Tsafrir Cohen

Die gemeinsame Liste: Vision für ein friedliches Israel – Im Gespräch mit Tsafrir Cohen

Die israelische Gesellschaft rückt immer weiter nach rechts, doch der Konflikt ist aus den Medien verschwunden. Wir haben mit Tsafrir Cohen, Leiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Israel, über die Entwicklung, die gemeinsame Liste gesprochen, das einzige neue linke Parteiprojekt in Israel, und die nach rechtsrückende israelische Politik gesprochen.

Die Freiheitsliebe: In den letzten Monaten ist der Israel-Palästina-Konflikt aus dem Fokus der Öffentlichkeit gerückt, woran liegt das?

Tsafrir Cohen: Ich glaube, es liegt an drei Faktoren: Es hängt zum einen mit der gesamten geostrategischen Situation im Nahen Osten zusammen, zum zweiten mit der Situation vor Ort, zum dritten mit der Abnahme der Gewalt in letzter Zeit.

Wenn wir mit dem ersten Punkt beginnen wollen, so haben wir inzwischen 300.000 Tote in Syrien und Staaten, die sich in Auflösungsprozessen befinden, wobei enormes Leid entsteht. Es ist nicht nur der Syrienkrieg, der immer stärker zum Stellvertreterkrieg gerät, man muss nur nach Saudi-Arabien schauen, deren Rolle vielleicht vergleichbar wäre mit der des zaristischen Russlands im Europa des 19. Jahrhunderts, als man sagte, solange dieses Regime an der Macht bleibt, wird es für ganz Europa keine nachhaltige demokratische Entwicklung geben können. Saudi-Arabien ist die Urqulle der Verbreitung einer reaktionären Islaminterpretation in der gesamten Region und interveniert momentan massiv im Jemen, was allerdings nicht im Fokus der Weltöffentlichkeit steht, dazu kommen massive Unterdrückung in Bahrain, während in Ägypten ein Diktator herrscht, der Ägypten unter Mubarak als ein Menschenrechtsparadies erscheinen lässt. Wir haben es also mit einer Gemengelage zu tun, in der der Nahostkonflikt eher ein niederschwelliger, langanhaltender Konflikt mit verhältnismäßig wenig Opfern n darstellt. In der aktuellen Situation wirkt dieser Konflikt also vergleichsweise unbedeutend.

Gleichzeitig herrscht absoluter Stillstand bei den Friedensverhandlungen. Es bleibt ein asymmetrischer Konflikt, doch die Menschen, sowohl weltweit, als auch in Israel und in Palästina haben sich mit dem Stillstand abgefunden, da wir mit einem langanhaltenden Stillstand zu tun haben. Die Weltöffentlichkeit arrangiert sich mit der aktuellen Situation, da es keine Akteure gibt, die Veränderung forcieren können, weder vor Ort, noch auf dem internationalen Parket der Diplomatie. Die Palästinenser hegen kaum die Hoffnung auf eine Veränderung der Rahmenbedingungen, sprich auf das Ende der israelischen Besatzung, , gleichzeitig gibt es keine Stimmung des Umbruchs oder der Rebellion, und so suchen sich die Menschen das Glück im Privaten, richten sich ein innerhalb der ihnen durch Israel zugewiesenen Enklaven. In Israel leben die Menschen besatzungsvergessen, sprich das Wort Besatzung und die Realitäten dahinter werden von vielen noch nicht einmal zur Kenntnis genommen. Die einstmals lebhafte Friedensbewegung hat ihre Hoffnung auf Einflussnahme längst verloren, und auch hier widmen sich viele ehemals Aktiven anderen Themen oder ihrem privaten Glück und nehmen die fortwährende Besatzung angesichts des Stillstands als unveränderbar hin, zumal auch die Arbeitspartei, vor 20 Jahren noch die große Hoffnung des Friedenslagers, das Friedensprojekt hintan stellt. Ähnlich ist es auf der Welt, ausländische Politiker sprechen Israelis und Palästinensern gut zu, doch mehr geschieht nicht, denn einerseits sehen sie vor Ort keine Akteure, die etwas verändern könnten, andrerseits sind sie selbst nicht willens die notwendigen Hebeln in Bewegung setzen, um bei den Konfliktparteien den politischen Willen zu generieren, überhaupt eine Konfliktregelung herbeizuführen.

