Der tiefe Fall des „M. Rajoy“

Seit heute steht fest, Mariano Rajoy ist nicht mehr Ministerpräsident Spaniens. Zum ersten Mal in der Geschichte Spaniens ist ein Regierungschef durch ein Misstrauensvotum gestürzt worden, nachdem der unpopuläre Rajoy für endlose Korruptionsskandale seiner rechten Volkspartei (PP) abgestraft wurde. Nachfolger wird der Vorsitzende der sozialdemokratischen PSOE, Pedro Sánchez. Unklar ist, wie Sánchez politisch gestalten und die großen Probleme des Landes angehen möchte. Genauso ungewiss ist die parlamentarische Zukunft Spaniens, Neuwahlen sind wahrscheinlich. Es ist eine handfeste Krise des politischen Systems, die sich in der Demission Rajoy offenbart. Korruption, schwarze Kassen, gnadenlose Spar- und Repressionspolitik – Marian Rajoys Bilanz ist verheerend.

Es war ein schwarzer Freitag für den langjährigen Ministerpräsidenten des Landes. Mariano Rajoy übernahm 2011 die Regierungsgeschäfte, nachdem seine rechte PP die Parlamentswahlen gewann. Der Galizier gilt als knorrig und wenig charismatisch, zudem ist das Aussitzen von Problemen und Schweigen zu Anschuldigungen ein Charakteristikum des PP-Politikers. Die politische Karriere Rajoys ist nun wohl beendet. Das erste konstruktive Misstrauensvotum der spanischen Geschichte brachte eine klare Mehrheit von 180 Stimmen gegen 169 Stimmen der parlamentarischen Rechten (PP, Ciudadanos und kleineren Parteien), so dass mit Rajoy auch die Minderheitsregierung des PP ein Ende gefunden hat. Auslöser war die Verurteilung führender PP-Politiker im sogenannten „Gürtel-Fall“, die die ganze Partei vollends diskreditierte. Die beiden Hauptangeklagten waren Francisco Correa (Correa, zu deutsch „Gürtel“) und der ehemalige Schatzmeister Luis Bárcenas. Correa soll für 51 Jahre, Bárcenas für 33 Jahre ins Gefängnis. Obwohl seit Jahren über Korruption, Schmiergeldzahlungen, Steuerhinterziehung, Veruntreuung öffentlicher Gelder im PP-Haus berichtet wird, folgten erst jetzt rechtskräftige Verurteilungen, die das Fass zum Überlaufen brachte. Initiiert wurde das Votum insbesondere durch die oppositionelle PSOE, Unidos Podemos und weiterer regionaler Parteien aus dem Baskenland und Katalonien, die die Chance einer politischen Neuorientierung trotz aller Kritik an Sánchez und der zentristischen PSOE nicht auslassen wollten. Zünglein an der Waage war wohl die Baskische Nationalpartei PNV, die mit ihrer Zustimmung das Vorhaben erst möglich gemacht hat. Ihre Forderung an Rajoy, die Zwangsverwaltung Kataloniens zu beenden, kam für die reaktionäre und nationalistische Regierung in Madrid nicht in Frage.

