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Antisemitismusbeauftragte fördern Antisemitismus

Es wird heutzutage viel Unsinn über Antisemitismus geredet, nicht zuletzt vom Antisemitismusbeauftragten der Bunderegierung, der sich nicht entblödet, die Mitglieder der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ in die Nähe des Antisemitismus zu rücken.

Dieser Artikel stellt dem einige historische und sozialpsychologische Fakten gegenüber.

Helga Drexler überlebte Hitlers Antisemitismus. Ermordet wurden ihre Eltern und Großeltern. Auch Ernst Verleger überlebte. Ermordet wurden seine Frau und seine drei Söhne, seine Mutter und sechs seiner sieben Geschwister[1].

Diese zwei Überlebenden, 23 und 48 Jahre alt, lernten sich 1948 kennen und heirateten. In dieser verwundeten Familie bin ich aufgewachsen.

Es wird heutzutage viel Unsinn über Antisemitismus geredet, vor allem von Politikern und einflussreichen Medien und vom Antisemitismusbeauftragten der Bunderegierung, der sich nicht entblödet, die Mitglieder der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ (zu denen auch ich gehöre) in die Nähe des Antisemitismus zu rücken.

Daher möchte ich im Folgenden einige Dinge klarstellen, und zwar:

  • Der deutsche Antisemitismus von 1880-1945 war die (zuerst „nur“ diskriminierende, dann mörderische) rassistische Reaktion auf eine konkrete historische Situation. Diese historische Situation ist vorbei, und so ist auch dieser Antisemitismus vorbei.
  • Demgemäß gehen antisemitische Einstellungen in der Bevölkerung kontinuierlich zurück. Negative Meinungen finden sich dagegen gehäuft zu Immigranten, Roma und Muslimen (aufgrund ähnlicher sozialer Gegebenheiten wie vor 100 Jahren bei Juden).
  • Muslime haben gehäuft negative Meinungen über Juden. Ebenso haben Juden gehäuft negative Meinungen über Muslime. Diese Sachlage verweist auf die Notwendigkeit gegenseitigen Respekts.
  • Die einseitige Heraushebung von Antisemitismus als gesellschaftlichem Übel durch Politik und Medien ist weder gerechtfertigt noch zielführend – im Gegenteil, sie fördert ihn.

Dazu im Folgenden mehr.

(1) Judentum und Europa 1880-1945

Das jüdische Vaterland um 1900 war das Zarenreich. Dort lebte ca. fünf Millionen Juden – rund die Hälfte aller Juden auf der Welt.[2] Sie waren nicht ins Zarenreich eingewandert, sondern das Zarenreich war zu ihnen gekommen – hundert Jahre zuvor, zu ihren Vorfahren. Denn 1795 mit der Dritten Teilung Polens kam der größte Teil des Königreichs Polen-Litauen zum Zarenreich. Polen-Litauen, das liberalste Land im christlichen Mittelalter, war seit ca. 1100 die wichtigste Heimat der Juden im christlichen Europa gewesen. Es reichte von der Ostsee bis ans Schwarze Meer, umfasste nicht nur große Teile des heutigen Polen und von Litauen, sondern auch von Lettland, Weißrussland, der Ukraine und West-Russland. Juden waren ins Land gerufen worden, um Handel und Handwerk mitaufzubauen. Sie hatten dort Religionsfreiheit und Autonomie.  

Im Lauf der Jahrhunderte waren dort die Juden in religiös-mittelalterlicher Enge erstarrt. So mühten sich einerseits die Zaren ab 1795, ihre neuen jüdischen Untertanen in die Neuzeit zu bringen, gewährten ihnen aber andererseits nicht gleiche Rechte.[3] Die Lage spitzte sich dramatisch zu, als 1881 der liberale Zar Alexander II. durch ein Attentat (von polnischen Nationalisten und linken Anarchisten) ermordet wurde. Jüdische Geschäfte und Läden wurden von nationalistischem Mob geplündert, da in dessen Wahrnehmung die liberalen Reformen des Zaren vor allem die Juden reich gemacht hätten. Dabei gab es auch Tote. Staatsmacht, Polizei und Justiz taten ihr Möglichstes, um diese Pogrome zu unterbinden. Jedoch wie die deutsche Regierung 1992 nach den Pogromen von Hoyerswerda und Rostock die Einwanderung für den Volkszorn verantwortlich machte und das Asylrecht abschaffte, so machte auch 1882 der neue Zar die angebliche jüdische Kontrolle der Wirtschaft für diesen Volkszorn verantwortlich. Er erließ im Mai 1882 Gesetze, die den Juden die Aussicht nahmen, jemals in diesem Land gleichberechtigt zu werden.

