In diesen Wochen begeht Spanien ein großes aber trauriges Jubiläum: Der Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs jährt sich diesen Sommer zum 80. Mal, reißt erneut alte, nie verheilte Wunden auf, und findet sich sogar heute noch im tief gespaltenen politischen Spanien wieder. Die „Zwei Spaniens“, die die Grundlage für den Bürgerkrieg und die nachfolgende faschistische Diktatur legten, treten heute noch auf, der unerbittliche Kampf zwischen rechts-konservativen und links-progressiven Kräften ist noch immer präsent. Amnestiegesetze und verfehlte Erinnerungspolitik nach Ende des Franquismus förderten die ohnehin tiefen Gräben, die heute auch Koalitionen und Lösungen zu den Separationsbestrebungen versperren. Spanien steht jetzt wahrscheinlich auch noch vor einer zweiten Nachwahl.
Bis heute geistert ein Begriff durch Spanien: Las dos Españas, „die zwei Spanien“ übersetzt. Er stammt vom berühmten spanischen Lyriker Antonio Machado, der in seinem bemerkenswerten Gedicht proverbios y cantares ganz poetisch vom ausweglosen Schicksal eines jungen Spaniers spricht, der in eine heillos verfeindete Gesellschaft geboren werden wird, die sich bereits vor 1936, dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges, in einem tiefen Konflikt befand. In den drei Jahren Bürgerkrieg, der der franquistischen Diktatur ab 1939 voranging und die rechtmäßige Spanische Republik beseitigte, starben mehr als eine halbe Million Menschen. Machado, selbst Anhänger der republikanischen Linken, fasste seine Verse folgendermaßen:
Ya hay un español que quiere // vivir y a vivir empieza, // entre una España que muere // y otra España que bosteza. // Españolito que vienes // al mundo, te guarde Dios. / / Una de las dos Españas // ha de helarte el corazón
„Es gibt einen Spanier, der leben will und zu leben beginnt, zwischen einem Spanien, das stirbt, und einem Spanien, das gähnt. Kleiner Spanier, der du zur Welt kommst, möge Gott dich behüten. Eines der beiden Spanien wird dir das Herz gefrieren lassen“
Die beiden Spanien, die Machado in seinen Werken thematisierte, beschreiben Historiker als Konfliktachsen zwischen dem zum einen nationalistisch-konservativ, ländlich-katholisch, autoritär-monarchischen und zum anderen dem progressiv-weltbürgerlich, urban-antiklerikal, liberal-republikanischen Lager. Während Großgrundbesitzer, Zentralisten, Militärs, und reaktionäre Nationalkatholiken dem ersten angehörten, zählten die Vertreter der sogenannten Zweiten Spanischen Republik (1931-1936) zum anderen Spektrum, darunter landlose Agrararbeiter, Föderalisten bzw. Separatisten, Linke allen Spektrums, und teils auch Anarcho-Syndikalisten. Ähnlich der Weimarer Republik litt auch die Spanische Republik an mangelnder Unterstützung der alten Eliten und vieler Bürger*Innen. Stattdessen war die Zeit von großer politischer Instabilität geprägt, die zunehmenden Spannungen mündeten in den Putsch des Militärs durch General Francisco Franco. Als im Sommer 1936 la niña bonita („das schöne Mädchen“), wie die Republik anfangs noch hoffnungsvoll genannt wurde, zusammenbrach, trat auch der uralte sozio-politische Konflikt der beiden Spanien gewaltsam zu Tage.
