Stärkung der Gewerkschaft und der sozialen Organisationen – Über die Novemberproteste in Peru

Unsere Autorin, Eleonora Roldán Mendívil, hat das Interview mit Patricia Véliz, 35, aus Lima geführt und ins Deutsche übersetzt. Sie ist Lehrerin der Sekundarstufe und aktiv bei „Sisariy Warmi“ (Quetschua für „Frau erblühe“), die Frauensektion der „Escuelas Libres Perú“ (Freie Schulen Peru), eine Organisation von Arbeitern und Studierenden in der Hauptstadt Lima.

Eleonora Roldán Mendívil: Seit November erreichen uns bewegte Bilder aus ganz Peru. Was ist in den vergangenen Wochen passiert?

Patricia Véliz: Während der Pandemie wurden verschiedene Interventionen unternommen, um die Regierung vom Interimspräsident Martín Vizcarra abzulehnen. Gleichzeitig wurden Forderungen bezüglich  Arbeitsrechte und der Umsetzung von Forderungen im Gesundheitssektor und in der Bildung  gestellt. Dieser Streit um die Macht unter dem rechten Flügel war zu jedem Zeitpunkt sichtbar. Als Martín Vizcarra am 9. November, mit Korruptionsvorwürfen, des Amtes enthoben wurde und tags drauf Manuel Merino, ein klassisch rechter Neoliberaler als neuer Interimspräsident vereidigt wurde, brachen die Proteste los.

Auf den Straßen sahen wir den größten Anteil der Jugend demonstrieren. Angesichts dieser Anhäufung von Ablehnung, Bedürfnissen und Forderungen schlossen sich verschiedene soziale und gewerkschaftliche Sektoren an, größtenteils nicht zur Unterstützung von Vizcarra, sondern um der korrupten Politik ein Ende zu setzen. In diesem Prozess gab es keinen Raum, der die Organisation des Volkes konzentrierte, es war eine Reaktion. Durch verschiedene Organisationsformen schlossen sich die Menschen an. Medizinische Brigaden und Erste Hilfe wurden organisiert, Brigaden in der vordersten Linie zur Entschärfung von Tränengasbomben, Universitätsstudierende durch ihre Studierendengewerkschaften, Arbeitergewerkschaften und Nachbarschaftsorganisationen. Dabei wurde sowhol in Lima las auch in den Provizen massiv protestiert.

Eleonora Roldán Mendívil: Welche Rolle hat die Jugend bei den Protesten eingenommen?

Patricia Véliz: Die Jugend stand an der Spitze des Kampfes auf den Straßen, sie organisierten sich auf verschiedene Weise. In den medizinischen Brigaden zum Beispiel fand man einige Ärzte, aber auch Krankenschwestern, Feuerwehrleute und andere, die sich anschlossen, um den Verwundeten zu helfen. Auch Sicherheitskommissionen, und Rechtsbeistand wurden gegründet, um den Verhafteten zu helfen. Diese gingen auf die Polizeistationen, um zu gewährleisten, dass die jungen Leute nicht misshandelt wurden. Laut Register des Nationalen Koordinierungsstelle der Menschenrechte etwa 100 Personen vermisst wurden. Nach einigen Tagen tauchten diese jungen Leute in den Krankenhäusern und auf den Straßen wieder auf; von der Polizei gedopt, geschlagen und gefoltert. Es gab auch ein Kontingent junger Menschen, die in den aktiveren Widerstand traten. Diese hatten handgefertigte Schilder hergestellt; man sah sie sogar auf Rollerskates und Skateboards, um sich vor der Repression der Polizei zu schützen.

Eleonora Roldán Mendívil: Welche Rolle haben die sozialen Medien gespielt?

Patricia Véliz: Die Sozialen Netzwerke waren ein Mechanismus für eine größere Medienberichterstattung, und um junge Menschen zu erreichen. Vor allem Tik Tok wurde benutzt um auch auf Polizeigewalt aufmerksam zu machen.

Eleonora Roldán Mendívil: Man sieht, dass sehr viele junge Frauen in allen Bereichen der Proteste aktiv waren.