Manche in der jüdischen Bevölkerung des Zarenreichs versuchten sich anzupassen. Diejenigen, die das nicht konnten oder wollten, reagierten auf vier Arten.[4]

Erstens mit Auswanderung. In den 30 Jahren von 1881 bis 1914 wanderten ca. 1½ Mio. Juden aus dem Zarenreich aus. Die Länder Europas taten sich schwer, diese Einwandererwelle ins Land zu lassen. In Deutschland, lebten 1880 ca. 500.000 Juden (darunter viele aus dem preußischen Anteil an der Teilung Polens 1795). Kurz vor Beginn der langanhaltenden Auswanderungswelle aus dem Zarenreich forderte eine »Antisemitenpetition« – »Antisemit« war der gelehrt klingende Titel, den sich die Minderheitenhasser selbst gaben – die Einschränkung jüdischer Ein­wanderung nach Deutschland sowie den Ausschluss von Juden aus dem Heer, dem Richteramt und dem Bildungswesen. Erstunterzeichner waren einige damals prominente Professoren und Politiker. Kronprinz Friedrich nannte diese Petition »eine Schmach für Deutsch­land«. Reichskanzler Bismarck ging jedoch in ihrem Fahrwasser auf Jagd nach Wähler­stimmen und sprach sich im Mai 1881 gegen Einwan­derung von Juden aus, sein Innenminister verweigerte bereits eingewan­der­ten Juden die Einbürgerung. Kron­prinz Friedrich wurde zwar 1888 deutscher Kaiser, starb aber leider nach 99 Ta­gen im Amt.

In Großbritannien formierte sich 1902, nachdem seit 1881 über 100.000 jüdische Flüchtlinge aus dem Zarenreich angekommen waren, die nationalistische British Brothers’ League (»England for the English!«). Sie erreichte 1905 ein re­striktives Einwande­rungsgesetz.

So schifften sich die allermeisten Auswanderer aus dem Zarenreich nach Amerika ein, davon die meisten in die USA und begründeten so das heutige US-Judentum. Die Reederei HAPAG eskortierte die Einwanderer in der Eisenbahn von der russisch-preußischen Grenze bis zum Hamburger Hafen.

Eine zweite Reaktionsweise war die Entstehung des Zionismus: Emanzipation durch Aufbau eines eigenen Lands. Es entstanden im Zarenreich ab 1882 zionistische Zirkel, die sich bald zusammenschlossen. Auf internationaler Ebene wurden sie politisch wirksam, als 1897 der Wiener Charismatiker Theodor Herzl den „Zionistischen Weltkongress“ ins Leben rief.

Eine dritte Reaktionsweise war der Einsatz für jüdische Autonomie im eigenen Land. 1897 gründete sich der „Bund“ („Allgemejner Jidischer Arbejterbund in Lite, Pojlen un Russland“), der den Kampf nach sozialer Befreiung mit dem Streben nach nationaler Emanzipation im Zarenreich verband und eine straffe, mitgliederstarke, militante Organisation aufbaute.

Eine vierte Reaktionsweise war der Wunsch nach allgemeiner Emanzipation durch Sturz der Zarendiktatur. 1898 wurde am Sitz des Bund die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russland gegründet. Viele Aktivisten dieser Partei waren jüdisch.

