Globale Gesundheit – im Sinne der Menschen oder der Märkte?

Wir haben auf der Welt eine gravierende Verteilungsungerechtigkeit, was die gesundheitliche Versorgung angeht. In nahezu allen Entwicklungsländern ist der Zugang zu Prävention und Gesundheitsversorgung für die Masse der Bevölkerung nicht sichergestellt. Besonders benachteiligt sind arme Menschen und solche in abgelegenen Regionen, abseits der großen Städte.

Die Herausforderungen sind gigantisch. Es geht um sauberes Trinkwasser, Entsorgung von Abfall und Fäkalien, ausreichende und gesunde Ernährung, Zugang zu Impfungen und essenziellen Medikamenten und Vorbeugung von sexuell übertragbaren Krankheiten sowie Selbstbestimmung von Frauen in Fragen der Familienplanung – all diese Fragen stehen akut auf der Tagesordnung, wenn es um Globale Gesundheit geht. Die Bundesregierung hat sich hier viel vorgenommen. Sie hat 100 Millionen Euro für den jüngst in Berlin eröffneten „WHO HUB for Pandemic and Epidemic Readyness“ bereitgestellt und betont immer wieder, wie wichtig ihr das Thema ist.

Folgerichtig war auch Deutschland der Gastgeber für den WHO-Gipfel für globale Gesundheit 2022. An dessen Rand wurde am 15. Oktober 2022 erstmalig der mit 500.000 Euro dotierte Virchow-Preis für Globale Gesundheit verliehen. Preisträger ist der kamerunische Virologe John Nkengasong. Er hat sich vor allem in der Forschung zu HIV einen Namen gemacht und war Leiter der Virologie bei der WHO zu Diagnose, Pathogenese und Arzneimittelresistenz von HIV/AIDS.

Preis der Industrie?

Für sein wissenschaftliches und gesundheitspolitisches Wirken vor allem in der Erforschung und Bekämpfung von HIV/AIDS und COVID19 ist diese Anerkennung hoch verdient und sicher auch im Sinne des Namensgebers.

Aber: es muss bezweifelt werden, dass Rudolf Virchow, der große Pathologe, Anthropologe und Menschenfreund, so begeistert davon wäre, welche Kreise sich heute mit seinem Namen schmücken:

Der Preis wird verliehen von der Virchow Foundation, einer privaten Stiftung. Die Stiftung, die von immerhin vier Bundesministerien unterstützt wird, ist über die German Health Alliance (GHA) eng verbunden mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie. Die Mitgliederliste dieser Allianz liest sich nicht zufällig wie das who is who der deutschen Gesundheitswirtschaft – vom Pharmaunternehmen über Medizintechnik, Logistik oder Unternehmen der Digitalwirtschaft bis zum Versicherungskonzern. Auch die Bertelsmannstiftung fehlt ebenso wenig wie der Lobbyverband der forschenden Arzneimittelhersteller. Natürlich sind auch ein paar wohltätige Nichtregierungsorganisationen und Hochschulen als Feigenblätter dabei.

Die Gesundheitswirtschaft leistet sich hier ein bisschen öffentlichkeitswirksames Weißwaschen, während sie ansonsten mit ihren Geschäftspraktiken gerade dafür sorgt, dass Menschen im Globalen Süden ihr Menschenrecht auf Gesundheit nicht verwirklichen können.

Viele Mitglieder der GHA haben während der Corona-Pandemie fleißig gegen eine Freigabe der Patente auf Arzneimittel und Medizinprodukte lobbyiert, weil dies ihre Geschäftsinteressen beeinträchtigt hatte.

Sie verhindern damit Technologietransfer, der die Entwicklungsländer befähigen könnte, selbst notwendige Arzneimittel und Diagnostika für ihre Bevölkerung zu produzieren. Stattdessen werben sie wissenschaftlichen und medizinischen Nachwuchs ab. Diese Kreise haben kein Interesse an der Verwirklichung des Menschenrechts auf Gesundheit, sondern primär an der Durchsetzung kapitalistischer Prinzipien in den Gesundheitssystemen möglichst vielen Staaten und an der Schaffung neuer Märkte für ihre Produkte und Dienstleistungen.

