Mit der Rückeroberung von Albu Kamal in Syrien an der irakischen Grenze hat der IS seine letzte Hochburg verloren. Das „Kalifat“ als territoriales Gebilde ist Geschichte. Doch ist der IS keineswegs geschlagen, er wird sich auf seine Guerilla-Taktiken zurückbesinnen und sich andernorts neu formieren.
„In Zusammenarbeit mit Verbündeten und Helfern haben unsere Streitkräfte die Stadt Albu Kamal in der Provinz Deir Ezzor befreit,“ verkündete das syrische Militär am Donnerstag in einer Stellungnahme der staatlichen Nachrichtenagentur SANA. Albu Kamal war damit die letzte größere Stadt in Syrien und Irak mit signifikanter IS-Präsenz.
Unterstützt von russischen Luftschlägen näherten sich in den vergangenen zwei Wochen syrische Regierungstruppen der am Euphrat an der Grenze zum Irak befindlichen Stadt im ölreichen Südosten des Landes, wobei „Zehntausende Menschen“ vor den oft heftigen Kämpfen fliehen mussten. Am Mittwoch wurde Albu Kamal von Anti-IS-Kräften dann zunächst umzingelt und schließlich gestürmt.
Zu Beginn der Operation hielten sich noch etwa 2.500 bis 3.500 IS-Kämpfer in der Stadt auf, auch hochrangige IS-Funktionäre flüchteten sich im Vorfeld nach Albu Kamal, wie türkische Medien berichten. Nach anfangs heftigen Kämpfen, bei denen „eine große Zahl“ IS-Kämpfer getötet wurde, wurden die verbleibenden Dschihadisten schließlich über einen letzten noch intakten Korridor in die Wüste der Deir Ezzor-Region Richtung Landesinnere vertrieben.
In der Wüstenregion befinden sich jedoch sowohl von Russlands Luftwaffe unterstützte Assad-Truppen als auch von der US-Luftwaffe unterstützte Truppen der mehrheitlich kurdischen SDF-Verbände. Nach weiterem Blutvergießen werden wohl auch die letzten größeren IS-Verbände in Syrien dort bald ihr Ende finden.
Das Schicksal des selbsternannten Kalifen des IS – Abu Bakr al-Baghdadi – ist unklar. Oft wurde er für tot erklärt, oft ist er von den Toten wiederauferstanden. Unbestätigten Berichten der Hisbollah zufolge wurde er gestern in Albu Kamal gesehen.
Die Schlacht um Albu Kamal lief zwar unter dem Schirm des Assad-Regimes, wurde am Boden jedoch unter dem Kommando der libanesischen Hisbollah geführt, unterstützt von Truppen der Iranischen Revolutionsgarden und von iranisch kontrollierten schiitischen Milizen aus dem Irak, wie Rami Abdel Rahman von der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtet.
Nachdem in diesem Sommer sowohl die de-facto-Hauptstadt des IS im Irak – Mossul – als auch jene in Syrien – Raqqa – von einer Vielzahl staatlicher und nichtstaatlicher Player zurückerobert wurden, war Albu Kamal mit seinen rund 50.000 Einwohnern die letzte Hochburg des IS. Im Sommer 2014 begann der blitzschnelle Siegeszug der Terrorgruppe, in dessen Zuge im Irak und in Syrien ein Gebiet der Größe Großbritanniens erobert und 10 Millionen Menschen unter die Herrschaft der Dschihadisten gezwungen wurden.
Die Rückeroberung der Stadt markiert damit – vorläufig – das territoriale Ende des selbstherrlich so genannten Islamischen Staats und seines „Kalifats“.
Die Zukunft des IS
Der physische Untergang des „Kalifats“ in Syrien und Irak hat drei wesentliche Konsequenzen für die Zukunft der Terrororganisation:
Erstens wird sich der IS jetzt wieder auf seine Ursprünge zurückbesinnen und so wie sich im Irak bereits seit einiger Zeit abzeichnete auch in Syrien wieder zu klassischer Guerilla-Kriegsführung zurückkehren – Terroranschläge auf lokale und ausländische Sicherheitskräfte, aus dem Untergrund heraus geplant und ausgeführt.
Zweitens wird der Propaganda-Krieg im Internet verschärft und so marginalisierte Muslime auf der ganzen Welt verstärkt zu Anschlägen in ihren eigenen Ländern angestachelt werden, so wie der jüngste Anschlag in New York des Usbeken Sayfullo Saipov. Rechte islamophobe Hetzer im Westen – allen voran AfD, Le Pen, Wilders, Trump, um nur einige zu nennen – nehmen die Einladung des IS, den Kampf der Kulturen zwischen Islam und Christentum zur Eskalation zu treiben, gerne an. Dieser herbeigesehnte Kulturkampf soll mit Terroranschlägen im Westen unter IS-Flagge weiter angeheizt werden, so die erklärte Strategie des IS.
Drittens werden die Dschihadisten versuchen, in andere Länder mit bereits etablierter IS-Präsenz zu fliehen und die Konzentration vom Nahen Osten einerseits in Richtung Zentralasien nach Afghanistan, Pakistan und möglicherweise nördlich davon in die ehemaligen Sowjetrepubliken hin zu verschieben, andererseits und vordergründig jedoch nach Nordafrika und hier vor allem nach Libyen. Nachdem die NATO dort 2011 in einem illegalen Krieg gegen den jahrzehntelangen Machthaber Gaddafi das staatliche und soziale Gefüge des Landes buchstäblich vernichtet hat, wurde Libyen zum Schmelztiegel und Hauptknotenpunkt des Terrors in Afrika. Der IS konnte dort ohnehin bereits sein drittgrößtes Länderkontingent etablieren.
Die Zukunft des IS liegt in Libyen.
Auch wenn das Staatsprojekt IS nun Geschichte zu sein scheint – was natürlich positiv zu bewerten ist – ist heute kein Tag zum Feiern. Sämtliche Parteien im Kampf gegen den IS – Assad, USA, Russland, Kurden, sämtliche Milizen, Iran, Türkei, Saudi-Arabien darunter – erachteten jedes Mittel als Recht und legitim, luden sich mit unzähligen Kriegsverbrechen unendlich viel Schande auf und wurden so in Nietzsches Kampf gegen das Ungeheuer selbst zu eben diesem Ungeheuer, das sie vorgaben zu bekämpfen.
Ob der IS eine Gruppe Zivilisten medienwirksam synchron die Kehle aufschlitzt, die Kurden in Nordsyrien im Zuge der „Befreiung“ ethnische Säuberungen begehen oder ob Trump 200 Geflüchtete in einer syrischen Schule aus der Luft tötet, ist ein Unterschied nur in der Art und Weise des Verbrechens, kein Unterschied aber in der Sache selbst.
Das Ende des IS als Staatsprojekt markiert nur den Beginn eines neuen Kapitels. Denn mit der Art und Weise, wie wir Terror bekämpfen, bekämpfen wir ihn nicht, wir vertagen ihn nur.