Sicherheit ist eines der beherrschenden Themen des eigentlich schleppend verlaufenden Wahlkampfes, auch weil es mit einem anderen Schwerpunktthema der aktuellen politischen Debatte verbunden ist: Migration. Bislang ist der Sicherheitsbegriff vor allem von konservativen Kreisen und weit rechts besetzt worden. Bei einer öffentlichen Debatte in der Stadtbücherei Heidelberg versuchten die Linke-Fraktionsvorsitzende im Hessischen Landtag, Janine Wissler, und die Heidelberger Bundestagskandidatin der Linken, Sahra Mirow den Sicherheitsbegriff zu erweitern und der irrtümlich kausalen Verknüpfung mit Flüchtlingen, Migration und Islam zu entgegnen. Sicherheit gehe einher mit sozialer Sicherheit, also auch einer Sicherheit vor Gewalt, Ausbeutung, und Ausgrenzung. Es ist kein Geheimnis, dass Kriminalität immer auch etwas mit der sozialen Frage zu tun hat, um diesen wichtigen Aspekt soll aus Linken-Sicht der eigentliche Sicherheitsbegriff vertieft werden.
Was macht man, wenn Menschen in ihrem subjektiven Empfinden Angst verspüren? Vielleicht hilft eine Gesprächstherapie, um den Ängsten auf den Grund zu gehen. Die haben zwei Vertreterinnen der Linken einigen Zuschauer*Innen angeboten, denn Sicherheit ist in aller Munde, sodass auch die politische Linke Stellung beziehen muss. Der derzeit diskutierte Sicherheitsbegriff ist nicht nur viel zu kurz gegriffen, lenkt vom fatalen politischen Missmanagement der Regierungen ab und blendet bewusst andere Probleme aus, die die Mehrheit der Gesellschaft wirklich betreffen: die soziale Sicherheit vor prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen. Mit ihnen gedeiht nicht selten auch Kriminalität, ein Phänomen, das in anderen Ländern noch viel stärker ausgeprägt ist als im relativ sicheren Deutschland. Trotz diesen Umstandes empfinden viele Bürger*Innen eine Art Angst, Angst vor Veränderung und dem Fremden, hauptverantwortlich dafür seien Migration und die galoppierende Globalisierung, die das solide, nationale Fundament, auf dem die Menschen stehen wollen, zu bedrohen scheinen. Das wurde auch in der Heidelberger Diskussion deutlich. Ein einziger Zuhörer, den man wohl als „besorgten Bürger“ bezeichnen könnte, traute sich in die Höhle der (linken, alternativen) Löwen und verknüpfte – wieder einmal – Sicherheit mit der Ankunft und Aufnahme von Flüchtlingen. Besonders ablehnend war dieser Herr sogenannten „Wirtschaftsmigranten“ gegenüber, die er einfach nicht hier haben wolle. Ob dies primär aus finanziellen Gründen der Fall ist („Wieso sollen wir Steuerzahler*Innen für diese Leute aufkommen?“) oder schon von Grund auf Ressentiments anderen Menschen gegenüber vorliegen, ließ er offen. Beide Motivationen wären sachlich schnell zu widerlegen.
Hier liegt ein Problem, das es in Deutschland schon immer gab und es nennt sich Fremdenfeindlichkeit. Dieses Phänomen ist aber ein sehr komplexes, viele Faktoren sind Sozialwissenschaftler*Innen zufolge der Fremdenfeindlichkeit zuträglich. Neben einer tief verwurzelten Xenophobie sind dies vor allen Dingen soziale Ängste, Angst vor dem sozialen Abstieg, vor der wirtschaftlichen Marginalisierung und der Entfremdung der unmittelbaren Umgebung, das ist für die meisten Menschen die Stadt, in der sie leben. Einwanderung wird hier als Bedrohung gesehen, denn das Unbekannte bringt kulturelle Veränderungen mit sich. Treten dann noch transnationale Bedrohungen auf wie Terrorismus, der nur schwer zu bekämpfen ist, ist der rassistisch-angehauchte Mix an Unsicherheitsfaktoren angerichtet und in Deutschland reagiert darauf vor allem eine Partei: die AfD. Das ist schrecklich, es löst nicht ein einziges sozio-ökonomisches Problem; im Gegenteil, es vergrößert die gesellschaftlichen Gräben, der Minimalkonsens liberale Demokratie ist dann in Gefahr und hier steckt die Linke in einem Dilemma. Zwischen Freiheit und Sicherheit muss und sollte man sich nicht entscheiden, das eine geht einher mit dem anderen. Sicherheit vor etwas impliziert auch immer die Existenz einer oder mehrerer Bedrohungen. Zu informieren wo diese in der Realität liegen und wie sie nachhaltig gemindert werden können, sind die Aufgaben insbesondere einer linken Partei.
