Jo (Stef Aerts), Frank (Tom Vermeir) und Davy Coppens (Boris van Severen), Foto: Pandora Film Presseofot

„Café Belgica“ – ein filmischer Rausch

Café Belgica“ vermischt alle Zutaten einer wilden Feier: Sympathische Menschen, schnelles Tempo, großartige Musik. Doch wenn der Projektor erlischt, bleibt ein schales Gefühl. 

Frank (Tom Vermeir) ist sympathisch, charismatisch und völlig verantwortungslos. Auf die bevorstehende Geburt seines zweiten Kindes reagiert er mit völliger Panik. Er ist auf der Suche nach etwas „mehr Rock and Roll“: einer Beschäftigung, die ihn möglichst weit weg von zuhause und der Familie bringt. Zu seinem Glück – und zum Unglück seiner langmütigen Frau Isabelle (Charlotte Vandermeersch) – ist sein Bruder Jo (Stef Aerts) Besitzer der Spelunke Café Belgica. Und Jo braucht Hilfe.

Der Trip beginnt

Zusammen mit Franks Musikerfreunden und unter dem Einfluss von nicht zu wenig Kokain wird aus dem alten Café Belgica mit seinen maroden Toiletten und der depressiven Atmosphäre ein vibrierender Veranstaltungsort, eine Arche Noah für die Außenseiter der Gesellschaft. Betriebsversammlungen der multikulturellen Belegschaft verlaufen aufrührerisch und demokratisch, in der Kneipe herrscht Feierstimmung mit außergewöhnlichem Musikprogramm.

Das stärkste Element im Film ist die Musik. Zu verdanken hat dies der Regisseur Felix Van Groeningen dem Duo Soulwax, das wie er selbst in der flämischen Stadt Gent geboren ist und lebt. Im Film spielen 15 Gruppen 15 verschiedene Musikstile – alle fiktiv, alle von Soulwax erfunden und alle hervorragend. Wegen dieser Musik glaubt man tatsächlich, dass Frank und Jo nicht nur irgendeine Bar besitzen, sondern dass das Ganze tatsächlich all die Arbeit und Mühe wert ist.

Ernüchterung

Dank des großartigen Soundtracks und des Tempos bemerkt man die Schwächen des Films beim Zuschauen kaum, vor allem nicht in der atemberaubenden ersten Stunde. Doch sobald man darüber nachdenkt, entgeht einem nicht, wie mager der Plot ist: nichts, was wir nicht schon in tausend anderen Filmen gesehen haben – zum Beispiel erst vor Kurzem in Thomas Vinterbergs „Die Kommune“: Gutmeinende Menschen wollen gerecht leben, erkennen, wie schwierig es ist, miteinander auszukommen, und die Gemeinschaft bricht auseinander.

Es gibt aber einer großen Unterschied zwischen Vinterbergs Kommune und Van Groeningens Café. Im Café sehen wir immerhin das Potenzial, die Belastungen des Alltagslebens temporär abzuwerfen – und das Scheitern ist ein wirklicher Verlust.

Dieser erfolglose Versuch, unsere Träume zu verwirklichen, ist ein Produkt unserer Gesellschaft. In Interviews bezeichnete Van Groeningen das Café als symbolisches Abbild von Belgien: „Für mich erzählt diese Geschichte auch etwas über den gesellschaftlichen Wandel in den letzten zwanzig Jahren. Alles ist strenger geworden. Vielleicht sind einige Ideale verloren gegangen. Die Bar ist ein gesellschaftlicher Mikrokosmos.“

An der Oberfläche gekratzt

In diesem Sinne berührt der Film einige soziale Fragen. Nehmen wir Mohammed, der Türsteher vermittelt. Zu Anfang wollen die Brüder in ihrem egalitären Café selbst für Sicherheit sorgen und schließen den Vertrag mit Mohammed nur widerwillig ab. Dieser hat offensichtlich selbst ausländische Wurzeln, aber es ist klar, dass ein „effektiver“ Türsteher dafür sorgt, dass Ausländer, und besonders Marokkaner, draußen bleiben. Es wäre interessant zu sehen, wie die sympathischen Brüder mit solchen Problemen umgehen, aber der Film thematisiert solche tiefgehenden Themen nur oberflächlich.

Geschlechterfragen werden ähnlich verhandelt. Interessante Nebenhandlungen – etwa über Schwangerschaftsabbruch oder Untreue – werden erst eröffnet und dann vernachlässigt. Frank verhält sich unmöglich gegenüber Isabelle und Jo agiert als blasser Schatten seines älteren Bruders. Als seine Freundin Marieke (Hélène de Vos) seine Unterstützung braucht, ist er unfähig, mitzufühlen. Was Isabelle und Marieke denken könnten, müssen wir uns selbst zusammenreimen.

Dieses Desinteresse gegenüber seinen weiblichen Figuren enttäuscht bei Van Groeningen umso mehr als sein letzter Film, der oscarnominierte „Broken Circle“, eine mutige Frau in den Mittelpunkt stellte. In „Café Belgica“ sehen wir die Welt nur durch die Augen der beiden Brüder, die wenig Bedenkzeit für solche Themen aufbringen.

Dennoch ein Erlebnis

Café Belgica“ ist wie einer der Drogenräusche, die der Film – vielleicht etwas zu häufig – zeigt: eine emotionsgeladene Achterbahnfahrt, aber am Ende hat man das Gefühl, dass irgendetwas fehlt. Zu viele Geschichten werden nicht zu Ende erzählt, zu viele Charaktere bleiben zu lange im Hintergrund. Statt noch einer Szene voller Überschwänglichkeit wären vielleicht manchmal ein paar Nuancen wünschenswert gewesen.

Trotz allem sieht „Café Belgica“ gut aus und hört sich grandios an. Musikalisch und Visuell kann er es mit den besten aktuellen Filmen aufnehmen. Nach dem Rausch kann mit dem Kater auch die Enttäuschung kommen. Aber was für ein Trip, so lange er anhält.

Der Artikel von Phil Butland erschien zunächst auf marx21.de

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