Tausende Mitglieder des Bund und der SDAPR wurden verhaftet und nach Sibirien verbannt. In der Folge versuchte die Zarendiktatur, die Opposition gegen ihr System als jüdisch-nationalistisch zu diffamieren und verfasste als Counterinsurgency-Maßnahme 1903 die „Protokolle der Weisen zu Zion“: Die Juden würden in Wirklichkeit nicht ihre Emanzipation anstreben, sondern die Weltherrschaft. 1905, nach der russischen Niederlage im russisch-japanischen Krieg, gab es Bürgerkriegs-Auseinandersetzungen zwischen Zar-treuen Nationalisten und den Revolutionären; diese mündeten in Pogrome, denn die Juden waren in den Augen der Radikalnationalisten die geborenen Feinde von Zar, Gott und Vaterland. Tausende Juden verloren dabei ihr Leben.

Konservative Politiker in Europa identifizierten aufgrund dieser gewaltsamen Auseinandersetzungen Judentum mit Sozialismus und Bolschewismus. So schrieb Winston Churchill 1920: Die Juden hätten der Welt das Beste gegeben – das Christentum – und gäben ihr nun das Schlechteste – den Bolschewis­mus. Man müsse diese Gefahr be­kämpfen, indem man im Judentum die Neigung zum Sozi­alismus durch einen gesunden Nationalismus erset­ze – den Zionismus.[5]

Es waren also damals die gleichen Faktoren vorhanden, die heute die AfD stark werden lassen: Angst vor unkontrollierter Einwanderung als fremdartig empfundener Menschen, und Identifikation dieser Menschen mit einer politisch-ideologischen Gefährdung (damals „jüdischer Bolschewismus“, heute „islamistischer Terror“). Die unkluge Behandlung Deutschlands durch die Siegermächte des Ersten Weltkriegs und die Weltwirtschaftskrise brachte Hitler an die Macht – so als wäre 2015 der Pegida-Chef Kanzler geworden. Hitler wollte Deutschland nach Osteuropa hin erweitern, aber allein schon in Polen (bis 1918 Teil des Zarenreichs) lebten Millionen Juden, von denen ein Teil den sozialistischen „Bund“ und die Kommunisten unterstützte[6] – eine grauenhafte Vorstellung für die Nazi-Rassisten. Diese „Judenfrage“ musste „gelöst“ werden. Der Rest ist bekannt.

Hitlers Verbrechen gegen Juden werden sich vorläufig nicht wiederholen, weil beide Komponenten des „jüdischen Bolschewismus“, gegen den Hitler kämpfte, weitgehend verschwunden sind: Das Judentum in Ostmitteleuropa verschwand als relevante nationale Minderheit 1939-1945 durch Hitlers Verbrechen, und ein großer Teil des Rests floh danach vor Stalins Machtübernahme. Und der Bolschewismus verschwand spätestens 1990 unter Jelzin. So ist heute das Judentum kein Feind mehr für Europas Nationalisten, denn es stört nicht mehr die nationalen Bestrebungen und ist nicht mehr der vermeintliche Träger einer internationalistischen Ideologie, des Sozialismus.

(2) Negative Meinungen zu Juden und Muslimen

Konsequenterweise gehen negative Meinungen zu Juden seit Jahrzehnten zurück.[7] In einer Umfrage von 1996 und 2006 an insgesamt über 5000 Personen[8] hatten nach dem Zweiten Weltkrieg geborene Deut­sche (Jahr­gänge 1950 bis 1989) deutlich weniger negative Ansichten über Juden als ältere Deutsche (Jahrgänge 1910 bis 1949).[9] Zusätzlich ging im Laufe der jüngeren Vergangenheit die Verbreitung solcher Meinungen in jährlich oder zweijährlich durchgeführten Umfragen zwischen 2002 und 2016 nochmals weiter zurück.[10] Im Ergebnis wäre es nun fünf Prozent der Bevölkerung unangenehm, jüdische Nachbarn zu haben, also nur geringfügig mehr als italienische Nachbarn (3%), aber wesentlich weniger als osteuropäische Nachbarn (14%) oder gar Muslime (21%), Asylbewerber (29%), Sinti & Roma (31%).[11]

Der Wiedergänger des europäischen Antisemitismus vor hundert Jahren ist heutzutage der Antiislamismus, und dies seit Jahrzehnten und noch einmal verstärkt nach der syrischen Immigrationswelle 2015: Wieder Furcht vor einer als fremdartig empfundenen Minderheit, vor einer Welle von Einwanderern, die den deutschen Volkskörper auflösen könnten, und vor einer mit den Angehörigen dieser Religion verknüpften politischen Strömung (Fundamentalismus, Terrorismus).