Der dritte Punkt ist der Rückgang von Gewalt, auch, wenn vor kurzem noch von der dritten Intifada gesprochen wurde. Es gab davor zwei Intifadas, die erste, die Intifada der Steine, die zweite eine bewaffnete, eine, die im Gegensatz zur ersten von Enttäuschung und nicht Hoffnung geprägt war. Jetzt hatten wir es mit einer noch größeren, eher bleiernen Enttäuschung zu tun, wobei man – zu diesem Zeitpunkt jedenfalls – nicht von einer Intifada sprechen kann, da es sich eher um individuelle, oft spontane Aktionen vor allen sehr junger Menschen, ja Jugendlicher handelt, die das erniedrigende Leben unter der Alltagsgewalt einer Besatzung nicht mehr aushalten können.

Die Freiheitsliebe: Du hast schon angesprochen, dass die Hoffnung fehlt, nicht nur die individuelle sondern auch die politische. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat vor kurzem eine Analyse zur „Gemeinsamen Liste“ veröffentlicht, die als einziger Akteur Hoffnung verkörpert. Wie kam es zu dieser doch sehr breit aufgestellten Liste?

Tsafrir Cohen: Die Gemeinsame Liste ist wirklich einer der wenigen Hoffnungsschimmer, sie kam aus einer sehr überraschenden Ecke, von der palästinensischen Minderheit in Israel. Wenn man vom Nahostkonflikt spricht, denkt man die jüdischen Israelis und die Palästinenser in den besetzten Gebieten, sowie deren politischen Anführer. Hier haben wir es mit einer interessanten Wendung zu tun. Die palästinensischen Staatsbürger und Staatsbürgerinnen Israels machen etwa zwanzig Prozent der israelischen Bevölkerung aus und sind formell gleichberechtigte israelische Staatsbürger, in der Praxis allerdings häufig diskriminiert. Was daran liegt, dass Israel sich als jüdischer und demokratischer Staat definiert, in letzter Zeit immer stärker eher als jüdisch und immer weniger als demokratisch, was bedeutet, dass die indigene palästinensische Bevölkerung in Israel strukturell benachteiligt wird. Das schlägt sich nieder in allen Lebensbereichen, bis hin zu Gesundheitsdiensten und Verkehrsanbindung arabischer Gemeinden.

Wahlplakat der Gemeinsamen Liste; (unten rechts auf arbabisch und hebräisch: "Meine/Unsere Antwort auf Rassismus", auf der Wand steht: "Araber Raus!", )
Wahlplakat der Gemeinsamen Liste; (unten rechts auf arbabisch und hebräisch: „Meine/Unsere Antwort auf Rassismus“, auf der Wand steht: „Araber Raus!“, )

Die Gemeinsame Liste ist dabei aus dem Gedanken entstanden, dass man gemeinsam etwas tun muss gegen die Diskriminierung und den wachsenden Rassismus der immer stärker nach rechts driftenden Regierungen unter Premier Benjamin Netanjahu und gegen die immer stärker werden Angriffe auf die arabische Minderheit einerseits und Linke andrerseits. Ein Wunsch, der von der großen Mehrheit der Palästinenser in Israel geteilt wurde, über die Grenzen der verschiedenen Lager hinweg. In der Liste sind drei Parteien maßgeblich, die ansonsten politische Gegner waren: eine islamisch-konservative (Vereinigte Arabische Liste), eine sozialdemokratisch-nationalistische, die den Fokus auf Menschenrechte legt und viel Unterstützung unter den urbanen, gebildeten palästinensischen Schichten hat (Balad) und eine sozialistische (die Chadasch, deren wichtigste Gruppe die Israelische Kommunistische Partei ist). Chadasch ist historisch wir gegenwärtig die einzige Partei, in der jüdische und arabischen Israelis gleichberechtigt und auf Augenhöhe agieren und diskutieren. Diese drei Parteien haben ein Bündnis gegründet, die „Gemeinsame Liste“. Bei der Wahlen errangen fast 11 Prozent der Stimmen, und mit 13 Knesset-Mandaten von 120 ist sie drittgrößte Fraktion der Knesset geworden. Wenn man ihr Programm liest, so stellt man fest, dass diese Liste einen progressiven Ansatz verfolgt, der sehr wohl links genannt werden kann. Darüber hinaus gibt es nur die Meretz, die leider aber als linksliberales Projekt der Eliten gesehen wird und immer weniger Einfluss hat, sowie eine Arbeiterpartei, die immer weiter nach rechts gerückt ist und inzwischen in ein Bündnis eintrat, das „Zionistische Lager“. Ein Begriff womit man alle Palästinenser in Israel automatisch ausschließt, denn kaum einer möchte in einem zionistischen Lager sein.

