Nach zwei begonnen Weltkriegen und nach 80 Jahren Jahren im Frieden sollten wir fragen, ob Deutschland erneut einen Krieg will. Die Äußerungen hoher Vertreter aus Regierung und Opposition dieser Tage legen diesen Schluss nahe. Denn dass wir von Trotteln regiert werden, die uns mit diplomatischer Unerfahrenheit leichtfertig in den nächsten Krieg hineinstümpern, kann wohl ausgeschlossen werden.
Bereits die Ankündigung, die Bundesregierung werde ab 2026 Tomahawk-Marschflugkörper, Flugabwehrraketen und Überschallwaffen aus amerikanischen Beständen in Deutschland stationieren, war besorgniserregend. Nicht nur, weil es dazu keinerlei politische, parlamentarische oder gar gesellschaftliche Debatte gab, sondern auch weil die Stationierung weitreichender Mittelstreckenraketen ein großes Eskalationspotential birgt.
Manch einer fühlt sich erinnert an das Jahr 1979, als der NATO-Doppelbeschluss die Stationierung von 200 Mittelstreckenraketen, bestückt mit Atomsprengköpfen, und 460 Marschflugkörpern in Westeuropa einleitete. In Westeuropa wohl bemerkt, nicht allein in Deutschland. Im Unterschied zu heute war der NATO-Doppelbeschluss damals eine Bündnisentscheidung. Die Absprache von Olaf Scholz und Joe Biden ist im besten Fall eine bilateralen Vereinbarung.
Im Unterschied zu heute ging es 1979 auch nicht nur um die Raketenaufstellung, sondern es wurden auch Vereinbarungen zur Rüstungskontrolle getroffen. Ein Krieg sollte um jeden Preis verhindert werden. Die Politik des Wettrüstens durfte nicht außer Kontrolle geraten. Deshalb wurde verabredet, diplomatische Gesprächskanäle offen zu halten. Die Vereinbarung zwischen Scholz und Biden dagegen sieht keinerlei Spielraum für Diplomatie vor. Sie sieht auch keinen Spielraum für die Abmilderung von Eskalationsgefahren vor. Sie formuliert nicht einmal ein Angebot an Russland, unter bestimmten Bedingungen die Stationierung wieder rückgängig zu machen.
Ganz im Gegenteil: Es hat den Anschein, als handele es sich um eine dauerhafte Stationierung von Waffen mit hoher Reichweite, von den Radaren schwer zu orten und ausgestattet mit dem Potential, die feindliche Flugabwehr zu durchdringen. Diese Raketen erhöhen mit ihren kurzen Warnzeiten nicht nur das Risiko von Fehlreaktionen. Sie eignen sich auch für einen Erst- oder Enthauptungsschlag gegenüber Russland.
Langstreckenwaffen und Angriffspotentiale
Wenn Pistorius und Scholz ihre Entscheidung damit begründen, dass Deutschland militärisch schlecht ausgestattet sei und nun in die Lage versetzt werden würde, seine „Fähigkeitslücke zu schließen“, dann lügen sie der Bevölkerung dreist ins Gesicht. Die Bundeswehr wurde in den letzten Jahren massiv hochgerüstet. Hier geht es nicht um das Schließen von Fähigkeitslücken, sondern vielmehr um einen Zugewinn an operativen Fähigkeiten. Es geht um das Potential, russische Ziele von deutschem Boden aus anzugreifen. Im Konfliktfall wären nicht die USA, sondern Deutschland das Ziel russischer Raketenangriffe.
So weit, so schlecht: In diese Strategie reiht sich nun auch die Diskussion über die Freigabe der Langstreckenwaffen ein, die von den USA und Großbritannien an die Ukraine geliefert wurden. Bislang war es der Ukraine untersagt, diese für Angriffe auf russisches Gebiet zu nutzen. Der Konflikt sollte nicht zu einem Flächenbrand werden. Nun aber erwägen die USA und Großbritannien diese Freigabe. Nicht ohne Grund ist die russische Regierung alarmiert. Putin machte deutlich, dass sich damit das Wesen des Krieges verändern würde. Außerdem würde er den ukrainischen Einsatz westlicher weitreichender Präzisionswaffen gegen Ziele auf russischem Territorium als Kriegsbeteiligung der NATO werten. Die NATO-Länder wären für ihn dann im Krieg mit Russland. Entsprechende Maßnahmen würden eingeleitet werden.
