Hamburg calling – Proteste gegen G20 als Chance für Linke

Zurzeit zeigt der G7-Gipfel in Sizilien die Brüche in der Global-Governance-Struktur und deren grundlegende Unfähigkeiten etwas zu den drängenden Fragen der Zeit zu sagen. Mit der Blockadehaltung der Trump-Administration und dem Ausbleiben von (Schein-)Kompromissen in Zentralthemen wie Ökologie, Handel, und Migration/Flucht steht die Institution vor einer schweren Niederlage.

Eine ähnliche Niederlage droht besonders der deutschen Regierung seit dem Finanzministertreffen in Baden-Baden auch für das ungleich wichtigere G20-Gipfeltreffen im Juli in Hamburg. Die gesellschaftliche Linke arbeitet seit Monaten daran ihren Teil zu tun, in Hamburg nicht nur die Unfähigkeit der Herrschenden sichtbar zu machen, sondern auch dem solidarischen Block dieser Gesellschaft endlich wieder eine sichtbare Artikulation zu geben.
Im Bewegungsblog des „neuen deutschland“ haben Tadzio Müller und Alexis Passadakis die These aufgestellt, dass Sichtbarkeit für linke Positionen schon bestehen und die Proteste nur ineffektiver Symbolismus wäre . Ihre grundsätzliche Analyse der gesellschaftlichen Situation, in der linke Positionen schon wieder sichtbar sind, und nur noch auf ihre machttechnische Umsetzung warten, schien mir dabei die grundlegende Konfiguration des politischen Feld nach dem Erstarken von reaktionären Tendenzen zu vernachlässigen. Ich habe demgegenüber in der aktuellen Ausgabe der „Analyse und Kritik“  versucht sowohl in der theoretischen Analyse als auch in der politischen Strategie einige Thesen zur Diskussion zu stellen, die eher von einer Schwäche der Linken Mobilisierungen ausgehen und in den Protesten in Hamburg eine wichtige Chance sehen. Einige der Thesen möchte ich hier noch einmal ausführlicher in ihrem Diskussionskontext aufbereiten.

Theoretische Ebene: Das Ende der Geschichte ist vorbei
Seit der Krise von 2008 gab es zahlreiche Aufbrüche und hoffnungsvolle Rebellionen, die ihren stärksten Ausdruck im sogenannten „arabischen Frühling“ hatten. Die Krise des Neoliberalismus wurde auch in Europa greifbar, in Griechenland konnte ein sozialdemokratisches Wahlbündnis getragen von Bewegungen die Wahlen gewinnen, in Spanien organisierten sich 100.000 gegen die Zwangsräumungen ihrer Wohnungen.

Es wird wieder über Kapitalismus und Alternativen zum Kapitalismus gesprochen, Geschichte wieder gemacht. Allerdings nicht nur aus solidarischen, hoffnungsvollen und zukunftsorientierten Perspektiven, sondern auch aus nationalistischen, angstbestimmten und reaktionären Perspektive. Diese Tendenzen überwiegen zur Zeit in einem globalen Ausmaß: die Wahl von Donald Trump zum Präsident der USA, der Kampagnenerfolg des Brexit-Lagers und aber auch die Formation des sogenannten Islamische Staat können darunter verstanden werden. Auch in der BRD gibt es mit der AFD ein spektrenübergreifendenes reaktionäres Parteiprojekt.

Dass das Ende der Geschichte – nach dem Sieg des Kapitalismus mit repräsentativer Demokratie (aka liberale Oligarchien) – vorbei ist, heißt unter diesen Voraussetzungen, dass sich eine linke Strategie sowohl gegenüber dem neoliberalen als auch neo-nationalistischen Block beweisen muss. Diese Konfiguration führt zu einigen Problemen von den das offensichtlichste und zuletzt intensiv diskutiere das des Aufrufs zur Wahl des kleineren Übels darstellt: soll die gesellschaftliche Linke den neoliberalen Kandidaten Macron gegen die Nationalistin Le Pen unterstützen?

Diese wahltaktischen Fragen sollten meines Erachtens nicht moralisch mit einem Appell ans antifaschistische Gewissen sondern viel eher aus der Perspektive einer linken Strategie in der konkreten historischen Situation beantwortet werden. Diesbezüglich lautet meine These, dass es der Linken schadet sich immer unter das neoliberale Projekt subsumieren zu lassen, und selbst keinen system-transzendieren Antagonismus vorzuschlagen. Eben dieser Antagonismus zum Bestehenden ist aber das entscheidende für die Formierung eines linken linken gesellschaftlichen Blocks.

