinen – ein bewusstes Zusammenspiel mit den überhöhten Emotionen, die auf der Bühne thematisiert werden.

Ein Stück, das den Bogen zu anderen migrantischen Arbeiter*innen schlägt

Das Stück verweist bewusst auf Parallelen zu anderen Migrant*innengeschichten in Deutschland, insbesondere der der Gastarbeiter*innen, die seit den 1960er Jahren in großer Zahl nach Deutschland kamen. Ähnlich wie damals IT-Arbeiter*innen heute, waren es die Gastarbeiter*innen, die entscheidende Infrastruktur schufen, die für den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands notwendig war, und doch wurden ihre Geschichten oft marginalisiert und unsichtbar gemacht. Die „neue Wirtschaft“ des 21. Jahrhunderts wird nicht mehr von Fabriken dominiert, sondern von Daten, Software und IT-Services. Migrantische IT-Arbeiter*innen stehen im Zentrum dieser Wirtschaft, ohne jedoch die Rechte und den Schutz zu genießen, die ihnen zustehen.

Doch die Problematik migrantischer Arbeitsverhältnisse endet nicht beim IT-Sektor. Auch Arbeiter*innen anderer prekärer Branchen, wie beispielsweise Essenslieferdienste, kämpfen gegen ausbeuterische Bedingungen. Letztes Jahr im August 2023 streikten Fahrer*innen von Lieferando in Berlin für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Diese Kämpfe zeigen auf, dass die Ausbeutung von migrantischer Arbeit in vielen Sektoren fortbesteht, sei es auf der Straße oder hinter den Bildschirmen der digitalen Ökonomie.

Arbeitsmigration im IT-Sektor: Unsichtbar, aber unverzichtbar

Das Thema des Stücks wird auch vor dem Hintergrund der aktuellen Situation in der deutschen Arbeitsmigration relevant. Deutschland kämpft mit einem Mangel an Fachkräften im IT-Bereich, und die Einwanderungspolitik versucht, gezielt internationale Fachkräfte zu gewinnen. Doch oft sind die Arbeitsbedingungen für diese Arbeitskräfte prekär, insbesondere für Migrant*innen, die nicht dieselben Schutzmechanismen und Rechte haben wie ihre deutschen Kolleg*innen. Die Geschichten der IT-Arbeiter*innen in „The Melancholic Melody of the New Economy“ zeigen exemplarisch, wie migrantische Arbeit in der globalisierten Welt oft auf Ausbeutung basiert.

Fazit: Eine notwendige Reflexion über migrantische Arbeitsrealitäten

„The Melancholic Melody of the New Economy“ ist ein eindringliches und visuell beeindruckendes Theaterstück, das ein dringendes gesellschaftliches Thema aufgreift. Ariel William Orah, der selbst einst IT-Arbeiter war, hat mit diesem Stück eine wichtige und selten erzählte Geschichte auf die Bühne gebracht. Die herausragende Leistung der Darsteller*innen, das stimmige Bühnenbild, Videodesign, Licht, Kostüm und der atmosphärische Sound und Musik machen das Stück zu einem einzigartigen Theatererlebnis. Gleichzeitig regt es dazu an, die Arbeitsrealitäten von migrantischen Arbeiter*innen, sei es im IT-Sektor oder anderswo, neu zu reflektieren. Es ist ein notwendiger Beitrag zu einer Debatte, die zu oft übersehen wird.

Ein Beitrag von Susheela Mahendran

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