Varoufakis präsentiert seine pan-europäische Bewegung in Berlin, Foto: deutschlandradiokultur

Europa nochmal ganz von neu

Yanis Varoufakis ist zurück in Berlin. Diesmal allerdings nicht als griechischer Finanzminister, dem der unangenehme Gang zu Bundeskanzlerin oder Finanzministerkollegen bevorsteht, sondern als Mitinitiator einer neuen pan-europäischen Bewegung. Varoufakis und seine Mitstreiter nennen das länderübergreifende Netzwerk „DiEM 2025“, „Democracy in Europe Movement 2025“. Das Projekt ist an Ambition kaum zu überbieten, es geht um nichts geringeres als die komplette Umgestaltung Europas, das politisch, wirtschaftlich, sozial, und ökologisch ein Muster der Nachhaltigkeit werden soll, und dabei kann und soll jede*r Europäer*Innen sich beteiligen, damit zwischen europäischen Werten und europäischer Wirklichkeit die schmerzhaften Gräben verschwinden.

In der Berliner Volksbühne könnte am 9. Februar 2016 Geschichte geschrieben worden sein. Unumstritten ist, dass Europa angesichts der gewaltigen Probleme eine neue Ausrichtung braucht. Der Kontinent scheint allein politisch so zerrissen zu sein, wie in seiner Unionsgeschichte noch nicht, rechte Kräfte wollen Europas transnationale Kooperation bis auf das Äußerste reduzieren, schüren zunehmend erfolgreich Vorurteile und Nationalismen, die die Risse verstärken und Europas Bürger*Innen um Jahrzehnte zurückwerfen würde. Auch wirtschaftlich bereitet Europa große Sorgen.

Dagegen stehen die Platzhalter, die Mächtigen aus Politik, Wirtschaft, und Finanzen, die oftmals ohne demokratische Legitimation das Projekt „Europa“ führen, ob aus Brüssel, Berlin, oder Frankfurt am Main, die Botschaft ist fast immer die selbe. Regierungen müssen ihren Part im neoliberalen Konzert dieses ungleichen und unsolidarischen Staatenbundes spielen.

Dem stellen sich nun mehr als 3.000 Unterstützer der DiEM2025 entgegen, an der Spitze steht der medienerfahrene Wirtschaftsprofessor Yanis Varoufakis, der sich als streitbarer Finanzminister des krisengeschüttelten Griechenlandes europaweit einen Namen gemacht hat. Weitere prominente Unterzeichner sind die Philosophen Srećko Horvat und Slavoj Zizek, Wirtschafts- und Politikwissenschaftler*Innen aus verschiedenen Teilen Europas, aber auch Künstler*Innen, also ein gesellschaftlich durchaus breit aufgestelltes Bündnis mit vielen interessanten Figuren aus der Zivilgesellschaft. Sogar Wikileaks-Gründer Julian Assange trug sich ein in die Bewegung.

Um der Desintegration entgegenzusteuern haben Varoufakis und Co ein Manifest verfasst, das sowohl eine Problemanalyse, als auch mögliche Auswege aufzeigt. Die Vision ist utopisch, das gestehen die Initiatoren ein, doch „es ist nicht utopischer, als es die Gründung der ursprünglichen Europäischen Union war“, so das Manifest. Die Union mit seiner fehlenden demokratischen Legimitation müsse strukturell verändert werden, transparenter gemacht werden, indem Sitzungen und Verhandlungen öffentlich gemacht werden. Brüssel habe Entscheidungsgremien geschaffen, die in demokratiefreien Zonen Entscheidungen treffen, die nur das jeweilige Volk – oder seine Vertreter in EU-Parlament – als Souverän zustünden. Dabei nennt DiEM2025 die EZB, die Troika, die Kommission, und den EU-Rat als Ganzes, der durch die Staats- und Regierungschef der Mitgliedsstaaten vertreten wird.

Außerdem haben gerade Eurokrise und die Flüchtlingsthematik eindrucksvoll gezeigt, dass europäische Werte von Solidarität und der Wahrung von grundlegenden Menschenrechten auf dem Altar des wirtschaftlichen Profits und des populistischen Stimmenfangs geopfert werden. Es gibt keine europäische Flüchtlingspolitik, in der die Staaten sich in Unionsgedanke den Problemen annehmen, stattdessen schottet sich Europa weiter ab. Die fundamentalen Ziele der europäischen Integration von Wohlstand und Friede sind 2016 nur noch auf auf dem Papier existent, Großteile der Europäer*Innen dienen schlichtweg den Interessen der „Reichen und Mächtigen“, ob sie nun im wohlhabenden Norden oder im von Austerität daniederliegenden Süden leben, um die Dichotomie von Nord-Süd beizubehalten.