Das Amt des Ministerpräsidenten geht wohl in die Hände Pedro Sánchez über, der mit seiner PSOE ein instabiles Bündnis aus zentristischen, regionalistischen und linksalternativen Kräften anführen wird. Am Montag soll dieser von König Felipe VI einen Regierungsauftrag bekommen und vereidigt werden. Ein konkretes Regierungsprogramm gibt es freilich nicht, dennoch ist anzunehmen, dass es zu zumindest leichten atmosphärischen Veränderungen in der spanischen Regierungspolitik kommen könnte, darunter auch in der Frage um das abtrünnige Katalonien oder die umstrittene Sozialpolitik Madrids. „Die Demokratie wieder herstellen“, so lautet das Ziel Sánchez‘, der 2016 schon einmal bei der Wahl zum Ministerpräsidenten gescheitert ist und kurze Zeit von der Spitze der ehemaligen Arbeiterpartei verschwunden war. Sánchez sieht sich einer stark fragmentierten politischen Landschaft gegenüber, die mit Charakterköpfen wie dem Ciudadanos-Chef Albert Rivera (rechts, zentristisch, wirtschaftsliberal) oder von links dem Podemos-Vorsitzenden Pablo Iglesias starke Konkurrenz bereithält. Von Seiten des rechten PP, der seit geraumer Zeit den Ruf einer korrupten Partei innehat, ist zunächst einmal nichts Erwähnenswertes zu erwarten. Die politische Kraft, die der PP trotz zahlreicher Skandale bislang ausmachte, ist vor allem auf die überwiegend rechtskonservativ geprägten, älteren Bevölkerungsschichten zurückzuführen. Darüber hinaus stehen Wirtschaft, Medien, Kirche und das Militär traditionell hinter Spaniens Rechte. Gerade die peripheren Gebiete Katalonien und das Baskenland, die mehr Autonomie im mehrheitlich zentralistischen Spanien erstreiten wollen, sind Rajoys PP alles andere als freundlich gesinnt. Jüngere Wähler*innen störten sich neben der korrupten Regierungsführung auch die äußerst reaktionäre Gesellschaftspolitik (Abtreibungsverbot, Demonstrations- und Meinungsäußerungseinschränkungen, etc.) sowie die fatale Sparpolitik, die vor allem die Jungen Spaniens hart trafen. Nicht umsonst ist Spaniens Jugendarbeitslosigkeit eine der höchsten in der EU.

Eine korrupte Volkspartei demontiert sich selbst

Obwohl es viele Hinweise auf eine Verwicklung des PP-Chefs Rajoy in den Korruptionsfällen „Gürtel“ und „Bárcenas“ gibt, bis heute ist der ehemalige Regierungschef auf freiem Fuß und konnte sieben Jahre lang die Geschicke des iberischen Landes leiten. SMS („Bleib stark, Luis“) oder handschriftliche Notizen („M. Rajoy“) des PP-Schatzmeisters Bárcenas deuten darauf hin, dass Rajoy zumindest über die Veruntreuung öffentlicher Gelder durch schwarzen Kassen und illegale Wahlkampffinanzierung Bescheid weiß. Es kann sogar davon ausgegangen werden, dass Rajoy persönlich von Extrazahlungen für Parteigrößen in Geldkoffern profitierte und sich so unrechtmäßig bereichterte. Das wäre ein eklatanter Straftatbestand, der Rajoy noch zum Verhängnis werden könnte, denn der „Gürtel-Fall“ berücksichtigt zunächst nicht, was dem damaligen Schatzmeister Bárcenas – und damit möglicherweise auch Rajoy – zur Last gelegt wird. Jener Bárcenas war jahrelang enger Vertrauter Rajoys und als Schatzmeister mit der Finanzierung der Franco-Nachfolgepartei PP zuständig. Dass ein Vorsitzender nichts über die Geldströme der eigenen Partei weiß, ist unglaubwürdig. Sogar die stets regierungs- und elitenfreundlichen Gerichte Spaniens bezeichneten Rajoys Ansicht über seine Schuld als „wenig glaubhaft“. Bis heute verweigert er mit seltsamen Rechtsverständnis die volle Kooperation mit den Justizbehörden.

