Yaris Varoufakis: die schillernde Figur der europäischen Linken in Berlin. Foto: Valerij Ledenev, licensed under CC BY-SA 2.0, Yanis Varoufakis / Янис Варуфакис, via flickr.com

„AfD-Wählern mit Liebe entgegnen“

Nach der Demo gegen TTIP und CETA in Berlin am Samstag, dem 17. September, trafen sich im Astra Kulturhaus Yanis Varoufakis, ehemaliger griechischer Finanzminister und DiEM25-Mitbegründer, die Linken-Vorsitzende Katja Kipping und der Berliner Linken-Chef Klaus Lederer zu einem Gespräch zur Zukunft Europas. Die als Podiumsdiskussion getarnte, recht unterhaltsame Werbeveranstaltung für DiEM25 einerseits und Wahlkampfveranstaltung für Lederer andererseits handelte letztendlich von linken Projektionsflächen, Internationalismus und (natürlich) dem Umgang mit der AfD und vielen ihr zugewandten enttäuschten Wähler*Innen.

Varoufakis war sowieso später am Abend auf dem Berliner Literaturfestival zur Vorstellung seines neue Buches “Das Euro-Paradox”. Lederer war eh noch im Wahlkampfmodus. Und Kipping und Varoufakis mögen sich sowieso. Warum also nicht noch schnell ein Stündchen Podiumsdiskussion unter Freunden, bei dem jeder vom Name des anderen etwas profitieren kann und man sich gemeinsam für die jeweils eigenen Kämpfe den Rücken stärkt? Zuvor fand in der Hauptstadt die von vielen Organisationen unterstützte Großdemonstration gegen die von der Bundesregierung vorangetriebenen Freihandelsabkommen wie TTIP und CETA statt.

Berlin ist mobilisiert. Foto: BUNDjugend Berlin, licensed under CC-BY 2.0, Stop CETA & TTIP Demo 2016 in Berlin, via flickr.com

Gleich zu Beginn wurde klar gemacht, dass die offene Fragerunde dem straffen Zeitplan von Varoufakis zum Opfer fällt. Anstatt von Publikumsfragen am Ende, gab es eine Eröffnungsrede, mit der üblichen souveränen und routinierten Rhetorik eines Varoufakis, der schon auf einigen Rednerbühnen in den letzten Jahren gestanden hat. Wir würden ein postmodernes 1930 erleben, Wirtschaftskrise, niedrigste Zinsraten, Aufstieg von Nationalismus und rechten Parteien – was für die meisten nicht viel Neues dargestellt haben wird. Ein einsamer “Die Linke”-Heliumballon segelt sanft Richtung Decke und bleibt oben hängen, wohl noch von der Demo. Der Saal, inzwischen gut besetzt, das Publikum ist gemischt bis mittelalt. Die älteren Frauen und Herren im Publikum tragen Kopfhörer für die Simultanübersetzung.

Nach anfänglichem Warmreden wird die Frage aufgeworfen, wie es dazu komme, dass Linke sich so regelmäßig an Projektionsflächen für ihre Hoffnungen klammerten, die dann entsprechend schnell wieder fallen gelassen und ersetzt würden? Die Liste sei lang: von Syriza und Varoufakis, über Podemos, Jeremy Corbyn, Bernie Sanders… Lederer präzisiert den Begriff der Projektionsflächen: “Entschuldigen Sie mich, aber als schwuler Mann kann ich das ja schon mal sagen: linke Wichsvorlagen.” Trotz des verständlichen Gelächters im Saal, führt Lederer weiter aus, dass dieses Festhalten am verlorenen Subjekt davon ablenke, sich mit den konkreten Problemen vor der eigenen Tür zu beschäftigen: zu niedrige Renten oder steigenden Mieten. Man müsse den Menschen das Gefühl geben, so Lederer weiter, dass sie aktiv Politik mitgestalten können und nicht nur Schachfiguren seien. “Normale” Fragen müssen Thema im linken Diskurs sein – ein Bürger interessiere sich nicht für Internationalismus. Moralische Appelle seien bei AfD-Wählern verlorene Worte, das komme nicht an.