Neue europäische Visionen

DiEM2025 möchte zurück zu einer nachhaltigen Wirtschafts- und Finanzpolitik, die den Einzelstaaten wieder demokratisches Mitbestimmungsrecht zurückgibt, um auch wieder in Bildung, Gesundheit und Soziales investieren zu können, denn gerade die Gesellschaften im Süden des Kontinents haben eine dramatische Entwicklung hin zu Verarmung und Entdemokratisierung genommen. Das Netzwerk prophezeit, „Europa wird demokratisiert, oder es zerfällt“. Schon jetzt seien Nationalchauvinismus und Fremdenfeindlichkeit an der Tagesordnung, die Entfremdung der Bürger*Innen mit dem Projekt Europa habe besorgniserregende Züge angenommen, und deshalb fordert DiEM2025 eine radikale Abkehr vom aktuellen System, das nur Eliten nütze. Nur wenn es den einzelnen Völkern gut geht, geht es Europa gut, denn „kein Volk kann frei sein, wenn die Demokratie anderswo verletzt wird“, so DiEM2025. Würde, Wohlstand und die Einhaltung der Grundrechte, also auch die Erfüllung von Grundbedürfnissen wie Krankenversicherung und Arbeitslosenhilfe, sind essentielle Eckpfeiler.

Europa soll demokratisch, sozial, egalitär, transparent, ökologisch, friedlich, pluralistisch, und vereinigt sein. Bis 2025 soll der Umbau des Hauses Europas schrittweise vorangetrieben werden. Dabei ist von vier Zeitpunkten die Rede, die gewisse Ergebnisse liefern sollen. Die Entscheidungsfindung in den Machtzentren der EU sollen ab sofort transparent gestaltet werden, innerhalb eines Jahres im Rahmen der aktuellen Verträge eine Art road map zur Lösung der drängendsten Krisen erstellt werden, nach zwei Jahren die Ausgestaltung einer neuen verfassungsgebenden Versammlung, und zuletzt bis 2025 die Umsetzung all dessen.

Getragen soll das Netzwerk nicht nur von Intellektuellen, sondern als „bottom-up“-Bewegung möglichst viele Menschen mitnehmen, Europa umzugestalten. Allen Demokrat*Innen aus dem linken, grünen, sozialdemokratischen, oder liberalen Milieu steht das Bündnis offen. Bei der Partizipation sollen nationale Grenzen wegfallen, Europas Vielschichtigkeit widerspiegeln, in dem Menschen aus unterschiedlichen Ländern, Kulturen, Sprachhintergründen, Glauben, Geschlecht, oder sozio-ökonomischen Status integriert werden. Wie genau man sich auch die parlamentarische Arbeit in ferner Zukunft vorstellt, beschreibt man detailliert auf seiner Vertretung im Netz auf diem25.org/de/

Schlussendlich, kündigt Varoufakis auf seinem blog „yanisvaroufakis.eu“ mit, soll DiEM2025 nach Jahren der Formierung auch eine Wahlalternative sein, also auf allen elektoralen Ebenen von Kommunal- bis Europawahl teilnehmen und so Europa auch im konstitutionellen Rahmen reformieren können. Was jetzt alles noch nach Utopie klingt, nach föderalem Projekt, das von Europas Bürger*Innen nicht gewollt wird, könnte bald schon zu einer echten Alternative werden, wenn es gelingt, eine größere Zahl von Menschen vom europäischen Geist und seinen Vorteilen zu überzeugen.

DiEM2025 betont nämlich auch, dass die EU die größte Errungenschaft Europas sei, die tatsächlich Jahrzehnte von Wohlstand, Frieden, Völkeraustausch kreierte, im Laufe der Jahre aber seinen Wertekanon aus den Augen verlor, in dem die Märkte die Regeln schufen, das „EU-Establishment“ ein Konstrukt voller Bürokratie und demokratischer Defizite aufbaute, das nichts mehr fürchte, als die „Demokratie“, auch wenn sie vorgeben im Sinne dieser zu handeln. Die Zukunft wird zeigen, welche neuen Wege DiEM2025 eröffnen kann. Visionen eines besseren Europas gibt es nicht gerade im Überfluss, daher bietet DiEM2025 vielleicht exakt die internationale Plattform, an der möglichst viele Europäer*Innen sich ein Beispiel nehmen können, und aus der Utopie Realität machen.

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5 Antworten

  1. Nicht nur Europa braucht gesellschaftspolitisch eine Reformation sondern die ganze Welt. Tiefstes „mittelalterliches Denken“ herrscht beispielsweise im „pseudokommunistisch-kapitalistischen China“, in vielen Militärdiktaturen wie z.B. in Nordkorea, in der religiös-fanatischen Scheinwelt des IS und in der surrealen Phantasie eines glorreichen Milliardärs als Favorit für die amerikanische Präsidentschaft.
    Die im Ansatz geniale freie Marktwirtschaft und das globale Finanzsystem zerstören unaufhaltsam das gesunde Denken, da sie nur auf Gewinnsucht und Etablierung weniger Machtpotenziale weltweiter Finanz- und Wirtschaftsimperien ausgerichtet sind.