Daher sind auch in neueren empirischen Studien die negativen Meinungen über Muslime stets weitaus höher als über Juden. Beispielhaft zeigte das die von CNN beauftragte Studie aus dem September 2018.[12] Dies war eine online-Umfrage an je 1000 Menschen aus sieben europäischen Ländern (Deutschland, Österreich, Frankreich, Großbritannien, Schweden, Polen, Ungarn).[13] Die Befragten sollten auf einer fünfstufigen Skala angeben, von „very favourable“ bis „very unfavorable“, was sie von einigen Bevölkerungsgruppen hielten.

Man sieht hier[14]: Das schlechteste Image haben Muslime, Roma und Immigranten („somewhat unfavourable“ und „very unfavourable“): Diese Gruppen werden zu 35%-40% abgelehnt (37%, 39%, 36%). Weit davor rangieren LGBT (16%), noch geringer Juden (10%), und dann Christen (5%), Nicht-Religiöse (3%).

Umgekehrt, gute Meinungswerte („somewhat favourable“ und „very favourable“) erhalten Christen (55%) und Nichtreligiöse (45%), gefolgt von Juden und LGBT (jeweils 36%), abgeschlagen folgen Immigranten (19%), Muslime (17%) und Roma (16%).[15]

Ähnliche Ergebnisse erbrachte eine 2016/2017 durchgeführte Studie aus Großbritannien[16], die nach der Meinung zu verschiedenen Religionsgruppen fragte. In einer Interview-Befragung an 900 Personen hatten eine sehr schlechte oder relativ schlechte Meinung über Muslime 14%, über Juden dagegen nur 5.4% der Befragten – gleich viel wie über Hindus (5.5%) und etwas mehr als über Christen (3%). In einer folgenden online-Befragung an 1000 Personen wurde die Antwortkategorie „weder-noch“ weggelassen, sodass sich die Befragten schärfer entscheiden mussten. Nun hatten 34% eine schlechte Mei­nung über Muslime, 13% über Juden, 13% über Hindus und 11% über Christen.

Diese Studienergebnisse legen die Folgerung nahe, dass in den Gesellschaften Europas abwertende Meinungen über Juden nicht das wichtigste Problem im Bereich der Ablehnung anderer Gruppen sind. Vielmehr liegt sozialer Sprengstoff haupt­sächlich in den abwertenden Meinungen über Muslime.

(3) Muslime mögen Juden nicht, und Juden mögen Muslime nicht

Man kann die gerade berichteten Daten der CNN-Studie danach einteilen, welcher Religion sich der Befragte zugehörig fühlt.[17] Von den 7000 Befragten stuften sich ca. 4400 als christlich ein, 165 als muslimisch und 34 als jüdisch. Die Aufteilung nach Religion der Befragten zeigt:

Jede Gruppe findet sich selber gut, Christen die Christen, Muslime die Muslime, Juden die Juden (linke Grafik). Schlecht (rechte Grafik) finden Christen (wie die Gesamtstichprobe) vor allem Muslime, Roma und Immigranten. Ihrerseits werden Christen von den anderen Gruppen durchgängig nicht übel bewertet, aber Muslime finden LGBT und Roma schlecht und danach Juden und Nichtreligiöse, während Juden Roma und Muslime schlecht finden und danach Immigranten und LGBT. Worauf es mir hier vor allem ankommt: Negative Meinungen von Muslimen über Juden (22%) sind genauso häufig wie von Juden über Muslime (24%).

Selbstverständlich ist die Stichprobe von 34 Juden zu klein, um endgültige Aussagen zu treffen: Die 24% von ihnen, die Muslime nicht mögen, sind gerade mal 8 Personen.  Weitere Daten wären also nötig. Aber diese hier erstmals veröffentlichten Daten widersprechen jedenfalls nicht der Annahme, dass es ein spiegelbildliches Verhältnis von Juden und Muslimen gibt: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Der Grund für diese gegenseitige Abneigung dürfte der Nahostkonflikt sein – so ist es jedenfalls für die Meinung von Muslimen über Juden belegt[18]; über die Meinung europäischer Juden zu Muslimen kenne ich keine hierfür relevanten Daten.

