Der Übervater Haitis. Foto: Mark Morgan, CC BY 2.0 Haiti Duvalier

Der haitianische Messias

14 Jahren herrschte „Papa Doc“, wie Haitis Ex-Diktator François Duvalier genannt wurde, brutal und gnadenlos. Obwohl der Karibikstaat von Beginn an und das Staatsgebilde seit jeher brüchig war, verursachte die Dynastie von François und seinem Sohn Jean-Claude besonders schweren Schaden am haitianischen Volk. Vater Duvalier kreierte einen absurden, fast schizophrenen Kult um seine eigene Person. Trotz seiner unvorstellbaren Grausamkeit wurde Papa Doc für den Westen zum anti-kommunistischen Verbündeten.

Mit seiner Sicht auf die Dinge war François Duvalier keineswegs alleine. Viele Alleinherrscher schrieben sich selbst übermenschliche Eigenschaften zu, Führerkulte gab es im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert der totalitären Systeme zu Genüge. Für Papa Doc, den in den USA ausgebildeten Arzt aus der haitianischen Hauptstadt Port-Au-Prince, stellten die schrecklichsten Diktatoren jener Zeit große Vorbilder dar. Neben Adolf Hitler, Josef Stalin bewunderte Duvalier auch den chinesischen Kommunistenführer Mao Tse Tung. Niemand schien ihm allerdings ähnlicher als ausgerechnet Jesus Christus – so zumindest die Meinung des haitianischen Autokraten selbst, der sich für den Messias hielt. Dass Duvalier der spirituelle Spagat zwischen der berühmt-berüchtigten Voodoo-Religion und dem Katholizismus gelang, hatte viele Gründe. Einige davon sind Haitis spezieller sozialer Struktur geschuldet, an der Kolonialmächte wie Spanien, Frankreich und die Vereinigten Staaten einen großen Anteil hatten.

Nach Jahrhunderten der kolonialen Ausbeutung und Gewaltherrschaft durch Spanien und Frankreich, erlange Haiti auf dem westlichen Teil der Hispaniola-Insel 1804 seine Unabhängigkeit. Dreht man die Zeit um eben diese 215 Jahre zurück, landet man in Europa im napoleonischen Zeitalter. Im selben Jahr, in dem Haiti als erster mittelamerikanischer Staat (und als ehemaliges Sklaventerritorium) unabhängig wurde, krönte sich Napoleon Bonaparte zum französischen Kaiser. Parallelen zum 1957 demokratisch gewählten und später diktatorisch agierenden Duvalier sind verblüffend. Immerhin erklärte sich François Duvalier 1964 nach einem gescheiterten Staatsstreich und Angriff auf seine Familie ähnlich eigenmächtig zum Herrscher auf Lebenszeit. Verbunden mit dieser faktischen Kaiserkrönung à la Napoleon war die Umgestaltung der haitianischen Flagge in ursprünglich blau-rot auf schwarz-rot. Schwarz war die Farbe einer berühmten Voodoo-Gottheit, die Duvalier nach eigenem Verständnis personifizierte.

1957: Der Außenseiter siegt

Hier zog François Duvalier 1957 ein: Der Präsidentenpalast in der Hauptstadt Port-Au-Prince. Foto: Michelle Walz, CC-BY 2.0, via Flickr

Bevor Duvalier einen grausamen Staatsapparat mit klassischen autokratischen, repressiven und kleptokratischen Elementen installierte, eroberte er auf ganz demokratischen Wege das Präsidentenamt. Als Duvalier 1957 überraschend gegen politisch-etablierte Konkurrenten aus der mulattischen Oberschicht die Präsidentschaftswahlen für sich entscheiden konnte, ahnte wohl kaum jemand, welche Schreckensherrschaft auf Haiti zukommen würde. In den 1950er-Jahren bekleidete Duvalier zwar bereits den Posten des Gesundheitsministers, sein politisches Prestige war aber gering. Umso stärker ausgeprägt war das politische Geschick, das ihn letztendlich auf den Präsidentensitz brachte. Haiti gehört zu jenen Ländern, in denen Hautfarbe eine große Bedeutung hat. Da Duvalier, wie die Mehrheit der haitianischen Bevölkerung schwarz ist und diesen Umstand gegen seine Konkurrenz auszuspielen wusste, siegte er.