    1. Was für Alternativen gibt es denn? Es geht doch schon immer ums „Geld“. Wer das Geld hat, hat die Macht. Unterschichten werden von den Eliten ausgebeutet. Das war bisher in allen Hochkulturen so.
      Man kann nicht dem Geld die Schuld geben, sondern Menschen, die andere ausnutzen und ausbeuten. Gewinnsucht ist eine Sucht! Den Hals nicht voll bekommen. Unsere Gesellschaft ist komplett darauf ausgerichtet. Wachstum. Wie will man das ändern?
      Es fängt doch schon bei einem selbst an. Wer will denn nicht wenig arbeiten und viel Geld verdienen?
      Auch wenn es bedeutet, dass andere dafür bluten müssen. Solange man selbst besser dasteht.
      Vielleicht ist es einfach die Natur des Menschen. Überleben. Mit wenig Aufwand viel erreichen.
      Oder ist es vielleicht doch eine Frage der Erziehung, eine Frage der gesellschaftlichen Normen und Werte , in denen man hineingewachsen ist?
      Mir hat mal jemand gesagt, dass der Unterschied zwischen „intellektuell“ und „intelligent“ darin besteht, dass der intellektuelle Mensch alles hinterfragt und sich nicht alles gefallen lässt und der intelligente Mensch die Dinge so nimmt, wie sie kommen und sie sich zunutze macht. Man kann sich anpassen oder rebellieren. Wenn das Volk die Schnauze voll hat, dann sollte es rebellieren.

      1. Zitat:
        „Oder ist es vielleicht doch eine Frage der Erziehung, eine Frage der gesellschaftlichen Normen und Werte , in denen man hineingewachsen ist?“

        Sehr gut möglich, dass es eine Frage der Erziehung ist. Mir fällt da ein entscheidender Unterschied zwischen West- und Ostdeutschen auf. Einerseits die wachstums- und konkurrenzbetonte Wirtschaftsweise im Westen und andererseits die eher Bedarfsorientierte im Osten. Nun, ich bin im Ostteil Deutschlands aufgewachsen und finde an einer Planwirtschaft (welch böses Wort :-) ) nichts Schlimmes. Ich finde es aus sozialer und ökologischer Sicht sinnvoll, soviel zu erwirtschaften bis genug vorhanden ist. Dieses Genug kennt der Westen nicht. Was ich allerdings an einer Planwirtschaft als negativ ansehe ist, wenn der Plan seitens der Obrigkeit vorgegeben wird, er also eine zentralistische Vorgabe darstellt.

        Natürlich sind die Bedürfnisse und Ansprüche der Menschen unterschiedlich und das finde ich auch in Ordnung. Deshalb würde ich es befürworten, wenn es eine Gesellschaftsform gäbe, in der der/die Einzelne die Möglichkeit hat, seine Arbeitkraft nach seinem eigenen Bedarf auszurichten. Wer z.B. zwei Autos möchte, der soll eben doppelt so lange arbeiten, wie jemand, der nur Eines braucht. Mal ganz vereinfacht ausgedrückt. Ich habe mal von einem Unternehmer gehört, der seine Firma auch mal zu macht, wenn er genug hat. Wegen Reichtum geschlossen, sozusagen. Da kann ich nur Beifall klatschen, ist aber wohl eher eine extrem seltene Ausnahme.

        Problematisch finde ich diesbezüglich auch die extreme Spezialisierung. Wenn z.B. ein Arzt nur Arzt ist, oder ein Softwareentwickler eben nur Software entwickelt. Es wäre doch wünschenswert, wenn dem Arzt die Patienten auch mal ausgehen, weil alle gesund sind. Dann könnte der Arzt z.B. auch mal in einer Tischlerei mit anpacken, oder seinen Garten bestellen. …oder einfach mal „faul“ sein und mit seinen Kindern schwimmen gehen. Je nach Bedarf eben. Nach meinen Vorstellungen kann sowas funktionieren. Ich finde es grausam dem Menschen und der Natur gegenüber, wenn man jeden Tag den ganzen Tag arbeitet und ein riesiger Teil (ich kenne Zahlen zw. 30 – 50 %) nur für die Mülltonne produziert wird. Gerade durch die hoch effiziente Technologie heutzutage sollte das doch nicht mehr nötig sein.

      2. Allein schon das Wort „Planwirtschaft“ ist für Alt-Wessis und Amerikaner die reinste Provokation. Der Mensch definiert sich normalerweise nicht nur über die Arbeit.
        Viel zu wenig Zeit für einen selbst….immer nur funktionieren. Das erleben viele Menschen in Deutschland!

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