Daraufhin erzählt Lederer von Didier Eribons “Rückkehr nach Reims”. Darin werde autobiographisch beschrieben, wie Eribon als schwuler Autor und Philosoph in seine Heimatstadt im Nordosten Frankreichs zurückkehrt. Seine Familie hätte, als Teil des Arbeitermilieus und starker Identifikation mit diesem seit jeher die Parti communiste français gewählt. Nun stellt er fest, dass diese zum Front National gewechselt sei. Diese Entwicklungen und Vorgänge in den Menschen müsse man verstehen und ernst nehmen, so Lederer. Wie kommt es, dass Arbeiter die Linke nicht mehr als ihre Interessenvertretung wahrnimmt? Kipping schloss sich diesen Gedanken an und witzelte, dass man anscheinend die gleiche Sommerlektüre gehabt habe. (Anmerkung: Das Buch ist gerade als deutsche Übersetzung herausgekommen, in Frankreich schon 2006 erschienen. Auch Bernd Riexinger erwähnt Eribon in seinem Beitrag für die Wochenzeitung Kontext von letzter Woche. Bei Suhrkamp gibt es derzeit Lieferengpässe).

Wie also den “besorgten Bürgern” dieser für das linke Projekt verloren gegangen Unterschicht begegnen? Varoufakis schlägt zwei verbale Waffen vor. Die erste Waffe für den Umgang mit dem klassischen konservativen Bürger, einem CDU’ler in Deutschland beispielsweise. Anstatt mit “abschreckendem Marxistensprech” solle man folgende Frage stellen: Wie kann es sein, dass Deutschland die seit dem zweiten Weltkrieg höchsten Spareinlagen einerseits und die niedrigste Investitionsquote andererseits habe? Wie kann das gut sein, selbst in den Augen von Konservativen? Für den Umgang mit AfD-Wählern gibt Varoufakis den Rat, ihnen nicht mit Hass und Ablehnung zu begegnen. Die beste Waffe, obwohl er Atheist sei, wäre ihnen mit christlicher Liebe und Fürsorge zu begegnen. Es wirkt wie ein Aufruf, einer Spaltung der deutschen Gesellschaft entgegenzuwirken.

Varoufakis eigene Waffe, die DiEM25-Bewegung, hat seit ihrer offiziellen Gründung im Februar einen erstaunlichen Weg zurückgelegt. In einem ersten Schritt wurde eine Onlinepetition gestartet, die zu mehr Transparenz in den Entscheidungsprozessen der EU aufruft. Bisher haben über 77.000 Menschen unterschrieben. In zahlreichen Städten Europas haben sich DSCs (DiEM25 Spontaneous Collectives) gegründet und es wurde unter den Mitgliedern über eine interne Organisationsstruktur abgestimmt. Ebenfalls abgestimmt wurde über die Besetzung des 12-köpfigen Koordinierungskollektivs, in dem neben Varoufakis auch der Philosoph Srecko Horvat, der Musiker Brian Eno, der Autor Noam Chomsky und weitere sitzen. Für den beratenden Ausschuss der Organisation wurde, unter vielen anderen, zu Slavoj Žižek (Philosoph), Julian Assange (Begründer von Wikileaks), Joseph Stiglitz (Wirtschaftswissenschaftler) und eben auch Katja Kipping zugestimmt.

Geschlossen wird die Gesprächsrunde mit der einhelligen Erkenntnis der Dreien, dass es Parteien nicht mehr alleine schaffen würden, gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen. Es bräuchte eine neue gesellschaftliche Dynamik, so Kipping, ein “anderes Projekt als rot-rot-grün, eine Linksregierung, die das Ruder herumreißt und nicht nur Sigmar Gabriel mitwählt”. Das findet Applaus im Publikum. Lederer fügt hinzu, dass eine engagierte Bürgerbewegung brauche, voller Widerstand und Dissidenz. Man solle Parteien, Regierungen und Ministerien daran erinnern, welche Versprechen gemacht wurden – auch die eigene Partei. Damit ist der Bogen zu DiEM25 geschlagen, wenn auch nicht wörtlich genannt.

Dies ist ein Gastbeitrag von Till Ehrmann.

Till Ehrmann ist Master-Student in „European Studies“ an der Universität Aalborg in Dänemark. Er arbeitet derzeit bei der politischen Organisation und Bürgerbewegung „WeMove.eu

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