Gesellschaftliche Ursachen werden ausgeblendet

Eine technisch-medizinische Herangehensweise in der globalen Gesundheitspolitik bietet zwar ein Geschäftsfeld für Gesundheitsunternehmen, wer aber die gesellschaftlichen Ursachen von Krankheiten ausblendet, springt zu kurz. Armutskrankheiten stehen nachgewiesenermaßen in Zusammenhang mit einem niedrigen Lebensstandard. Eine erfolgreiche globale Gesundheitspolitik muss sich deshalb auch für soziale Gerechtigkeit einsetzen und darf sich nicht nur auf die Bekämpfung der Symptome begrenzen. Der Schutz und die Durchsetzung geistiger Eigentumsrechte, das haben wir in der Corona-Pandemie erlebt, sind mitverantwortlich dafür, dass sich die weniger zahlungskräftigen Länder des globalen Südens nicht ausreichend mit bezahlbaren Arzneimitteln versorgen können. Wenn die Fixierung der Pharmakonzerne auf Profitmaximierung unangetastet bleibt werden auch in Zukunft dringend benötigte Medikamente zur Behandlung der so genannten vernachlässigten Krankheiten nicht ausreichend entwickelt werden.

Eine der Stifterinnen des Preises ist obendrein Friede Springer, deren Medienkonzern wie kein zweiter in Deutschland in den 80er und 90er Jahren die Brandmarkung von HIV und AIDS als „Schwulenseuche“ und die Hetze gegen die Betroffenen zum Geschäftsmodell erhoben und damit die Aufklärung und Präventionsbemühungen konterkariert hat. Auch wenn Frau Springer die Geschäftsführung ihres Unternehmens in andere Hände weitergegeben hat, wird diese Tradition fortgeführt, etwa wenn das Flaggschiff „BILD-Zeitung“ Bilder eines durch Affenpocken schwer entstellten Menschen veröffentlicht und titelt: Nase eines Deutschen verfault wegen Affenpocken“.

Der Namensgeber des Preises, Rudolf Virchow, war ein aufrechter Humanist, der erkannt hatte, dass es darum gehen muss, die Verhältnisse zu verändern, in denen Menschen erkranken und dass jeder Mensch das gleiche Recht auf Zugang zu Gesundheitsversorgung auf dem Stand der aktuellen Wissenschaft hat.

Er sagte: „Eine vernünftige Staatsverfassung muss das Recht des Einzelnen auf eine gesundheitsmäßige Existenz unzweifelhaft feststellen.“

Rassismus bei der Preisverleihung

Man müsste noch ergänzen: Gesundheitsversorgung darf nicht abhängig sein von der Herkunft, vom sozialen Status, vom Geschlecht oder vom Geldbeutel. Es ist die Pflicht aller Staaten und da natürlich vor allem der Regierungen, sie zu gewährleisten und sich dabei nicht abhängig zu machen vom Mäzenatentum einiger Superreicher. Aber die meisten Staaten haben der rein finanziellen Macht der internationalen Konzerne nichts oder nur noch wenig entgegenzusetzen und dazu kommt, dass wir weit davon entfernt sind, koloniale Strukturen und institutionellen Rassismus zu überwinden.

So wurde die glamouröse Preisverleihung überschattet von einem Vorfall am Frankfurter Flughafen. Ahmed Ogwell, Abteilungsleiter der afrikanischen Gesundheitsbehörde Africa CDC, einer Institution der Afrikanischen Union, beschwerte sich, am Flughafen Frankfurt schlecht behandelt worden zu sein. Die Grenzschutzbeamten hätten ihm unterstellt, er wolle illegal in Deutschland bleiben. Dr. Ogwell hatte überlegt, seine Teilnahme am Weltgesundheitsgipfel, in dessen Rahmen die Preisverleihung stattfand, abzusagen, sah dann aber doch davon ab.

Die globale Ungleichheit spiegelt sich auch in jenigen alltäglichen Schikanen an deutschen Flughäfen, die nicht in die Presse kommen. Auch das muss thematisiert werden, wenn wir über globale Gesundheit reden. Deutsche weiße Unternehmer*innen und Politiker*innen sind es gewohnt, fast überall auf der Welt frei reisen, arbeiten und Konferenzen besuchen zu können. Von Beziehungen auf Augenhöhe können wir erst sprechen, wenn das umgekehrt auch für afrikanische Expert*innen gilt.

Was die Welt braucht, ist kein Weißwaschen und keine neuen Märkte für deutsche Unternehmen, sondern endlich globale Gerechtigkeit bei der Gesundheitsversorgung. Die Aufhebung von Patenten in einer Pandemie ist nur ein Teil. Die Erforschung von armutsassoziierten Krankheiten und Entwicklung von Impfstoffen und Therapien gegen Ebola, Flussblindheit oder Malaria mögen sich kurzfristig ökonomisch nicht rechnen. Sie sind dennoch notwendig und müssen finanziert werden. Oder um es noch einmal mit Virchow zu sagen:

Wer kann sich darüber wundern, dass die Demokratie und der Sozialismus nirgends mehr Anhänger fand, als unter den Ärzten? Dass überall auf der äußersten Linken, zum Teil an der Spitze der Bewegung, Ärzte stehen? Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen.“

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