Die innenpolitischen Zustände verschlechterten sich zusehends kurz nach Amtsantritt. So trübte sich auch Jahr für Jahr sein human rights record erheblich ein, mit fatalen Konsequenzen für die haitianische Zivilbevölkerung. Mit der Einführung einer der gefürchtetsten Schergen der Region und der Instrumentalisierung des teils tief verankerten Voodoo-Glaubens schuf Papa Doc eine besondere Form der Diktatur. Politische und gesellschaftliche Gegner wurden verfolgt, verschleppt, gefoltert und ermordet. In seinem Wahn, so berichten politische Beobachter*Innen, habe Papa Doc sogar schwarze Straßenhunde hat abschießen lassen, da er diese für in Hunde transformierte Oppositionelle hielt. Die Repression reichte bis ins kleinste Dorf des Landes. Dafür sorgten Milizen, die einen mystischen, aber furchterregenden Beinamen erhielten. Nach seinem Tod 1971 wurde das System von seinem Sohn Jean-Claude („Baby Doc“) ähnlich grausam fortgeführt. Die Duvalier-Dynastie hatte Haiti also fast 30 Jahre fest im Würgegriff und verhinderte auch durch den anhaltenden, äußerst repressiven Selbsterhaltungstrieb und die Misswirtschaft die Befreiung des Landes aus der extremen Armut.

Papa Docs Todesschergen

Auf haitianischen Friedhöfen ruhen zehntausende Opfer des Duvalier-Regimes. Foto: Stefan Krasowski, CC BY 2.0, via flickr

Jede*r Haitianer*In wird mit Tonton Macoute, dem Tötungskommando des Präsidenten, etwas anfangen können. Wie üblich in Staaten ohne Justiz und Institutionen, ohne Strafverfolgung und Aufarbeitung, wurde nicht ein Mitglied oder Kommandeur der gefürchteten Tonton Macoute jemals zur Rechenschaft gezogen. Die Schergen hießen offiziell „Nationale Sicherheitsmilizen der Freiwilligen“, sie wurden aber zumeist unter dem mythischen Namen „Onkel Umhängesack“ zum fleischgewordenen Schrecken der haitianischen Bevölkerung. Dem Mythos nach ist Tonton Macoute eine Art Butzemann, der abends durch die Straße läuft und Kinder in seinen Sack wirft. Diese Kinder verschwinden dann für immer und werden von diesem „Onkel“ zum Frühstück verspeist.

Was in der Erzählung vor allem Kindern Angst und Schrecken einjagen sollte, war ab Ende der 1950er Jahre für weite Teile der Gesellschaft zu einer realen Bedrohung geworden. Die Milizen hatten von ganz oben Anweisungen und die Erlaubnis, willkürlich und an jedem Gesetze vorbei Frauen, Männer, Greise und Kinder zu misshandeln, verschleppen, vergewaltigen und ermorden. Schätzungen zufolge sind den Tontons mindestens 60.000 Menschen zum Opfer gefallen. Auch hier bediente sich Papa Doc seiner „spirituellen Ader“ und setzte eine volkstümliche Schauergeschichte in wahrhaftige Gewalt um. Diese war in den meisten Fällen dennoch mehr „logisches“ Mittel und Werkzeug zum Machterhalt und zur Unterdrückung als reiner Aberglaube. Die Tontons hatten schlussendlich ganz banale Funktionen: Abschreckung, Bestrafung und soziale Kontrolle.

