Eine neue Protestwelle in Indonesien

In den letzten Wochen hat es in Indonesien eine Welle massiver Proteste gegeben, an denen Studenten, Gewerkschaften, ökologische und andere progressive Gruppen beteiligt waren. Auslöser der Proteste war das neue so genannte Omnibus-Gesetz – eine riesige Sammlung von Änderungen an bestehenden Gesetzen, die, wenn sie umgesetzt werden, den Arbeitnehmern Rechte entziehen und Umweltstandards untergraben werden. Doch es sind nicht nur die Inhalte des Omnibus-Gesetzes, die Ärger und die Proteste auslösten, sondern auch die Umstände, unter denen das Gesetz eingeführt wurde.

Der über 900 Seiten umfassende Gesetzesentwurf wurde Anfang Oktober verabschiedet, ohne dass im Vorfeld ein einziger Entwurf der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Dutzende bestehender Gesetze, darunter Bestimmungen zum Arbeits-, Bergbau- und Umweltschutz, sind betroffen.

Dies geschah, während Indonesien infolge der Pandemie eine tiefe Krise durchlebt. Diese Krise wurde durch Missmanagement der Regierung noch verschlimmert. Als Covid-19 im Januar und Februar begann, sich in der gesamten Region auszubreiten, bestand die erste Reaktion der indonesischen Regierung darin, die Gefahr herunterzuspielen. Während die Zahl der Fälle in den umliegenden Ländern bereits rapide zunahm, behauptete der indonesische Gesundheitsminister (ein ehemaliger Militärarzt) Mitte Februar, das Land sei immer noch völlig frei von dem Virus. Auf einer Pressekonferenz erklärte er, aus „medizinischer“ Sicht sei dies den Gebeten zu verdanken.

Mit Stand 23. Oktober überstieg die offizielle Zahl der Todesopfer die Marke von 13.000, womit Indonesien zu den am schlimmsten betroffenen Ländern in der Region gehört. Dennoch wird allgemein angenommen, dass diese Zahl der Todesopfer unrealistisch niedrig und das Ergebnis unzureichender Tests ist. Im April hatten die Gewerkschaften das Parlament gezwungen, eine Debatte über den Entwurf zum Omnibus-Gesetz auszusetzen. Doch während die Öffentlichkeit mit der anhaltenden Gesundheitskrise beschäftigt war, wurde das Gesetz am 5. Oktober rasch in Kraft gesetzt.

Demokratie in Gefahr

Die Art und Weise, wie das Gesetz eingeführt wurde, verstärkte die bestehenden Sorgen über den Zustand der Demokratie in Indonesien. Nachdem die Volksproteste 1998 die Diktatur von General Suharto gestürzt hatten, wurde die politische Macht des Militärs (Tentara Nasional Indonesia, TNI) beschnitten, was von den Generälen jedoch nie vollständig akzeptiert wurde. Der derzeitige Präsident Joko Widodo, besser bekannt als Jokowi, kam 2014 an die Macht und wurde im vergangenen Jahr wiedergewählt. Obwohl er mit der Aura eines Reformers, eines Mannes des Volkes und des ersten Post-Suharto-Präsidenten ohne Verbindungen zur Elite des alten Regimes an die Macht kam, gewinnen unter seiner Regierung die Militärs wieder an politischer Macht. So wurde zum Beispiel im März eine nationale Taskforce Covid-19 eingerichtet, der eine große Zahl von Armeeoffizieren auf nationaler und lokaler Ebene angehörte. Die Militärführer versuchten auch, im Rahmen der Anti-Terrorismus-Operationen des Landes ihre Machtbefugnisse auszuweiten und mehr Einfluss in der sogenannten Agentur für Ideologieerziehung der Pancasila (BPIP) zu gewinnen. Dieses Gremium wurde Anfang 2018 von Jokowi mit dem Ziel gegründet, Pancasila, die offizielle Ideologie des indonesischen Staates, zu fördern. Kurz nach seiner Wiederwahl führte Jokowi Revisionen ein, die die Korruptionsbekämpfungskommission (KPK) schwächten, wodurch Reform- und Demokratisierungsversuche erneut untergraben wurden.

