Hicham Mansouri beschreibt Marokko aus ungewöhnlicher Perspektive
Das kann man nicht anders nennen als Ironie, kafkaesk oder auch Realsatire. Als der marokkanische Journalist Hicham Mansouri im berüchtigten Zeki-Gefängnis in der Stadt Salé eine Haftstrafe antrat, habe er „überrascht“ festgestellt, dass viele seiner Zellengenossen unbekümmert Haschisch rauchten oder sich mit Karkoubi genannten Pillen betäubten. Wie kann das sein? Viele waren genau deswegen dort gelandet. „Was sollen sie tun, mich in den Knast stecken? Da bin ich schon“, habe er „mit einem Lachen“ zur Antwort erhalten.
Aber im Grunde war es bei Mansouri selbst nicht anders. Er ist zwar kein Liebhaber von Drogen, doch hat er eine andere Leidenschaft, von der er nicht lassen kann und die ihn selbst hinter Gittern brachte: das Schreiben. So begriff er seine „privilegierte Stellung“: Er nutzte den Aufenthalt, um genau das zu tun, was der marokkanische Staat ihm in Freiheit hatte verwehren wollen: Recherchen. Er hielt seine Beobachtungen auf Zetteln fest, die seine Besucher an den Wachen vorbei nach draußen brachten, und so entstand schließlich das Büchlein „Au Coeur d‘une prison marocaine“ (Im Herzen eines marokkanischen Gefängnisses).
Von Eiern und Ochsen
Es versteht sich nach diesen Andeutungen von selbst, dass marokkanische Gefängnisse alles andere sind als Besserungsanstalten. Aber sie sind auch nicht unbedingt reine Strafanstalten, selbst wenn sie für die meisten einem Vorhof der Hölle gleichen: überfüllte Verliese, bevölkert überwiegend mit Insassen, die verächtlich „Mikroben“ geschimpft werden und sich aus Verzweiflung selbst verstümmeln. In der Haft müsse man vor allem auf drei Dinge achten: „seinen Platz, sein Brot und seinen Arsch“. Es gilt, wie Mansouri notiert: „Die Starken machen die Schwachen nieder, und die Gewieftesten erziehen die Neuankömmlinge.“ Die Frage, ob man an einem solchen Ort etwas lernen könne, hätten allerdings alle seine Gesprächspartner spontan verneint.
In einem weiteren Punkt seien sich die Insassen ebenfalls einig: Wehe dem, der wegen eines „geringen Vergehens“ dorthin gelange. „Voler un oeuf ou voler un boeuf“, das heißt ein Ei zu stehlen oder einen Ochsen, das sei eben nicht nur nicht dasselbe, wie es in Abwandlung eines französischen Sprichworts heißt, sondern es seien „Verbrechen, die genau umgekehrt zu ihrer Schwere bestraft werden. (…) Tatsächlich kann man sich bei großen Angelegenheiten wie Raub oder Handel mit Kokain zumindest sicher sein, dass man von einem guten Anwalt vertreten wird, das heißt einen Richter bestechen kann, so dass man eine milde Strafe erhält. Und am wichtigsten: Man kann sich einen angenehmen Aufenthalt erkaufen, bei dem man gut isst, gut schläft und sich frei auf dem Gelände bewegen kann, bis der eigene Name auf der Liste derer erscheint, die vom König begnadigt werden.“
Verkehrte Welt
Besonderes Augenmerk richtet Mansouri auf die Ökonomie des Kerkers, die alle Vernunft auf den Kopf stellt. So werden hier nicht nur für Handys oder Drogen fantastische Preise erzielt, wobei die Mobiltelefone immer wieder bei Razzien einkassiert, aber nicht aus dem Verkehr gezogen, sondern erneut im Gefängnis in Umlauf gebracht und so zu wahren Geldvermehrungsmaschinen werden. Mehr noch kann es sein, dass hier bestimmte Dinge einen Wert erhalten, den sie sonst nirgends haben, wie zum Beispiel das Zellophan, in das der Grüntee verpackt ist: Statt Zigarettenpapier wird es zum Drehen von Joints verwandt, die dadurch um ein Mehrfaches stärker wirkten. Also wird das giftige Rauchutensil teurer gehandelt als der Tee selbst. Die allfällige Drogensucht hat einen angenehmen Nebeneffekt: „Ein schlafender Delinquent ist ein Problem weniger“, wie Mansouri bemerkt.