Schaut man sich die Reaktionen deutscher Vertreter aus Regierung und Opposition an, so soll dieser Zustand offenbar herbeiprovoziert werden. Anders sind die herablassenden Kommentare nicht zu erklären. So sieht beispielsweise Verteidigungsminister Boris Pistorius keinerlei Grund zur Sorge, denn die Erlaubnis der NATO zum Einsatz weitreichender Waffen sei schließlich „durch das Völkerrecht gedeckt“. Unwichtig, dass sich Russland in seinem Sicherheitsbedürfnis weiter eingeschränkt sehen könnte und dies auch so kommuniziert. Egal, dass sich der Krieg damit auf Länder wie Deutschland oder Frankreich ausweiten würde. Boris Pistorius ignoriert die Gefahren mit einem Verweis auf das Völkerrecht, der dem Ernst der Lage nicht im Entferntesten gerecht wird. Es stünde den USA und Großbritannien schließlich frei, dies „so zu entscheiden“. Und außerdem habe er das nicht zu bewerten, fügt er mit scheinbarer Zurückhaltung hinzu. Kein Wort der Vorsicht, kein Gedanke an Deeskalation. Stattdessen wird mit dem Holzhammer der Herablassung noch einmal draufgeschlagen: „Putins Drohungen sind Putins Drohungen. Mehr muss man dazu nicht sagen,“ erklärt Pistorius.
Opposition unterstützt Eskalation
Natürlich ist der Bundesverteidigungsminister nicht allein mit dieser Vorgehensweise: Norbert Röttgen beispielsweise meint, die russischen Warnungen müssten nicht ernst genommen werden, sie seien geradezu „absurd“. Putin verheddere sich in seiner eigenen Propaganda. Röttgen ist zum Glück nicht wichtig genug, um mit derartigen Aussagen Öl ins Feuer der Diplomatie zu schütten, doch seine Äußerungen geben einen Hinweis darauf, wo die Union in dem Konflikt steht.
Durchaus einflussreich dagegen ist die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Europaparlament, Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Sie galt schon als militaristische Scharfmacherin, als sie noch im Bundestag saß. Nun, auf europäischer Ebene angelangt, soll sie vermutlich sicherstellen, dass Deutschland zu alter Führungsstärke zurückfindet. Deshalb ist es notwendig, ihr zuzuhören. Derlei Angriffe seien legitim, meint sie, denn es gehe um Angriffe auf „rein militärischen Ziele, damit hier kein Missverständnis aufkommt.“ Nun entweder hat die Eurofighterin nicht mitbekommen, dass es noch in keinem Krieg gelungen ist, zivile Infrastruktur und Bevölkerung zu schützen oder sie lügt bewusst, um eine militaristische Stimmung anzuschüren. In beiden Fällen sollte Strack-Zimmermann unverzüglich von ihrem Posten abgezogen und in den Ruhestand geschickt werden, denn – egal ob bewusst oder unbedarft – sie gefährdet damit den Frieden und die Sicherheit von Millionen. „Wir sollten uns keine Tabus auferlegen“, fordert sie schließlich mit Blick auf die bevorstehende Eskalation in der Ukraine, und man bekommt spätestens jetzt die Bilder aus Gaza nicht mehr aus dem Kopf. Kein Tabus, das klingt nicht gut.
Dass die Medien, die einmal angetreten sind, um als vierte Gewalt die Exekutive zu kontrollieren, nun Beifall vom Seitenrand spenden, ist mittlerweile nur noch eine Randnotiz. So frohlockt die Frankfurter Rundschau zufrieden, Pistorius lasse „Putin auflaufen.“ Und das ZDF stellt den russischen Präsidenten mit der Bemerkung „Russlands Präsident droht mal wieder dem Westen“ wie einen quengelnden Mittklässler zur Schau. Doch die Randnotiz passt ins Bild.
Spätestens jetzt ist klar: Die Bemerkung von Annalena Baerbock, Deutschland befinde sich im Krieg mit Russland, war ebensowenig ein rhetorischer Ausrutscher wie der Appell des Bundesverteidigungsministers, die Bundesrepublik müsse kriegstüchtig werden. Deutschland soll an der Seite der USA als geopolitischer Akteur aufgebaut werden. So jedenfalls begründete Olaf Scholz im August 2022 in seiner Rede an der Prager Karls-Universität das Engagement der Bundesrepublik in der Ukraine: Nicht um das überfallene Land dabei zu unterstützen, sich gegen den Aggressor zu wehren, sondern um Deutschland zu neuer, alter Führungsrolle zu verhelfen. Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich, und das erste, was im Krieg stirbt, ist die Wahrheit.