Die „Gemeinsame Liste“, die die Stimmen von 90 Prozent der Wählenden Palästinenser, aber auch die Stimmen Tausender Juden und Jüdinnen, die vor allem mit Chadasch verbunden sind erhalten hat, haben wir eine politische Kraft, die einerseits die palästinensischen Staatsbürger Israels vertritt, gleichzeitig aber eine, die eine emanzipatorische Vision für ganz Israel hat, für einen gerechten Frieden und ein Ende der Besatzung steht, sowie n für einen sozialen und gerechten Staat, mit gleichen Rechtne für alle Bürger und Bürgerinnen.

Ia Im sich schnell radikalisierenden israelischen Diskurs wird diese Stimme für Freiden und Gerechtigkeit aber leider nicht gehört, und sie wird vor allem als trojanisches Pferd angesehen.

Vor kurzem hat die Stiftung einen Artikel veröffentlicht, in dem deutlich wird, dass die Kluft zwischen nichtzionistischen und zionistischen linken Parteien liegt, eine Kluft, die nach Meinung des Autors überwunden werden muss. Dafür stehne die Chancen momentan schlecht, da die Arbeiterpartei immer wieder in die rechteste Regierungskoalition der israelischen Geschichte zu kriechen, in der alle rechten und mitunter rechtsradikalen Parteien sitzen.

Die Freiheitsliebe: Du hast schon von der Vision der gemeinsamen Liste gesprochen, die nicht nur in Frieden liegt, sondern auch soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung beinhaltet. Wie kommt das bei einer so breiten Liste?

Tsafrir Cohen: Das ist sehr interessant, du hast eine jüdisch-palästinensische sozialistische Partei, die gemeinsam mit einer konservativen islamischen Partei zusammengeht. Das liegt zum einen daran, dass die Rechten und Rechtsradikalen den gesamten Diskurs dominieren. Die Folge ist, dass es egal ist, ob man ein religiös-konservativer Palästinenser, eine palästinische Feministin oder ein Liberaler ist, du stimmst immer gemeinsam gegen Gesetzesvorhaben, da sie immer dazu gedacht sind die Minderheit zu diskriminieren, ob nun in politischer, sozialer oder kultureller Hinsicht. Auch die muslimisch-konservativen Vertreter, sind natürlich Vertreter der Palästinenser, die folglich auch kein Interesse an einer Diskriminierung der Palästinenser haben. Natürlich haben sowohl der konservative, wie auch die feministische Palästinenserin ein Interesse an ein Ende der Besatzung, ebenso wie auch der sozialistische Jude, weswegen man auch hier immer gemeinsam gestimmt hat. Es gibt aber auch Unterschiede, vorwiegend im Bereich von Genderfragen, für solche Fälle hat man sich darauf geeinigt unterschiedlich zu stimmen. Insgesamt stellt die gemeinsame Liste aber eine Erweiterung der Wirkungsmöglichkeiten der linken Kräfte dar.

Wie das Beispiel des Frauenmarathons in Tira zeigt gegen das von reaktionären Islamisten gehetzt wurde. Vor der gemeinsamen Liste hätten Balad und Sozialisten sich an die Seite der Frauen gestellt, die muslimische Partei aber geschwiegen. Jetzt aber haben auch die islamischen Vertreter der Liste sich an die Seite der Frauen gestellt, wodurch ein riesiger Spalt zu den Salafisten entstanden ist. In sozialen und ökonomischen Fragen sind alle drei Parteien relativ ähnlich, wobei die islamischen Vertreter ökonomisch relativ ahnungslos sind, denn sie haben sich nie mit irgendwelchen Wirtschaftstheorien beschäftigt. In der gemeinsamen Liste werden sie aber durch die Sozialisten geprägt, die eine relativ genaue Vorstellung von Wirtschaftspolitik, Kapitalismuskritik und staatlicher Fürsorge haben. Das ist ein relativ spannendes Experiment, was noch nicht zu Ende ist, bisher würde ich, wie aber auch viele andere sagen, dass dies das ein Projekt ist mit einer linken Hegemonie.