Welche Bedrohungslagen gibt es wirklich?
Eine der Hauptmotivationen für die Verschiebung des Sicherheitsbegriffs nach rechts durch Politiker*Innen der Großen Koalition und der AfD sind einerseits die rechtslastige Grundstimmung in der Bevölkerung. Hier sollen potenzielle Wähler*Innen angesprochen werden, ihre „Ängste“ sollen ernst genommen werden. Andererseits bezweckt der rechtsgerichtete Diskurs die oben genannte Ablenkung vom eigenen Versagen in vielen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Fragen. Hier greift die Konfliktlinienthese erneut: Diese verlaufen seit Jahr und Tag zwischen oben und unten, zwischen den Menschen mit ähnlichen Lebensrealitäten, Klassenzugehörigkeit wie Karl Marx sagen würde, und den Herrschenden, der sogenannten kapitalistischen Elite. Faktisch gelingt es den Regierenden und ihren Unterstützern dennoch, die Konfliktlinien als religiös (Muslime und Nicht-Muslime) und ethnisch darzustellen, und das nicht erst seit kurzem. Janine Wissler erklärt, wo die Bedrohungen eigentlich zu finden sind, nämlich in der tiefgreifenden sozialen Spaltung aufgrund massiver sozio-ökonomischer Unterschiede, einem tief verankerten Rassismus, und der Umwelt- und Klimazerstörung, die das Zusammenleben der Menschen in Zukunft wirklich gefährden werden. „Genau diese Themen finden aber im Wahlkampf gar keine Beachtung“, so Wissler. „Es sind oft irrationale Ängste, die die Menschen zu den Rechten treiben“, so auch Mirow. Die statistische Wahrscheinlichkeit von einem Flüchtling angegriffen zu werden, ist so viel geringer, als im Krankenhaus an einem Keim zu sterben. Wo ist hier die begründete Forderung der Menschen nach mehr Sicherheit? Personalmangel und Unterfinanzierung von Krankenhäusern ist ebenfalls ein Teil der sozialen Frage, die die Regierungsparteien durch ihre Ablenkungsdebatte vermeiden wollen.