„Unter der Jokowi-Präsidentschaft“, schreibt Jun Honna, Professorin für Southeast Asian Studies, „gewinnt die TNI in Sicherheitsfragen wieder an Boden und konnte aufgrund der Covid-19-Krise den Reformdruck der Zivilgesellschaft abwehren. Es scheint wahrscheinlich, dass diese Entwicklungen die neue Normalität im Indonesien nach der Pandemie prägen werden, denn die nationalen Gesetzgeber haben keinen Anreiz, das mächtige Militär in einer Zeit, in der es sich der öffentlichen Zustimmung zu seiner Rolle im Krisenmanagement erfreut, gegen das Militär aufzuhetzen.“ Bei beiden Präsidentschaftswahlen trat Jokowi gegen Prabowo Subianto an, einen ehemaligen Generalleutnant der Armee und Schwiegersohn von Suharto, der erklärte, er wolle „Make Indonesia Great Again“. Er ist in viele brutale Menschenrechtsverletzungen verwickelt. Während der Proteste 1998 wurde Prabowo, der in den achtziger Jahren bei der deutschen GSG 9 ausgebildet wurde, zum Symbol für die Verbrechen des Suharto-Regimes. Jokowi ernannte ihn im Oktober 2019 zum Verteidigungsminister.

Die Regierung hat auf die Bewegung mit einer Kombination aus Propaganda, Einschüchterung und gewaltsamer Unterdrückung reagiert. Ein offizielles Rundschreiben riet Universitätsstudenten davon ab, sich den Protesten anzuschließen, und forderte die Fakultät auf, sich für das Gesetz starkzumachen. Polizeibeamte wurden angewiesen, „Narrative zu erarbeiten, um der Diskreditierung der Regierung entgegenzuwirken“. Die Organisatoren der Proteste erhalten inoffizielle persönliche Besuche von Polizeibeamten, die versuchen, sie von der Fortsetzung ihrer politischen Aktivitäten „abzubringen“, und den Studenten droht die Aufnahme auf eine Blacklist an der Universität. Versammlungen wurden unter dem Vorwand von Gesundheitsvorschriften verboten. Besonders an die Methoden des Suharto-Regimes erinnernd, so der indonesische Politikexperte Edward Aspinall, war „die diskursive Reaktion der Regierung“: „Viele Regierungschefs haben auf die Proteste der Demonstranten nicht derart reagiert, dass sie direkt auf ihre Anliegen eingegangen wären, sondern indem sie sich stattdessen auf die angebliche Präsenz dunkler Mächte konzentrierten, die sie manipulieren würden“. Der Vorwurf, die Proteste dagegen seien das Werk eines verborgenen Dalang (Marionettenspieler), war ein fester Bestandteil der Propaganda des Suharto-Regimes der Neuen Ordnung.

Auch die indonesische Polizei wendet in großem Umfang Gewalt an. Aus vielen verschiedenen Städten gibt es Berichte von Übergriffen und Schläge der Polizei auf Demonstranten. Die Polizei setzte Tränengas ein und griff sowohl Sanitäter, Journalisten als auch Demonstranten an. Mehr als 6.000 Menschen wurden verhaftet, und Hunderte von Festgenommenen sind unauffindbar.