Drei Jahre Bürgerkrieg zwischen der Volksfront und der Nationalen Front verursachte nicht nur mehr als 600.000 Tote, er war der Beginn einer äußerst blutigen Epoche der spanischen Geschichte, die bis zu den letzten Tagen der faschistischen Diktatur Francos anhielt. Vor allem die Putschisten um General Franco erfuhren großzügige Unterstützung durch das nationalsozialistische Deutschland und das faschistische Italien. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ging ein dramatischer Riss durch die spanische Gesellschaft, der Familien und Freunde teilte. Später, wie in faschistischen Regimen üblich, betrieb das Franco-Regime eine menschenverachtende Politik, die über Jahrzehnte politische Gegner verfolgte und ermordete. Mit dem Tod des caudillo 1975 beging Spanien unter dem damaligen Bourbonenkönig Juan Carlos I. den Übergang in die parlamentarische Demokratie. Die ist heute zwar gefestigt, die alten Konfliktlinien haben aber nie aufgehört zu existieren. Besondere Schuld daran hat die Ausgestaltung des Staates, der auf die Einheit der spanischen Nation pocht, dabei regionalistische Tendenzen scharf unterdrückte, und schlussendlich auch das Vergessen der Gräueltaten in Bürgerkrieg und Diktatur in den Vordergrund stellte.
Keine Aufarbeitung, ungelöste Konflikte
In den Anfangsjahren der jungen spanischen Demokratie wurde der Zustand der neuen Staatsform als besonders brüchig erachtet, weswegen die Geschichte um den Bürgerkrieg und die franquistische Diktatur verschwiegen wurde. Um die Demokratie nicht zu „gefährden“, so die offizielle Lesart, wurden Verbrechen nicht verurteilt, das Amnestiegesetz versprach Straffreiheit, der Minimalkonsens zwischen der sozialdemokratischen PSOE und der rechtskonservativen PP hieß „Demokratie“. Aufgrund der Kontinuität des Franquismus in Schlüsselbereichen fand keine Aufarbeitung, und damit auch keine Aussöhnung mit hunderttausenden Opfern und Hinterbliebenen statt. Damit tat sich bislang vor allem das kastilische, zentralistisch geprägte Spanien außerordentlich schwer, die peripheren Gebiete in Katalonien und dem Baskenland sind da verständlicherweise einen anderen Weg gegangen. Noch immer gibt es unzählige Straßen, Plätze, und Ortsnamen, die an den Diktator Franco erinnern. Im sogenannten Valle de los Caídos, im „Tal der Gefallenen“, unterhält der Staat durch die Francisco-Franco-Stiftung eine Gedenkstätte für ihren caudillo und den Gründer der faschistischen Falange-Partei José Antonio Primo de Rivera. Zusammen mit dem höchsten freistehenden Kreuz der Welt erinnert eine vom Vatikan zur Basilika erhobene Höhlenkirche an die „glorreichen“ Zeiten des spanischen Faschismus, unkritisch, mit Steuergeldern gefördert, von der Kirche mitgetragen, und somit das vielleicht offensichtlichste Symbol des Geschichtsrevisionismus.
Prägende Figuren der jüngeren spanischen Politik wie Felipe González (PSOE, Ministerpräsident 1982-1996) und José María Aznar (PP, Ministerpräsident 1996-2004) hatten selbst ein fragwürdiges Demokratieverständnis, kollaborierten mit rechten Todesschwadronen, die gegen Separatisten vorgingen oder sind selbst Mitglied in falangistischen Organisationen gewesen. Sie taugten kaum als Vorbild für eine Demokratisierung des Landes. Die sozio-politischen Gräben konnten nie richtig überbrückt werden, die Verbrechen des Bürgerkrieges und der franquistischen Diktatur wurden nicht gestraft, noch immer werden hunderttausende Opfer, verscharrt in Massengräbern, vermutet. Durch die Demokratieunfähigkeit der Machteliten, so der Politikwissenschaftler Raúl Zelik, konnten uralte innerstaatliche Konflikt nie gelöst werden. Die transición, der Übergang zur Demokratie, waren zunächst ein Elitekompromiss zur Wahrung ihrer eigenen (kapitalistischen) Interessen. Klerikale und stramm rechte Eliten blieben in den Schaltzentren, mit der durch Franco selbst vorbereiteten Übernahme durch die Bourbonen-Monarchie wurden republikanische Forderungen erstickt, und der zentralistische Nationalismus, bis heute in der PP vorherrschend, lud regionalistische Bestrebungen aus Katalonien und dem Baskenland enorm auf. Die sozio-politischen Konflikte wurden „ethnisiert“, wurden (und werden) also immer mehr im separatistischen Kontext diskutiert. Spaniens aktuelle politische Krise, Patt nach Wahlen, Koalitionsunfähigkeit, Lagerdenken, mangelnde Dialogbereitschaft in Unabhängigkeitsfragen, all dies findet seine Wurzeln auch in den Spaniens ureigener Geschichte.
