Zero Covid macht uns nicht handlungsfähig

Der Aufruf „Zero Covid“ wird unter Linken breit diskutiert. Viele kluge Genossen haben ihn unterschrieben. Viele andere, mindestens genauso kluge Genossen haben es nicht getan. Die Pandemie stellt die gesellschaftliche Linke vor strategische Herausforderungen. Das Bedürfnis nach Orientierung wächst. Zero Covid ist Ausdruck dieses Prozesses.

Der Aufruf enthält einige richtige Forderungen, den Ausbau der Gesundheitsinfrastruktur etwa oder die COVID-Soli-Abgabe auf hohe Vermögen und Einkommen. Dabei handelt es sich um eine richtige Beschreibung dessen, was politisch getan werden müsste. Aber die Orientierung auf einen unbestimmten Shutdown als strategische Ausrichtung erweist sich als problematisch: Ein Shutdown konsolidiert bestehende Spaltungen in der Klasse der abhängig Beschäftigten und verhindert gemeinsames Klassenhandeln. Er wirkt in der Konsequenz unsolidarisch, er verstärkt die autoritären Tendenzen des Staates und er macht die Linke nicht handlungsfähig.

Der Shutdown verhindert gemeinsames Klassenhandeln

Die Pandemie trifft als ein äußerer Schock auf unsere von neoliberaler Politik erschöpfte Gesellschaft. Privatisierung, Deregulierung und Flexibilisierung haben die Belegschaften prekarisiert und gespalten. Von einem totalen Shutdown wären deshalb auch nicht alle Beschäftigten gleichermaßen betroffen: Die einen könnten weiterhin unter vollem Lohnbezug sicher im Homeoffice sitzen. Andere täten dies in Kurzarbeit mit bis zu 40 Prozent Einnahmeverlusten. Wieder andere, die nämlich, die längst ihren Job verloren haben, blieben gänzlich ohne Beschäftigungsperspektive zuhause. Der übergroße Teil der abhängig Beschäftigten aber, nämlich 53 Prozent, arbeitet in Krankenhäusern, dem ÖPNV, Supermärkten, Gesundheitsämtern, öffentlichen Verwaltungen, der Energieversorgung, der Lebensmittelindustrie, als Feuerwehrmänner oder Polizisten. Sie wären auch in einem „vollständigen Shutdown“ einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt, denn sie tragen mit ihrer Arbeit dazu bei, dass die Gesellschaft nicht restlos zusammenfällt.

Um sie zu schützen, braucht es verbindliche Arbeitsschutzregelungen: Mindestabstände, Masken, Desinfektionsmittel, reduzierte Arbeitszeiten. Und noch wichtiger: Es braucht Kontrollen. Denn aus der Vergangenheit wissen wir, dass viele Arbeitgeber nach Möglichkeiten suchen, den Arbeitsschutz zu umgehen. Die Arbeitsschutzkontrollbehörde aber kontrolliert einen Betrieb nur alle 25 Jahre. Eine personelle Aufstockung dieser Behörde wäre ebenso notwendig wie die personelle Aufstockung der Krankenhäuser, Gesundheitsämter, Labore, Schulen und öffentlichen Verwaltungen. Eine Forderung, die ins Leere läuft, wenn die Gesellschaft in den unbestimmten Lockdown geschickt werden soll. In Wuhan sind die Infektionszahlen der Pflegekräfte und die Sterberaten der Patienten zurückgegangen, als die Arbeitszeiten in den Krankenhäusern auf sechs Stunden halbiert wurde. Auch aus anderen Bereichen ist bekannt, dass mit sinkender Arbeitszeit die Produktivität steigt, weil die Menschen konzentrierter arbeiten. Wäre die Forderung nach einer Verkürzung der Arbeitszeit für alle nicht solidarischer als das Homeoffice für wenige?

Der Shutdown wirkt unsolidarisch

Ein Shutdown wird nicht allein dadurch solidarisch, dass man ihn solidarisch nennt. Vielmehr hilft er denjenigen, die es leichter haben, und er erschwert die Situation derer, die es schon jetzt schwerer haben. Pädagogen sind sich einig, dass die Schulschließungen vor allem für diejenigen Kinder fatale Folgen haben werden, die auch jetzt schon abgehängt sind. Ihnen bricht im Homeoffice die Tagesstruktur weg. Sie spielen bis spät in die Nacht Computerspiele, ernähren sich schlecht, bewegen sich zu wenig. Schulisch drohen viele, den Anschluss zu verlieren. Experten gehen davon aus, dass in ein, zwei Jahren eine relevante Zahl der Drittklässler weder richtig lesen können noch die Buchstaben oder Zahlen richtig kennen wird.