Ein Gesetz, das dem ganzen Volk schadet

Das Omnibus-Gesetz wird als ein Schritt zur „Entwicklung“ des Landes und als ein Weg zur „Schaffung von Arbeitsplätzen“ dargestellt. Die Schwächung des Umweltschutzes wird als „Bürokratieabbau“ bezeichnet. Die enthaltenen Bestimmungen würden die Arbeitszeit verlängern, den bezahlten Mutterschafts- und Menstruationsurlaub abschaffen, Entlassungszahlungen reduzieren und den Schutz vor Entlassungen schwächen. Das Gesetz beseitigt auch die Kriterien der Inflationskorrektur und der Lebenshaltungskosten zur Bestimmung des Mindestlohns, der auf dem indonesischen Archipel sehr unterschiedlich ist. Was Umweltfragen anbelangt, so macht es das neue Gesetz den Unternehmen leichter, Berichte über die Umweltauswirkungen ihrer Aktivitäten zu vermeiden. „Das Omnibus-Gesetz schadet nicht nur den Arbeitern, sondern auch den Rechten der gesamten Bevölkerung“, schreibt der indonesische Sozialist Frans Ari Prasetyo; „beispielsweise erlauben es die agrarrechtlichen Klauseln des Gesetzes der Regierung, Industriegebiete, Mautstraßen oder Dämme auf Land zu bauen, das ihren Eigentümern entzogen wurde, wobei dem Eigentümer weniger als der Wert des Landes oder in einigen Fällen überhaupt keine Rückerstattung gewährt wird“.

Die Bewegung ist so breit gefächert wie das Gesetz, gegen das sie mobilisiert. Sowohl Gewerkschaften als auch linke Gruppen haben sich für die Proteste mobilisiert. Besonders die Beteiligung von Arbeitern und Studenten an High Schools und Universitäten ist bemerkenswert. Zusätzlich zu den Protesten gab es Streiks, an denen Tausende von Arbeitern teilnahmen. Kurz nach der Verabschiedung des Gesetzes traten Arbeiter im ganzen Land in den Streik und schlossen sich den Protesten an, indem sie Schilder mit Botschaften wie „Das Omnibus-Gesetz tötet die Zukunft unserer Enkelkinder“ und „Der Kolonialismus ist beendet, aber die Kolonisierung der Arbeiter beginnt“ emporhielten. In den sozialen Medien verbreiteten sich die Hashtags #DPRRIKhianatiRakyat (#HouseBetraysThePeople), #BatalkanOmnibusLaw (#CancelTheOmnibusLaw) und #MosiTidakPercaya (#VoteOfNoConfidence).

Die Demonstranten fordern Jokowi nun auf, das Gesetz aufzuheben, ein Aufruf, der auch von den wichtigsten Gewerkschaftsorganisationen aufgegriffen wurde. Der Präsident wies jedoch die Kritik an dem neuen Gesetz als bloßen Schwindel zurück und sagte den Leuten, sie sollten ihre Anliegen vor ein Gericht bringen, anstatt sich an Straßenprotesten zu beteiligen. Offensichtlich sind die Regierung und ihre Verbündeten vor Gerichten jedoch im Vorteil. Jokowi scheint entschlossen zu sein, die Forderungen der Demonstranten zu ignorieren. Die aktuellen Proteste kommen etwa ein Jahr nach einer ähnlichen Welle von Protesten gegen die Ausweidung der Kommission zur Beseitigung der Korruption und Versuchen, verschiedene Gesetze zu verabschieden – von denen die meisten dann in das Omnibus-Gesetz aufgenommen wurden. Jokowi scheint zu glauben, dass auch er den gegenwärtigen Sturm überstehen kann. Gerichtsverfahren und Berufungen werden wohl keine Veränderung bringen. Allerdings haben immer mehr Menschen die Illusionen verloren, die sie einst in ihn hatten. Die kombinierte Krise und die Bedrohung der indonesischen Demokratie erzeugen Wut und Widerstand. Fortschrittliche Gewerkschaftsaktivisten und die kleine, aber aktive Linke des Landes versuchen, die schwelende Unzufriedenheit zu mobilisieren. Wir sehen erst den Anfang des Kampfes.

Dieser Text wurde vom niederländischen Journalisten Alex De Jong für Die Freiheitsliebe verfasst und von Manuel Bühlmaier ins Deutsche übersetzt.

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