Aufgrund der spürbaren Demokratiedefizite formierten sich in der Gesellschaft basisdemokratische Bewegungen wie 15M oder die indignados, auch spezielle Initiativen, die sich mit der dringend notwendigen Auseinandersetzung der Geschichte seit 1936 befassen. Sie setzen die geschichtliche Aufarbeitung auf die politischen Agenda, dazu gehört auch die linke Podemos, die einen Zusammenhang zwischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft des demokratischen Spaniens sehen. Podemos-Chef Pablo Iglesias sagte dazu:“„Wenn man von der Franco-Zeit spricht, sagen viele Leute, Mensch, das ist doch ein Problem, dass die Vergangenheit betrifft, aber heute zum Glück wissen wir, um die Gegenwart zu verstehen, müssen wir die Vergangenheit ebenso verstehen“. Wer Spanien im 21. Jahrhundert verstehen möchte, sollte auch dessen Entwicklung im 20. Jahrhundert nicht ausblenden, so Iglesias, alleine schon, um den Opfern die Gerechtigkeit entgegenzubringen, die einem Rechtsstaat würdig ist. Wie Iglesias ist Albert Rivera gerade einmal Ende 30, so hat auch der Vorsitzende der rechts-liberalen Ciudadanos-Partei den Franquismus selbst nie miterlebt. Da er aber sowohl mit den rechts-liberalen Polit-Eliten zusammenarbeiten, als auch dem Franquismus eher verständnisvoll zugewandte Wähler*Innen ansprechen möchte, äußert er sich verhalten zu Bürgerkrieg und Diktatur. Die Spanier*Innen selbst sollen die Geschichte schreiben, nicht die Politik. Die Schuldfrage erneut zu stellen, reiße neue Wunden auf. Das ist auch Tenor der rechten PP, die das Geschichtsverständnis wie keine andere Partei seit Jahrzehnten vorgibt.
Spanien im Umbruch
Eines ist sicher, Spaniens altes Zweiparteiensystem ist erst einmal Geschichte. Mit Podemos und Ciudadanos haben sich zwei neue politische Kräfte etabliert, in den Regionen und Kommunen ist der Pluralismus noch viel weiter fortgeschritten. Von weit links bis nationalistisch regieren in den Autonomieregionen ganz unterschiedliche Listen. Gerade in Katalonien und dem Baskenland, den beiden Hauptantagonisten der Madrider Zentralregierung, sind große Dynamiken zu erkennen. Die politischen Entwicklungen dort haben entscheidenden Einfluss auf das Geschehen in Madrid, in Barcelona diskutiert man weiterhin kontrovers und mit viel Gegenwind aus Madrid eine mögliche Abspaltung, im Baskenland wird Ende September ein neues Regionalparlament gewählt. Die von Franco propagierten Ewigkeitswerte (España eterna) haben in der Realität keinen Bestand: Die mit Gewalt aufgezwungene Homogenisierung der Bürger*Innen, die kollektive Mentalität und Identität eines einzigen Spaniens sind und waren inhuman und ahistorisch. Spanien, als nicht wandelbares, statisches, und unauflösbares nationales Konstrukt ist eine Mythisierung ohne Fundament, trotzdem vertritt die Nachfolgepartei der alten Falangista, die rechtskonservative PP, noch immer eine eiserne Linie, die die ungelösten Konflikte und das wirtschaftliche Ungleichgewicht außer Acht lassen.