Die strategische Ebene: Die Mobilisierungen gegen G20 als Vorgriff auf einen linken Antagonismus

Was sich bisher in der Formulierung zur Konstitution eines linken Blocks theoretisch und abstrakt angehört hat, kann bei den Mobilisierungen gegen G20 einen realen Vorgriff bekommen. Ich kontrastiere hierbei die Strategie des Zusammenkommens für einen linken Antagonismus bei konkreten Protesten gegen die Herrschenden mit der Strategie eines diffusen Zusammenkommens in Bezug auf den Bundestagswahlkampf. In meinem Text für die AK beziehe ich mich dabei auf das „Das Unmögliche versuchen“-Papier des Instituts für solidarische Moderne, Thinktank für eine rotrotgrüne Regierungsoption.

Dort wurde prominent der Vorschlag aufgeworfen aus einer eigenständigen 4. Position der gesellschaftlichen Linken einen Lagerwahlkampf für R2G und eine andere, linke Regierung und eine andere, linke Regierungsweise zu versuchen, indem die Parteien zu einer Selbstveränderung „getrieben“ werden: „Treiben wir SPD, Grüne und LINKE deshalb in genau das Entweder-Oder, das sie je auf ihre Weise scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Geben wir ihnen damit eine letzte Chance. Tun wir das in aktiver Weise und aus einer eigenständigen „vierten Position“ heraus. Machen wir ihnen klar, dass wir sie nicht mehr als „kleineres Übel“ gewähren lassen werden“.“ Was sich nach einem guten Vorschlag anhört, nämlich aus einer eigenständigen linken Position, dem „kleineren Übel“ der linken und liberalen Parteien eine Entscheidung aufzuzwingen, das sich in eine systemtranszendieren Perspektive aufhebt, hat allerdings keine reale Machtbasis und keinen konkreten Ansatzpunkt für einen Antagonismus. Dazu wie die 4. Position zu sich selbst findet und ihre Macht organisiert wird im Vorschlag des ISM-Papiers erstaunlich wenig gesagt.

Ich behaupte deswegen, dass es weder schon an der Zeit ist für eine linke R2G-Regierung noch für die Frage einer machttechnischen Umsetzung der noch gar nicht kollektiv bestimmten linken Positionen. Viel eher ist es an der Zeit, dass sich die in Bewegung gekommen Menschen der Willkommensinitativen, Miter*inneninitativen, Anti-Braunkohne und Klimabewegungen, Geflüchteten-Selbstorganisationen an einem gemeinsamen antagonistischen Punkt verständigen. Es gibt in Deutschland tendenziell linke Bewegung, es gibt eine kaum zu unterschätzende und beeindruckende Praxis der Solidarität mit den von Krieg und Elend geflohenen Menschen. Es gibt allerdings noch kein sprektrenübergreifendes Parteiprojekt dieser Menschen.

Es gibt aber konkrete Organisationen und Organisierungsprozesse, die diese Alltagskämpfe führen. Diesen Organisationen und Organisierungsprozessen“ gilt es aus linker Perspektive einen Vorschlag zu machen. Dieser Vorschlag kann zum Beispiel mit den Protesten gegen G20 unterbreitet werden: Ihr seid gegen Kriege und Ausbeutung? Beim G20-Gipfel treffen sich die Repräsenationsfiguren der zentralen Rüstungs- und Kriegsstaaten. Ihr seid gegen die Zerstörung des Planeten und wollt die drohende Klimakatastrophe aufhalten? Beim G20-Gipfel treffen sich die Repräsenationsfiguren der größten CO2-Produzent*innen. Ihr seid gegen das Massensterben im Mittelmeer und für eine solidarische Gesellschaft? Beim G20-Gipfel treffen sich die Staats und Regierungschefs der wichtigsten kapitalistischen Ländern und Fans der Grenzregime. Lasst uns gemeinsam in unsere geteilten Ablehnung eine solidarischen Gegenentwurf erahnen!

Ohne, dass die zusammenkommenden Menschen insgesamt schon ein Glaubensbekenntnis zu linksradikalen Antikapitalismus abgegeben könnten oder wollten, kann hier ein gemeinsames solidarisches Lager sich über die konkreten Protestmöglichkeiten konstituieren. Nicht zu unterschätzen sind dabei die Momente des Bruchs im kapitalistischen Alltag, die Momente des Emporments, bei denen über die Vielheit und Organisation der rebellierenden Menschen eine gemeinsame Stärke spürbar wird. Diese Stärke gilt es gemeinsam weiterzutragen in den konkreten Alltagskämpfen, aber auch zu nutzen um eine Vorstellung davon zu bekommen, was möglich wäre, wenn sich Menschen massenhaft organisieren. Auf der strategische Ebene denke ich, dass die im ISM-Papier unterschätze Organisationsfrage auf die Tagesordnung einer linken Alternative gehört: Lasst es 1,2 viele Organisationen und Organisationsweisen werden, die sich an den Protesten gegen den G20-Gipfel erweisen und vielleicht auch (er-)finden. Lasst die Macht der Organisierungsprozesse die Stärke des solidarischen Blocks der Gesellschaft werden.