Die Schulschließungen betreffen alle Kinder, aber nicht für jeden entwickeln sich daraus derart gravierende Nachteile. Wer bisher drohte, abgehängt zu werden, wird es nun definitiv bleiben. Der Trend, dass Bildung vom Geldbeutel der Eltern abhängt, wird sich beschleunigt fortsetzen. Damit löst sich auch die sozialromantische Vorstellung in Wohlgefallen auf, nach der Homeoffice und Homeschooling den Familien mehr gemeinsame Zeit bringen würde. Diese grundfalsche Annahme vernachlässigt, dass es nicht überall zuhause schön ist. Christian Baron beschrieb erst kürzlich im Freitag, wie die Wohnungen in Kalkofen, einem abgehängten Stadtteil in Kaiserslautern, aussehen: Einfach verglast, ohne Dusche oder Badewanne, ohne Warmwasseranschluss, ohne Zentralheizung. Und immer häufiger eine abgestellte Stromversorgung wegen nicht bezahlter Rechnungen. Mit der Forderung nach einem unbestimmten Shutdown entfremdet sich die Linke von den vulnerabelsten Teilen der Klasse.

Der Shutdown verstärkt die autoritären Tendenzen des Staates

Das Krisenmanagement in der Pandemie war geprägt durch eine Reihe autoritärer Maßnahmen. Sie umfassten die Behinderung der Bewegungsfreiheit ebenso wie die Einschränkung des Versammlungsgesetzes, den Einsatz der Bundeswehr im Landesinneren ebenso wie die Ausweitung der Entscheidungsbefugnisse für die Exekutive. Die Verstöße gegen diese Einschränkungen wurden teils mit hohen Geldstrafen geahndet.

Eine Ausweitung des Lockdowns müsste die Ausweitung der Befugnisse für Polizei- und Sicherheitsdienste nach sich ziehen. Forderungen wie die zwangsweise Einweisung sogenannter Quarantänebrecher in einen geschlossenen Krankenhausbereich, wie sie der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU) kürzlich ins Gespräch gebracht hatte, würden Rückenwind bekommen. Ebenso die Diskussion über die permanente Einschränkung von Grundrechten für Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen oder können. Die ausnahmslos virologische Sichtweise auf die Pandemie, auf deren Grundlage sich der öffentliche Diskurs unter dem Primat des Gesundheitsschutzes autoritär entwickelt hat, würde sich weiter verfestigen. Aufhalten ließe sich dieser Prozess vermutlich nur, wenn auch der Blick der Sozialmediziner, Psychologen, Katstrophenforscher oder Demokratieexperten auf die Pandemie berücksichtigt würde.

Der totale Shutdown macht uns nicht handlungsfähig

Die Pandemie wirkt mit der Wucht eines Generalstreiks, doch einen Verhandlungstisch gibt es nicht. Zusätzlich erschweren uns die Einschränkungen der Grundrechte die kollektive Durchsetzung unserer Interessen. Hinzu kommt: Die Pandemie als äußerer Stoß auf die gesamte Gesellschaft verwischt nicht zuletzt durch allgemeine, halbherzige und inflationär gebrauchte Solidaritätsappelle die gesellschaftlichen Trennlinien zwischen Kapital und Arbeit. „Unsere Arbeit“, sagte der Gewerkschafter Willi Bleicher einmal, „war nie einfach – aber sie war immer erfolgreich, wenn wir solidarisch zusammenstanden.“ Handlungsfähig wird die Linke nicht, wenn sie den Status quo der Klassenspaltung aufrechterhält, sondern wenn sie den Blick auf den unversöhnlichen Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit lenkt und dadurch gemeinsames Klassenhandeln ermöglicht. Der Solidaritätsbegriff der Herrschenden kaschiert, dass die Gesellschaft auch weiterhin unsozial und verteilungsungerecht bleiben soll. Geändert werden soll nichts.

Dieser Entwicklung muss die Linke Klassensolidarität entgegensetzen. Diese entsteht nicht im Homeoffice, sondern am Arbeitsplatz – hier machen die abhängig Beschäftigten kollektive Erfahrungen, hier tauschen sie sich gemeinsam dazu aus, hier besteht die Möglichkeit zur kollektiven Organisierung und hier reift der Gedanke zur kollektiven Gegenwehr. Die Forderung nach einem unbestimmten Shutdown schwächt die Klasse, weil sie Spaltungen verfestigt und gemeinsame kollektive Erfahrungen verhindert. Gleichzeitig schneidet sich die Linke von den klassenbildenden Prozessen ab. Die überragenden Mobilisierungen in der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes letzten Herbst haben gezeigt, dass kollektive Gegenwehr auch unter den Bedingungen der Pandemie stattfinden kann. Und sie waren notwendig, weil nur so verhindert werden konnte, dass sich die Arbeitgeber mit einer Minusrunde durchsetzen. Nicht die Isolation des Shutdowns, sondern pandemiegerechte, aber kollektive Gegenwehr macht die Klasse der abhängig Beschäftigten handlungsfähig. Das Aufzeigen dieser Durchsetzungsperspektive ist und bleibt auch in der Pandemie die Aufgabe der Linken.