Überhaupt sei das Funktionieren des Knastlebens auf die tätige Mitarbeit und das Wohlwollen der Gefangenen angewiesen. Manche profitierten nicht unerheblich davon. Sie schafften es, mit dem schwunghaften Handel ihren Familien draußen die Existenz zu sichern. „Deine Familie bringt dir bei jedem Besuch ein Fresspaket mit“, erfährt Mansouri von einem gewissen Jamal, der mit Haschisch handelt. „Bei mir läuft es genau anders herum.“ Kein Wunder, dass Mansouri bei der ersten Begegnung mit einem inhaftierten Drogenbaron dieser wie der wahre Direktor erscheint, während eine Wache umgekehrt klagt, dass ja die Gefangenen das Glück hätten, irgendwann freizukommen, das Personal jedoch dazu verdammt sei, hier lebenslang zu dienen.
Wände mit Ohren
Von Politik ist nur an wenigen Stellen ausdrücklich die Rede. Der verschlossene Armeedeserteur Chahine erklärt Mansouri in einer einsamen Minute, warum: „Die Mauern haben Ohren. (…) Meine wahre Meinung, die drücke ich nur aus, wenn ich allein bin in der Wüste, und auch da achte ich darauf, dass 20 Kilometer im Umkreis niemand zu sehen ist.“ Dann macht er Mansouri Vorwürfe: „Du und deinesgleichen, die ihr das Regime kritisiert, ihr weckt die Leute auf. Das ist gefährlich. Was habt ihr denn, um all diese Ausgehungerten zu ernähren, wenn sie sich eines Tages erheben? Nichts! Es ist besser, die ‚Kamele schlafen zu lassen‘.“
Nach zehn Monaten wurde Mansouri vorzeitig aus der Haft entlassen, nachdem er während seines Gefängnisaufenthalts zusätzlich zu seiner ursprünglichen Verurteilung wegen „Unzuchts“ noch wegen „Spionage für die Niederlande“ vor den Kadi gezerrt worden war – wobei beide Anklagen, was sich fast zu erwähnen erübrigt, durch und durch konstruiert waren, so wie auch die Fälle Ali Anoluzla, Hajar und Soulaiman Raissouni, Taoufiq Bouachrine, Omar Radi, Maâti Monjib. Die Reihe lässt sich leicht fortsetzen, zum Beispiel um die zahlreichen sahrauischen politischen Gefangenen, von denen er einigen in der Gefangenschaft begegnete.
Mansouri ging nach Frankreich ins Exil, wo er heute Redaktionsmitglied des Internetmagazins „Orient XXI“ ist. Sein Buch besticht als neuester Beitrag zur marokkanischen Gefängnisliteratur nach den furchterregenden Büchern „La Prisonnière“ (Die Gefangene) von Malika Oufkir, „Tazmamart Cellule 10“ von Ahmed Marzouki und „Cette aveuglant absence de lumière“ (Das Schweigen des Lichts) von Tahar Ben Jelloun, alle drei über die Schrecken der „bleiernen Jahre“ unter König Hassan II. Aus all dem gibt es am Ende doch etwas zu lernen: Wenn es um Menschenrechtsverletzungen und Unterdrückung der Meinungsfreiheit, um Korruption und Verwahrlosung geht, braucht Marokko, eine Art afrikanisches Kolumbien, sich hinter keinem Land der Welt zu verstecken.
Hicham Mansouri: Au Coeur d‘une prison marocaine. Enquête sur le royaume de tous les trafics. Collection Orient XXI. Éditions Libertalia, Montreuil 2022, 201 S., 10 Euro.
Das Buch könnt ihr hier beim Verlag Éditions Libertalia erhlten.