Praktische Ebene: Der Angriff aufs Empire als Symbol des globalen Widerstands

Aus den bisherigen theoretischen und strategischen Überlegungen erscheint mir die Mobilisierungen gegen G20 die bessere Ausgangsposition für die Konstitution eines solidarischen Blocks dieser Gesellschaft als ein Lagerwahlkampf für R2G. Nicht zuletzt auch wegen der Kraft und Gemeinsamkeit stiftenden Moments der konkreten Situation auf der Straße, die in auch unendlichen Diskussionsprozessen des Deliberieren nicht eingeholt werden können. In meinem Text spreche ich von einem für einem symbolischen Angriff auf das sogenannten „Empire“ des neoliberalen Kapitalismus, der seinen ironischen Ernst durch die verkörperte Praxis der Aktivist*innen und der sie unterstützenden Menschen erhält. Der neoliberale Kapitalismus, das ist nach meiner These immer noch wesentlich die Verschränkung von Staats- und Kapitalinteressen. Der gleichzeitige Angriff auf den Gipfel der Rerpräsentant*innen einer Pseudo-Weltregierung (#BlockG20) und die Infrastruktur des globalen Kapitalismus (#HamburgCityStrike) – in Verbindung mit dem Gegenentwurf des Gegengipfels und der solidarischen Struktur des Protestcamps – deuten einen systemtranszendieren Antagonismus zum Bestehenden an.

Wichtig ist dabei – erinnern wir uns an die Konfiguration des politischen Felds – erstens, dass die AFD und andere reaktionäre Tendenzen zum Protest immer schon zu spät kommen: Der Antagonismus gegen das G20-Gipfeltreffen wird wesentlich von links formuliert. Zweitens, und das erscheint mir sehr wichtig, wird der Protest von den Menschen aus Hamburg unterstützt. Nach einer Umfrage des Hamburger Abendblatt, seines Zeichens nicht als Speerspitze der revolutionären Propaganda verdächtig, lehnen 73% der Hamburger*innen die Austragung des Gipfels in ihrer Stadt ab. Fast ¾ , in Zahlen: 1,2 Millionen Menschen. Über 35% der Hamburger*innen kann sich vorstellen an den Protesten dagegen teilzuhaben, das wären 600.000. Ich behaupte niemand konnte erwarten, dass die Ausrichtung des Gipfels so klar abgelehnt werden könnte und der Protest potentiell so viel Zustimmung bekommt. Hier scheint mir im Konkreten ein Drittel der Bevölkerung bereit zu sein gegen das Bestehende auf die Straße zu gehen, berechtigt von einem „dissidenten Drittel“ gesprochen werden könne, in die Treue zum Bestehenden tendenziell von links aufkündigen.

Für ein Protestevent das so klar an eine Stadt gebunden ist, wie die Mobilisierungen gegen den G20-Gipfel, erscheint mir der Resonanzraum der Hamburger*innen primärer Gradmesser für einen Erfolg oder Misserfolg der Proteste. Nehmen auch nur 10% der Hamburger*innen, die sich vorstellen können zu den Protesten zu kommen, auch an den Aktionen teil, so würde die Stadt sogleich zum Erliegen kommen. Weiterformuliert: die Stadt wäre de facto eine andere, nämlich diejenige des Protests und der Solidarität – und nicht mehr diejenige der Inszenierung der Macht von Angela Merkel und Staats- und Regierungschefs der 18 größten Kapitalstaaten. Über diesen direkten Resonanzraum und die Kämpfe vor Ort in Hamburg, kann gleichzeitig an den europäischen Süden signalisiert werden, dass auch im Herzen des kapitalistischen „EU-Imperiums“ eine widerständige Minderheit auf die Formierung seiner Stärke dringt. Diese Zeichen in die europäische Peripherie, das in Griechenland z.B. schon bei Blockupy als kaum zu unterschätzendes Solidaritätssignal verstanden wurde, wird wegen der Globalität des Gipfels auch in den globalen Süden strahlen. Auch wenn es an konkreten Kampfbedingungen vor Ort dort nichts verbessert ist das Zeichen der Rebellion und der Hoffnung subjektiv doch immer auch ein entscheidendes. Die Welt der Herrschenden zerfällt unter den Systemzwängen vor ihren Augen. Stiften wir neue Verbindungen und lernen uns in den Aktionen besser zu verstehen: eine andere, sozialistische Welt ist wieder möglich, eine andere, sozialistische Welt kann immer noch erkämpft!

David Doell studiert Philosophie in Berlin

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