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8 Antworten

  1. Die Autorin hat offenbar den Aufruf nicht gelesen und bastelt Strohmänner.
    #ZeroCovid fordert, ganz wie die Autorin, bspw den Ausbau des Gesundheitssektors.
    Gleichermaßen fordert #ZeroCovid bspw Vermögensabgaben auf große Vermögen, um den shutdown zu finanzieren und Lohnausfälle zu begleichen.
    Auch das wird gar nicht erwähnt.
    Dass die Forderung, die Betriebe zu schließen auf Kosten des Kapitals eine antikapitalistische Forderung ist, dass täglich Kollegen auf zerocovid sich organisieren und in Erfahrungsberichten ihre Erfahrungen teilen, so Klassenbewusstsein erzeugen, dass es einen Gewerkschatsaufruf gibt von aktiven Gewerkschaften getragen – all das verschweigt die Autorin. Denn es passt nicht ins Bild, das sie gerne hätte, wonach #ZeroCovid nicht von der Klasse getragen würde.
    100.000 Unterschriften, aus dem Boden schießende Ortsgruppen, Gewerkschatsaufrufe und Schulstreiks beweisen eines: #ZeroCovid ist eine von denMassen getragene Organisation. Vlt. ist es das, was die Autorin hier stört?

  2. Mir ist unverständlich, wieso sich die Unterstützer dieses Aufrufs nicht einmal in Frankreich informieren. Dort gab es einen solchen strengen Lockdown über zwei Monate von Mitte März 2020 bis Mai, ich habe ihn selbst mitgemacht. Sogar die Banken und die öffentliche Verwaltung waren geschlossen, die Polizei hat flächendeckend kontrolliert. Die Bevölkerung hat sich daran gehalten, weil wir geglaubt haben, dass es funktioniert, und der Virus wãre hinterher verschwunden. Forderungen nach Verstaatlichungen wurden und werden von der französischen Linken massiver vertreten als hier.
    Was war das Ergebnis ? Zwei Monate nach der vollständigen Aufhebung Anfang Juni setzten die Infektionen wieder ein und halten trotz eines zweiten strengen Lockdowns im Herbst immer noch an !
    Das Fazit kann sich jeder selber denken.

  3. Ich möchte hier nur einen Punkt anmerken, der die linke Handlungsfähigkeit betrifft, und die für mich #ZeroCovid endlich richtig löst: Bisher gehen die Gerichte (bis auf wenige Ausnahmen) davon aus, dass die Gesundheit bei der Abwägung im Streitfall vorgeht. Wer z.B. nach § 47 Abs.6 VwGO einstweiligen Rechtsschutz gegen eine Maßnahme begehrt, wird fast immer scheitern, weil im Zweifelsfall der Gesundheitsschutz pauschal für das Gericht überwiegt. Der Witz ist nur, dass hier – wie im gesamten IfSG – einfach vorausgesetzt wird, dass die exekutive Anordnung tatsächlich vorrangig dem Gesundheitsschutz dient. Das genau stellt #ZeroCovid in Frage und widerspricht somit dieser angeblich gefestigten Sichtweise. Gerade im Betrieb und somit sowohl für Gewerkschaft und Betriebsrat eröffnet sich so ebenfalls ein kämpferisches Handlungsfeld. Denn was angeblich der AG ausreichend berücksichtigt, weil vom Gesetz- und Verordnungsgeber ja nicht mehr verlangt wird, muss nicht den Anforderungen an Gesundheitsschutz entsprechen. Klar, ist es für Linke nichts Neues, dass Profit vor Gesundheit geht, aber bisher schwächelten hier manche Linke, weil für Gegenwehr das entscheidende Argument fehlte, dass hier nicht der Gesundheitsschutz beeinträchtigt, sondern gerade Ursache für Gegenwehr ist. #ZeroCovid steht somit für eine Erweiterung der Handlungsfähigkeit auch bei staatlichen Totalitärenmaßnahmen, weil die weniger die Gesundheit als vielmehr das auf Profitstabilität bedachte System sichern sollen.

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