Dass hier für die Menschen in Deutschland ein eigentlich viel bedeutenderes Gefahrenpotenzial liege, falle viel zu oft unter den Tisch, beklagt Wissler. Und die großen Bedrohungen sind existenziell für alle Gesellschaften, ob reich oder arm, denn sie zerstören den sozialen Frieden und wohin diese sozialen Verwerfungen führen können, ist historisch bekannt. Vor kurzem hat es erst in Großbritannien mit dem Brexit ein solches einschneidendes gesellschaftliches Ereignis gegeben, dessen Konsequenzen für die Menschen noch gar nicht zu begreifen sind. Im Vorfeld des Brexit wurde suggeriert, Abschottung vor Menschen bringt Sicherheit, Sicherheit vor fremden Kulturen und der sozio-ökonomischen Konkurrenz, die den Lebensstandard bedroht. Dass die Aushöhlung des Sozialstaates inklusive des Bildungs- und Gesundheitssystems für die Präkarisierung der meisten Brit*Innen verantwortlich ist, wird angesichts der erfolgreichen rechten Propaganda und dem realitätsfremden framing des Sicherheitsbegriffs verdrängt. Privatisierungen und Deregulierungen der letzten Jahrzehnte haben den Nährboden bereitet, von der USA bis Frankreich, rechte, illiberale Gesinnungen kommen nicht von ungefähr und des Staates Verantwortung im Entstehen dieser Stimmungen ist immens, siehe Abbau der sozialen Sicherheiten. Auch der Umgang mit rechtsmotivierter Gewalt ist beschämend, ausgerechnet in Deutschland konnte mit dem NSU eine rechtsterroristische Gruppierung jahrelang, von Behörden gestützt (!), ihr Unwesen treiben. Der großgesellschaftliche Aufschrei gegenüber dieser besonders schlimmen Form der Gewalt an Menschen blieb weitgehend aus, die Bestürzung bei einer ähnlichen Anzahl an Opfern durch den islamistischen Terroranschlag von Berlin umso größer. Das hieße nicht, dass die Terroropfer von Berlin mehr oder weniger wert wären als die zumeist türkischstämmigen Opfer des NSU, es bestehe aber ein Ungleichgewicht in der Wahrnehmung und Bewertung, wo Menschen in Deutschland unter Gewalt oder Gewaltandrohung, und damit unter einem Sicherheitsdefizit leiden, so Wissler.
Sicherheit bedeutet schlussendlich, dass man von Gefahren bestmöglich geschützt ist, das ist die wirtschaftliche Ausbeutung durch unsoziale Wirtschaftspolitik, die soziale Ausgrenzung durch einen mangelnden Sozialstaat („öffentliche Daseinsvorsorge“) und ausufernde Fremdenfeindlichkeit, und der Schutz vor terroristischen Vereinigungen, die es auf unbeteiligte Zivilist*Innen absehen. Wer (weltweit) die soziale Ungleichheit vergrößert, vergrößert das Konfliktpotenzial, das wiederum Krieg, Terrorismus, sozio-ökonomische Kluft und Marginalisierung sozialer Gruppen hervorbringt. Schutz vor Kriminalität im weitesten Sinne ist daher auch immer eine Frage der Sozialpolitik und wie ausgeglichen diese verfolgt wird. Der auf Armutsforschung spezialisierte Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge nahm diesen Vergleich vor. Die Verteilungsfrage als Urkonflikt der Menschheit ist auch hier mal wieder vorherrschend, auch aus ihr speisen sich gesellschaftliche Risikofaktoren, die wir auch in Deutschland so heftig diskutieren. Die oft unwissenschaftliche „Sündenbockdebatte“ (Mirow) befasst sich eben nicht mit den Ursachen der sozialen Ängste. Massenhafte Überwachung durch Kameras, Staatstrojaner, oder digitalem Ausspähen bringen ebenso wenig Sicherheit wie die menschenverachtende Flüchtlingspolitik (Grenzschließung, Aussetzung des Asylrechts, Deportation von Asylsuchenden in Kriegsgebiete, Abkommen mit diktatorischen Drittstaaten, etc.). Forderungen nach mehr Polizei kommen genau von den Kräften, die jahrelang für Kürzungen verantwortlich sind, die Großkoalitionäre aus CDU/CSU und SPD im Bund und in den Ländern. Die Linke, so die hessische Fraktionsvorsitzende, ist gefordert den Sicherheitsansatz für alle Bürger*Innen zu erweitern, damit dieser nicht weiter von rechten Stimmen wie Innenminister Thomas de Maizière oder AfD-Politiker*Innen gegen Rechte und Freiheiten anderer ausgespielt werden können. Dabei auf die Forderungen einer zunehmend unzufriedenen Wählerschaft einzugehen, die sich vor Islam, Terrorismus, und Flüchtlingen fürchtet, ist gewiss eine große Aufgabe. Konstruktive und ernstgemeinte Sicherheitspolitik gegen all die unterschiedlichen Bedrohungen gehe aber anders, da sind sich der Großteil der Heidelberger Zuhörer*Innen einig.