Selbst seiner eigenen Leibgarde traute Duvalier kaum über den Weg, Kommandeure des Militärs setzte er kurzerhand ab, das gesamte Waffenarsenal der haitianischen Armee lagerte er auch Sicherheitsgründen in seinem prächtigen Präsidentenpalast. Im berüchtigten Staatsgefängnis Fort Dimanche ließ Duvalier vermeintliche politische Gegner aus allen Schichten einsperren, foltern und umbringen. Immer wieder, so wurde berichtet, wohnte Papa Doc den Gewaltausbrüchen und Morden selbst bei. Effektive Gegenwehr konnte kaum jemand leisten. Eine intakte Zivilgesellschaft gab in Haiti kaum. Gewerkschaften, Organisationen, Parteien, selbst die Kirche konnte auf keine soliden Strukturen aufbauen, um dem selbsternannten Übervater die Stirn zu bieten. Durch ein Konkordat mit dem Vatikan in Rom behielt Duvalier seine Kompetenzen als faktisch oberster Entscheidungsträger, sodass Priester und Bischöfe, Institutionen und Kirchen nur ihm selbst unterstellt waren. Das konnte auch der formale Ausschluss aus der katholischen Kirche in Haiti nicht ändern.

Anti-kommunistisches Bollwerk

Nichts ohne die USA. Foto: DVIDSHUB, CC BY 2.0, via flickr

Nach Eröffnung des Panama-Kanales im Jahr 1914 war die Karibik für Washington auch geostrategisch immer wichtiger. 1915 versank Haiti politisch mal wieder im Chaos, sodass US-Präsident Woodrow Wilson die Insel für zwanzig Jahre besetzt hielt. Wie in den Fällen der rechtsgerichteten Diktaturen von Havanna und Santo Domingo, in denen die USA entweder direkt intervenierten oder ihnen zugewandte Unterdrücker unterstützte, gehörte auch Port-Au-Prince zum wichtigen Einflussgebiet Washingtons. Der Einfluss hielt auch Jahrzehnte noch an, gerade als sich die repressiven Systeme der Duvaliers in Port-Au-Prince festgesetzt und so zu Verbündeten gegen die Sowjetunion gewandelt hatten. Für die Vereinigten Staaten war Haitis Alleinherrscher François Duvalier dennoch durchaus eine ambivalente Persönlichkeit – trotz seiner strategischen Bedeutung als Nachbar in einer konflikten Region.

Während US-Präsident John F. Kennedy Duvaliers Praktiken teils missfielen und er daher die Entwicklungshilfe einstellte, erkannten seine Nachfolger den Nutzen eines Diktators in einer Zeit, in der geostrategische und ideologische Interessen über jeder Moral stand. Zeitgleich formierte sich der imperiale Kampf der Systeme und Duvaliers Haiti war für die kapitalistisch-orientierten USA ein Erfüllungsgehilfe in der Region. In unmittelbarer Nachbarschaft zu Haiti befindet sich mit Kuba nämlich der große Klassenfeind. So konnte die haitianische Diktatur gut als anti-kommunistisches Bollwerk gegen das von den Castros und Che geführte Kuba eingesetzt werden. Rechtsorientierte Militärregimes in Lateinamerika während des Kalten Krieges Teil der imperialistischen Strategie der USA. Alle standen unter der schützenden Hand der Vereinigten Staaten, solange sie dem sozialistischen Kuba feindlich gegenüberstanden.

Papa Doc – die Voodoo-Gottheit

Der Baron Samedi, der haitianische Gott der Toten. Foto: Nicole Lasher Sheloya Mystical, CC BY 2.0, via flickr

Mit seinem unterdrückerischen und selbstherrlichen Auftreten fiel Haitis Machthaber angesichts vieler ähnlich gelagerter Fälle auf der Welt erst einmal nicht aus der Reihe. Viele Autokraten bedienen sich einer Ideologie, um ihren Machtanspruch zu legitimieren und diese über die Zeit hinweg zu konsolidieren. Für Papa Doc war dies zu einem Teil der Voodoo-Glaube, der insbesondere bei der ländlichen Bevölkerung rituell noch immer präsent ist. Schon bei seiner Wahl 1957 nutzte Papa Doc die Macht der Voodoo-Priester auf der Karibikinsel. Die gerade im ruralen Raum stark vernetzten Voodoo-Priester warben für ihren Vertreter, der ihre Sprache sprach und sich geschickt von den recht profanen Vertretern aus der politischen Elite abgrenzte. Der Romanist Patrick Eser beschrieb in seinem Werk „Machthaber der Moderne. Zur Repräsentation politischer Herrschaft und Körperlichkeit“ die Gründe für die zunehmende Voodooisierung der haitianischen Politik durch Duvalier:

„Die Inkorporation der Voodoo-Welt in das Regime diente nicht nur dazu, den ideologischen Staatsapparat auszuweiten, sondern ebenso dazu, die Repressions- und Kontrollfunktionen des Staates bis tief in die Gesellschaft hinein zu verlängern“


(Eser 2015: 278).

