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Tschüß Netanjahu, nieder mit Bennett

Nach aktuellen Berichten scheint es sehr wahrscheinlich, dass Naftali Bennett der nächste Premierminister Israels sein wird. Die Regierungsführung soll sich der wirtschaftsliberale Siedlerpolitiker Naftali Bennett mit dem Zentristen Yair Lapid teilen – im Rahmen einer kunterbunten Koalition, die von rechtsradikal bis liberal-zionistisch durchgeht. Bennett soll zunächst für ein Teil der Legislaturperiode Premierminister sein, nach ihm dann Lapid.

Für jeden Mensch, dem Israelis und Palästinenser nicht komplett egal sind, ist die sich abzeichnende Niederlage Netanjahus an sich eine gute Nachricht: Seine unglaublich umfangreiche Korruption, seine menschenverachtende Politik gegenüber beiden Völkern und nicht zuletzt seine außerordentliche Fähigkeit, den rechten Block hinter sich zu vereinen, wurden insgesamt für die Mehrheit der Menschen zwischen Jordan und Mittelmeer im letzten Jahrzehnt zum tragischen Verhängnis.

Nun stellt sich aber für das Anti-Natanjahu-Lager die Frage, um welchen Preis man ihn loswerden möchte. Für die zionistischen Parteien des linken Flügels, Labour und Meretz, scheint diese Frage allerdings schon beantwortet: Sie wollen Teil der Bennett-Lapid-Regierung sein, selbst wenn sie darin verhältnismäßig wenig Macht erhalten.

Kein Koalitionszwang

Unklar bleibt, wie die Politik einer solchen Koalition in der Tat aussehen wird. In der liberalen israelischen Tageszeitung Ha’aretz wird berichtet, dass der Koalitionsvertrag sehr „dünn“ sein und keine Einigung in kontroversen Fragen von Religion und Staat, grundsätzliche Veränderung des Justizsystems und vor allem das Schicksal der Palästinenser und der besetzten Gebiete beinhalten soll. Ein gegenseitiges Vetorecht von Lapid und Bennett sowie das starke Interesse aller Parteien, diese Regierung nicht scheitern zu lassen, sollen verhindern, dass irgendein Glied dieses konfusen Konstrukts etwas macht, was für irgendein anderes Glied inakzeptabel ist.

Es wird eine Regierung der vielen Kompromisse, deren höchste Ziel sein sollte, einfach einmal ordentlich zu regieren, ohne spektakulär etwas zu verändern. Für die Gesellschaftsgruppen, die unter dem Status quo am meisten leiden – allen voran die Palästinenserinnen und Palästinenser im Gazastreifen, im Westjordanland und in Ostjerusalem –, ist das eine bittere Nachricht: An ihrem Leid wird sich nichts groß ändern. Man befürchtet sogar, dass ihr Schicksal sich unter der Einheitsregierung noch weiter verschlechtern wird.

Denn Bennett und seine Partei sind nicht nur große Befürworter der Vertreibung und Unterdrückung der Palästinenserinnen und Palästinenser, sondern stehen sie auch im sozial-ökonomischen Bereich weit rechts, beeinflusst von und verbunden mit den Neoliberalen der US-amerikanischen Republikanischen Partei. Selbst zur Coronapandemie, in der die Führungen aller entwickelten Länder sich dezidiert, wenn nur vorübergehend, gegen den Neoliberalismus gewandt haben, war Bennetts Rezept für die Krise immer dasselbe: Sozialhilfen kürzen – und privatisieren, privatisieren, privatisieren.

Für die progressiveren Kräfte in der Einheitsregierung wird es also in vielen Bereichen gelten, zwischen Kompromiss und Koalitionszusammenbruch zu entscheiden. Kein Teil der Regierung wird alles bekommen, was er will. Frage ist nur, wer was durchgehen lässt.

Unklarheiten im Mitte-Links-Block

Betrachtet man die Prioritäten des „Mitte-Links-Blocks“ von Meretz, Labour und Lapid , kann man wohlbegründete Vermutungen in den Raum stellen. Bürgerliche Rechte und vor allem Fragen der Gleichstellung von LGBTQ+ und von Frauen werden für den progressiven Flügel höchstwahrscheinlich eine rote Linie darstellen. Aber bei den entscheidenden Fragen des Umgangs mit den Palästinensern und der Strukturierung der Ökonomie kann man sich weniger sicher sein. Alle Parteien des Blocks sind grundsätzlich auf Kompromiss in diesen Fragen eingestellt. Wie viele sozialdemokratische Parteien in der Welt hat auch Labour freudig beim Neoliberalismus mitgemacht, oft mit Meretz‘ Unterstützung und Lapid hatte ohnehin nie etwas dagegen.

Für die rechten Parteien der Einheitsregierung wird der Ausbau der Siedlungen und die weitere Unterdrückung der Palästinenserinnen und Palästinenser hohe Priorität haben. Nur damit können ihre Unterstützer über die „linke“ Regierung beruhigt werden. Und gerade was diese Themen angeht, ist für die „Links-Zionisten“ von Meretz und Labour der Kompromiss mit den rechten jüdischen Nationalisten etwas zwischen grundlegender Überzeugung und strategischem Kern der links-zionistischen Parteien. Obwohl manche unter ihnen dezidierte Gegner der Besatzung sind, ziehen sie an einem nationalistisch angehauchten Strang ihrer Parteien wohl mit: Ein Ende der Besatzung wird nur „für Israels Sicherheit“ angestrebt, oft wird mit rassistischer Sprache von „Trennung“ dafür geworben.

Die Rechten haben auch ohne Netanjahu die absolute Oberhand in der israelischen Politik und der Druck, die Gesellschaft weiter ökonomisch und national zu stratifizieren und weiter die Palästinenserinnen und Palästinenser zu verdrängen, wird stark sein. Man kann nur hoffen, dass sich in der Post-Netanjahu-Ära mehr Druck von unten aufbauen lässt, denn die neue Regierung könnte im schlimmsten Fall den Rechtsruck noch weiter füttern – diesmal mit Unterstützung und Erlaubnis des bisher oppositionellen „Mitte-Links-Blocks“.

Ein Beitrag von Michael Sappir.

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