Patricia Véliz: Während des gesamten Proteste gab es wie immer Frauen an der Spitze der Polizeieinheiten sowie auf Seiten des Widerstandes. Der aktive Widerstand stärkt die Kraft der Frauen und ihre Fähigkeit, sich zu organisieren und zu beteiligen. Verschiedene Sektoren von Frauen schlossen sich außerdem an, wie z.B. die Vereinigten Familien von Frauenmordopfern, Aktivistinnen, Feministinnen, Organisationen der Frauenbewegung, Arbeiterinnen, Hausfrauen und Studentinnen, die von ihren eigenen Kämpfen aus agitierten und Gerechtigkeit forderten. Aber auch von der Repression waren Frauen besonders betroffen, wie im Fall der Verhaftung von Druckereiangestellten, die kostenlos für die Proteste drucken ließen. Die verhaftete Arbeiterin wurde auf der Wache nackt ausgezogen und missbräuchlich abgetastet. Diese Aktionen haben nur den einen Zweck, die Würde der Frauen zu erniedrigen und zu verunglimpfen, so dass sie sich nie wieder an Protesten beteiligen. All diese Repressionen sind zu Forderungen des Volkes und der Jugend nach Wiedergutmachung und Gerechtigkeit geworden. Ebenso die Deaktivierung der Terna-Gruppe [polizeiliche Spezialeinheit] und des Gesetzes, welches die nationale Polizei vor Straflosigkeit schützt (31012).

Eleonora Roldán Mendívil: Welche Rolle hat die Kunst eingenommen?

Patricia Véliz: Auch Künstlerinnen und Künstler waren während der Proteste ein sehr vorherrschender Sektor, zu dem sich Wandmaler, Plastik-, Theaterkünstler und Tänzer gesellten. Die Unruhen in den Straßen von Lima waren voller Kampfesgeist. Nach der Ermordung von Inti Sotelo (24) und Bryan Pintado (22) wurden Wandgemälde zu ihren Ehren angefertigt, doch Sektoren wie der Fujimorismus [rechter Neoliberalismus um Ex-Präseidenten Alberto Jujimori, A.d.A.] haben ein Wandgemälde, das sich in einer der Straßen von Lima befand, zerstört, was zu einer noch tieferen Ablehnung dieser Repressionen führte. Unter dem Motto „Zerstöre eins, wir werden tausend malen“ wurde in verschiedenen Stadtteilen Limas mit Wandgemälden begonnen, um die Erinnerung an unsere Gefallenen zu bewahren. Auch die Partizipation der Sikuris [Panflöten-geleitete Musikgruppen, A.d.A.], mit ihren großen Trommeln und den Zampoñas [Flöten, A.d.A.] haben sowohl den Kampf als auch die Erinnerung an die Gefallenen gestärkt. Definitiv sind die Proteste ein Raum, der künstlerische Agitation entwickelt. Auch Künstlerinnen und Künstler mit ihren Gemälden und Zeichnungen trugen zur Kommunikation nach innen und außen bei. Auch hierdurch wurden diese Momente verwegist, in denen die Menschen auf die Straße gingen und gegen so viel Korruption und soziale Ungerechtigkeit kämpften.

Eleonora Roldán Mendívil: Was ist seitdem passiert?

Patricia Véliz: Nach dem 14. November musste der Staat angesichts des Mordes an zwei jungen Männern und der brutalen Repression den Status quo wiederherstellen, da sein Hauptinteresse in der Aufrechterhaltung seines Wirtschaftssystems besteht. Angesichts des Todes von zwei jungen Menschen war dies ein Grund, Präsident Manuel Merino zu entlassen und einen Präsidenten einzusetzen, der demokratisch und offen für seine liberalen Positionen und die Interessen der Großbourgeoisie ist. Doch auf den Straßen fordern die Menschen immer noch Gerechtigkeit für die Morde, Hunderte von Verwundeten und Geschlagenen. Viele der jungen Menschen sind behindert, entmündigt, einige haben ihr Augenlicht verloren, andere liegen noch immer im Koma. In diesem Prozess haben einige Sektoren der Linken nun Slogans wie »Neue Verfassung« oder »Verfassungsgebende Versammlung« hinzugefügt, aber diese Slogans sind immer noch sehr schwach, da die Menschen angesichts der Pandemiesituation, die die Arbeiterklasse und das Volk trifft, unmittelbare Bedürfnisse zu stillen suchen. Innerhalb der Bevölkerung herrscht Uneinigkeit über die Verfassung. Es gibt Sektoren der Rechten, die ebenfalls eine Verfassungsänderung in Betracht ziehen, und im Sektor der Linken gibt es größere Unterschiede, da es Positionen gibt, die Kampf und Organisation für eine Verfassungsänderung durch eine verfassungsgebende Versammlung fordern, und andere Sektoren diese reformistische Position in Frage stellen. Es wird immer noch diskutiert, aber die Stärkung der Gewerkschaft und der sozialen Organisationen ist notwendig, um die Forderungen des Volkes zu konzentrieren und nicht von diesen Machtkämpfen auf der rechten Seite benutzt zu werden.

Eleonora Roldán Mendívil: Danke dir für das Gespräch.

Eine gekürzte Form des Interviews erschien in der Jungen Welt

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