Die Freiheitsliebe: Du hast schon angesprochen, dass dies das einzige erfolgreiche linke Projekt, gleichzeitig aber die rechteste Regierung aller Zeiten regiert, wie wirkt sich das auf die Liste aus, wird sie angegriffen?

Tsafrir Cohen: Sie wird permanent angegriffen von den israelischen Rechten. Wir haben allerdings auch eine starke Veränderung in der israelischen Rechten. Während früher eine Rechte dominierte, die immerhin für Israel rechtsstaatliche Normen akzeptierte, ja für diese kämpfte (das galt natürlich nie für die besetzten Gebiete), so gilt das für immer größere Teile der heutigen Rechten nicht. Wir haben hier eine starke rechte Lobby, die eher messianisch denkt. So wird ein strammer Rechtskonservativer wie Präsident Reuven Rivlin, der eine Lanze bricht für die Rechtsstaatlichkeit, also etwa die Trennung der Instanzen oder die, Freiheit der Gerichte steht, heute von den Rechtsradikalen als Verräter an der israelischen Sache permanent als Verräter beschimpft, etwa weil er sich mit Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch getroffen hat. Was ein ganz normaler Vorgang ist, wird heute schon als Verrat bezeichnet. Es entsteht so etwas wie eine rechte Gesinnungspolizei, wie auch die Kulturministerin zeigt, die enormen Druck auf alle Kultureinrichtungen in Israel ausübt, damit diese linke oder menschenrechtliche Inhalte, nicht thematisieren und droht ihnen sonst die Gelder zu streichen.

Was die besetzten Gebiete betrifft, so hat die messianische Rechte gar keine Idee, wie das ales in Zukunft aussehen soll. Sie will immer weiter jüdische Siedlungen bauen, hat aber keine Lösung, wie mit den dort lebenden Palästinensern umgegangen wird. Ähnlich wie die israelische Regierung haben sie keine Antwort auf grundlegende Fragen: Wo sollen die Grenzen eines künftigen Israels stehen? Wie stimmt die Idee eines jüdischen Staats mit dem Vorhaben, Gebiete zu annektieren, in denen eine große Zahl PalästinenserInnen leben, die irgendwann die Mehrheit im Land darstellen würden, überein?

Die Hauptopposition in Gestalt der Arbeitspartei gibt darauf allerdings auch keine klare Antwort, und lassen sich von den hegemonial gewordenen Rechten vor sich hertreiben.

Die Freiheitsliebe: Du hast die Einschränkung der Meinungs- und Kulturfreiheit schon angesprochen, seid ihr davon auch betroffen?

Tsafrir Cohen: Wir nicht, allerdings unsere israelischen Partner. Wir unterstützen Partner, die auf Demokratie und Frieden setzen, wir geben den Organisationen also Werkzeuge in die Hand zu verschiedenen Themen von Gentrifizierung, zu organisierter Arbeit oder zu Friedensfragen. Betroffen von den schrumpfenden Freiräumen“ sind übrigens mitnichten nur linke Organisationen, sondern vor allem Menschenrechtsorganisationen, wie zum Beispiel Amnesty, was im momentanen israelischen Diskurs allerdings als linke Organisation wahrgenommen wird. Was die Rechte macht, ist also nicht nur die Zementierung der Besatzung, sondern die grundlegende Veränderung der Gesellschaft, also hin zu einem immer weniger demokratischem und rechtsstaatlichem Land. So wird die kulturelle Meinungsvielfalt eingeschränkt, wie auch die Meinungsäußerungen von Knesset-Mitgliedern oder kritische Medien.

Die Freiheitsliebe: Du bist bald in Deutschland mit dem Vorsitzenden der gemeinsamen Liste, Ayman Odeh, und einer Aktivistin, was ist euer Ziel?

Tsafrir Cohen: Wir haben zwei Ziele, erstens deutlich machen, dass es eine palästinensische Minderheit gibt, die auch stark diskriminiert wird und trotzdem eigene Dynamik und Politik entwickelt. Zweitens deutlich machen, dass es die Gemeinsame Liste gibt, die eine Vision für die israelische Gesellschaft entwickelt und diese Liste kein marginales Projekt ist, sondern ein Herzstück der israelischen Politik und Gesellschaft darstellt.

Die Freiheitsliebe: Danke dir für das Gespräch.

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