Der verlängerte Arm des Staates bis in alle Ecken der Gesellschaft war vor allem die Tonton Macoute-Miliz. Gewalt war aber nicht das einzige Mittel, auf das der Vater der Nation während seiner knapp 15-jährigen Herrschaft zurückgriff. In seinem Cäsarenwahn bezeichnete sich Duvalier als „Flagge Haitis“, also als personalisiertes nationales Symbol. Auch deshalb veranlasste er die Änderung der Nationalfarben, die die Farbe schwarz und damit die Symbolik des Todesgotts „Baron Samstag“ mit in das nationale Selbstverständnis integrierte. Der Baron Samstag, im Original Baron Samedi, steht für eine populären Gottheit aus dem Voodoo, die den Tod symbolisiert, auf den Friedhöfen lebt und die Toten überwacht. Papa Doc kleidete sich öffentlich als Baron Samstag, trug schwarze Anzüge, einen Zylinderhut und eine schwarze Sonnenbrille. Zudem nahm er die laut Erzählung typische nasale Stimme des Barons an und verstärkte damit die furchteinflößende Ausstrahlkraft des Totengeists. Gerade für besonders fromme Voodoo-Gläubige erschien die Personifizierung des Totengeists durch Papa Doc so plausibel, dass die religiöse Verehrung des Präsidenten flächendeckend funktionierte.

Duvaliers langer Schatten

Mit seiner spezifischen, landestypischen Ausprägung mimte das System Duvalier eine besondere Stellung unter den autokratischen Regimen ein. Das auf seinen Präsidenten und selbst ernannte Gottheit zugeschnittene Ein-Parteien-System ohne Gewaltenteilung, Zivilgesellschaft und jegliche individuelle Freiheiten war durchaus mit anderen repressiv-agierenden Ländern vergleichbar. Ein besonderes Antlitz bekam Haiti aber durch die vermeintlich religiöse Verknüpfung, die Duvalier als Baron Samstag und durch seine Knecht-Ruprecht-Miliz schuf. Bei unzähligen Haitianer*Innen hinterließ die Duvalier-Dynastie bis heute tiefe Wunden – kein Wunder, gab es nie eine juristische Aufarbeitung der Verbrechen. Das auf internationale Hilfsgelder angewiesene Regime heute hat sich zwar deutlich geöffnet und zumindest eine Meinungsfreiheit und einen dezenten politischen Wettbewerb ermöglicht.

Der Großteil der Bevölkerung leidet aber weiterhin an den Spätfolgen des Kolonialismus und der kleptokratischen Elite des Landes. Bis heute verfügt kein Staat der westlichen Hemisphäre über eine solch desaströse staatliche und soziale Infrastruktur. Kaum ein Land ist Korruption, Krankheiten, Nahrungsmittelimporten und Naturkatastrophen so hilflos ausgeliefert wie das Land mitten in der sonst so paradiesischen Karibik. Die Publizistin Marie Marguerite Clérié hält den Geist Duvaliers bis heute für präsent: „„Duvalier ist noch unter uns! Wir leben im Duvalierismus ohne Duvalier. Die gleiche Unberechenbarkeit, die gleiche Angst, die gleiche Arroganz der Macht.“ Mit der fehlenden Aufarbeitung der Duvalier-Diktatur steht Haiti vor der unlösbaren Aufgabe, die Gesellschaft und ihre politische Klasse zu versöhnen. Politische Entscheidungsträger von heute waren zum Teil im Duvalierismus von Vater und Sohn Unterstützer, sodass schon hier der Wille zu einer wirklichen Auseinandersetzung mit der eigenen blutigen Geschichte nie vorhanden sein wird. Der lange Schatten der Duvaliers wirft nach, auch 62 Jahre danach.

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