Die traditionelle Dichotomie zwischen Links und Rechts hat sich auch mit dem Aufkommen der beiden neuen Parteien gefestigt. Podemos wird vom rechten, konservativen, und sozialdemokratischen Raum als links-radikale Kraft wahrgenommen, die die Einheit bedroht, mit Kuba und Venezuela sympathisiert, und daher eine kommunistische Bedrohung darstellt. Die Argumentation ist nahezu deckungsgleich mit der vergifteten Rhetorik des vergangenen Jahrhunderts, als Falangista und Kirche eine cruzada anti-comunista („anti-kommunistischer Kreuzzug“) vornahmen, um Spanien als Wertegemeinschaft und Volkseinheit zu schützen. Podemos und vor allem sein Frontmann Pablo Iglesias stehen bei Teilen von Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, und Medien als Feindbild dar, auch deshalb fiel das Wahlergebnis Ende Juni – trotz Wahlbündnis mit der Vereinigten Linken IU – überraschend schwach aus. Die Historikerin Mirta Nuñez erklärte hierzu: „Im letzten Wahlkampf war der lange Schatten des Regimes klar zu erkennen. Die Rechte hat immer wieder an die Angst davor appelliert, was alles passieren würde, wenn Pablo Iglesias regiert. Der konservative Block weiß ganz genau, was er mit solchen Kampagnen erreicht. Er rührt an die Angst vor Unordnung, gewalttätigen Konflikten.“ So wird sogar bei der ursprünglich sozialdemokratischen PSOE ein Bündnis mit Podemos mehrheitlich abgelehnt. Parteien, die vor allem in den Regionen verwurzelt sind, kommen für Koalitionsgespräche mit den zentralistischen Parteien, allen voran der PP, nicht in Frage. Die Folge: eine gefährliche Sackgasse, die bereits zwei Wahlen gefordert hat, ohne einen Konsens zwischen den Parteien herbeizuführen.
Der Historiker Julio Gil Pecharromán beklagt die tiefen Gräben, die Spanien seit einem Jahrhundert schwer belasten und bis heute ausstrahlen: „Unsere politische Kultur macht den Dialog schwer (…) Spanien ist schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts stark gespalten zwischen traditionellen und fortschrittlichen Kräften“. Das politische Klima ist aufgrund der harten Konfrontation zwischen Links und Rechts, dem fehlenden Kooperationswillen, und der starken ideologischen Unterschiede beschädigt. Die Spaltung von damals verlief nicht nur zwischen links-progressiven und rechts-reaktionären Kräften, sondern auch zwischen den Ethnien: Spanische Mehrheit gegen katalanische und baskische Minderheit. Diesen gesellschaftlichen Bruch spürt das Land heute in dramatischem Ausmaß. Auch an der „katalanischen Frage“ scheiterte ein mögliches Regierungsbündnis zwischen PSOE und Podemos. Während erstere ein Referendum ablehnen, wollen zweitere die Entscheidung den Katalan*Innen überlassen, auch wenn dies die Spanische Verfassung nicht vorsieht. Auch nach der ersten Nachwahl sieht es momentan nicht nach einer Einigung aus. Rajoys PP wird von PSOE und Ciudadanos als Schuldige für Spaniens Schieflage gesehen, für Podemos ist sie weit mehr: Sie ist direkt im Franquismus verwurzelt, gerade zwischen diesen beiden Parteien und deren Anhänger*Innen sind die Gräben besonders tief. Inhaltliche Differenzen sowie persönliche Aversionen sorgen dafür, dass die Spanier*Innen dieses Jahr eventuell erneut zur Wahlurne gebeten werden, zum dritten Mal in kurzer Zeit. Spaniens Zukunft ist völlig ungewiss, da auch seine Geschichte kein abgeschlossenes Kapitel ist. Die aktuellen Probleme wie der Abbau des Sozial- und Rechtsstaates und die ungeklärte Fragen um Autonomie oder Unabhängigkeit bleiben so ungelöst, wieder einmal blockiert sich das Land selbst.