Bereits im letzten Jahr hat das Oberste Gericht in Valencia den galizischen PP-Politiker Pablo Crespo und dessen Nummer zwei, Álvaro Pérez zu 13 Jahren Haft verurteilt. Weitere Führungspersönlichkeiten der Parteien wie die Madrider Regionalpolitikerin Cristina Cifuentes (gefälschte Uniabschlüsse) fielen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zum Opfer. Auch gegen die konservative Volkspartei selbst stellte das Gericht eine eher als symbolisch zu verstehende Strafe von 245.000 Euro aus. Den Straftatbestand „illegale Parteienfinanzierung“ gibt es in Spanien erst seit 2015, noch so ein Beispiel für das Rechtsverständnis des rechten PP rund um den geschassten Ministerpräsidenten. Seine Verschwiegenheit und die fehlende Motivation – wohl aus Eigeninteresse – diese Korruptionsskandale gänzlich aufzuarbeiten, kostet Rajoy nun sein Amt. Auch seine Rolle als eisenharter Widersacher gegen den in Deutschland festsitzenden katalanischen Politiker Carles Puigdemont und weite Teile der katalanischen Bevölkerung wurde von vielen Seiten kritisch gesehen. Spaniens Ruf als liberale Demokratie hat vor allem durch das antidemokratische Handeln Madrids stark gelitten, das zeigen Einschätzungen unabhängiger NGOs. Transparency International stuft Spanien auf einen ernüchternden weltweiten 41. Platz ein. Wo er durch seine überharte Gangart Zustimmung bekam, vergrößerten sich auf der anderen Seite die Gräben erheblich, so dass Spanien nun in einer wahrhaftigen Staatskrise steckt. Die Frage Kataloniens ist letztendlich eine über die demokratische und föderale Zukunft Spaniens.

In der Zwischenzeit ist das Vertrauen in die Politik und die damit zusammenhängenden staatlichen Institutionen vieler Bürger*innen in Spanien stark gesunken. Die großen Volksparteien PP und PSOE, die abwechselnd an der Spitze der Regierungen standen, verloren bei den letzten Wahlen erheblich, neue Parteien wie Podemos oder Ciudadanos konnten landesweit Erfolge erzielen, auch und gerade weil das Land so unter gigantischen Korruptionsskandalen leidet. Spaniens Fliehkräfte sind in den vergangenen Jahren stärker geworden, die Lösung von grundlegenden Fragen, die den Staat und die vielfältige spanische Gesellschaft seit weit mehr als einem Jahrhundert belasten, nicht vorangetrieben. Das wird sich auch beim zukünftigen Ministerpräsidenten Sánchez nicht ändern, da dieser in der Katalonien- und damit in der gesamtdemokratischen Frage des Landes an der Seite Rajoys und der rechtsnationalen Kräfte von PP und Ciudadanos stand. Dennoch wünschen sich viele Spanier*innen, dass es Sánchez gelingt, den Gesprächsfaden mit den regionalistischen Akteuren in Barcelona wieder aufzunehmen. Hier könnte es unter optimalen Umständen zu einer leichten Deeskalation zwischen dem spanischen Zentrum und der katalanischen Peripherie kommen. Beobachter*innen im In- und Ausland gehen jedoch davon aus, dass Sánchez nur übergangsweise das Sagen im Moncloa-Palast haben, einige sozialdemokratische Akzente setzen und dann – nach profunder Vorbereitung und Profilierung als Staatsmann und PP-Alternative – Neuwahlen anberaumen wird. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden diese aber nicht mehr 2018 stattfinden, da nach dem dreifachen Wahldebakel eher mit einem Rechtsruck gerechnet werden muss. In den Autonomen Gemeinschaften Baskenland und Katalonien beobachtet man mit großer Spannung, was nach der Ära Rajoy nun passieren wird, ob die Gräben etwas gekittet und die Spaltung der spanischen Gesellschaft abgebaut werden kann. Dazu benötigt es neben einer besonnenen Innen- vor allem eine gerechte Sozial-, Gesundheits- und Bildungspolitik, die den durch die PP zerstörten sozialen Frieden (Austerität und Repression) langsam wieder herstellen kann. Angesichts Sánchez‘ Vergangenheit sind Zweifel hierzu angebracht. Wieder einmal erlebt Spanien eine Zeit voller Unwägbarkeiten und politischer Spannung. Sicher ist, dass mit der Abwahl Mariano Rajoys eine prägende und schmerzhafte Zeit seit heute Geschichte ist.

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