Was daher mit großer Wahrscheinlichkeit sowohl den muslimischen Antisemitismus als auch den jüdischen Antiislamismus beseitigen würde, wäre eine gerechte und damit versöhnliche Lösung des Nahostkonflikts. Umerziehungsmaßnahmen gegenüber nur einer der beiden Parteien (die sagenhafte Fahrt nach Auschwitz[19] mit einer Gruppe von Muslimen) erscheinen nicht sinnvoll. Sinnvoll dagegen wären Maßnahmen, die beide Parteien gleich behandeln und auf einer Kultur gegenseitigen Respekts gegründet sind.[20]

(4) Antisemitismusbeauftragte produzieren Antisemitismus

Die Politiker der Bundesrepublik Deutschland haben seit 2017 beschlossen, den Antisemitismus als gesellschaftliches Übel gegenüber allen anderen Diskriminierungen besonders herauszuheben. In Bund und zahlreichen Bundesländern wurden Antisemitismusbeauftragte eingesetzt, viele Städte haben Resolutionen „Gegen jeden Antisemitismus“ verabschiedet.

Diese Maßnahmen wurden jetzt ergriffen, über 70 Jahren nach Ende der Hitlerdiktatur, zu einem Zeitpunkt, zu dem negative Meinungen über Juden auf einem historischen Tiefstand liegen (s. oben (2)), während gleichzeitig negative Meinungen über Muslime, über Immigranten, und über Roma sehr weit verbreitet sind (s. oben (2)) und während sich unter anderen Bevölkerungssegmenten Deutschlands ein Gefühl des Abgehängtseins breitmacht, das Radikalnationalisten wie der AfD Anhänger beschert – z. B., aber nicht nur, in ostdeutschen ländlichen Gebieten wie auch in vielen europäischen Ländern.

Wenn sich also ein großer Teil der Bevölkerung mit mehr oder weniger Recht diskriminiert und ausgegrenzt fühlen kann: Was passiert dann, wenn man eine Gruppe herausgreift, der es wahrlich nicht am schlechtesten geht? Das kann doch nur kontraproduktiv sein, denn es entsteht eine „Opferkonkurrenz“. Diesen möglichen Mechanismus führt bereits der Antisemitismusbericht an die Bundesregierung von 2017 an: „… wäre zu untersuchen, wieweit … von muslimischer Seite eine »Opferkonkurrenz« zu Juden wahrgenommen wird, da Letztere in ihren Augen erinnerungs- und tagespolitisch eine privilegierte Stellung einnehmen und zudem noch eine besondere Beziehung der Bundesrepublik zum Staat Israel existiert. Berichte über antisemitische Einstellungen und Übergriffe erfahren vergleichsweise breite öffentliche und politische Resonanz. So ist dies bereits der zweite Antisemitismusbericht des Bundestages, es gibt aber keinen Bericht über Muslimen- und Islamfeindlichkeit. Der Verdacht könnte aufkommen, dass eine allein auf die Vergangenheit ausgerichtete Erinnerungskultur der Mehrheitsgesellschaft leichter fällt und auch bequemer ist. Mit der Erinnerung an die jüdischen Opfer des Holocaust und den daraus abgeleiteten Mahnungen entledigt man sich zugleich der kritischen Reflexion aktueller Diskriminierungen, sodass sich aktuelle Opfer … vernachlässigt fühlen. … Hier sei nur der Gedanke angeführt, dass die Ausrichtung der deutschen Erinnerungspolitik einen nichtintendierten negativen Nebeneffekt haben könnte und Muslime sich als »Opfer zweiter Klasse« fühlen, deren in Studien nachgewiesene und im Alltag gefühlte Diskriminierung ignoriert wird. Dies könnte zum psychologischen Effekt der Reaktanz und damit zur Abwertung von Juden beitragen.“[21]

Und während der Antisemitismusbericht 2017 diesen negativen Effekt des Privilegierens einer antijüdischen Diskriminierung noch nur als plausible Möglichkeit in den Raum stellt, wurde tatsächlich im gleichen Jahr ein wissenschaftlicher Artikel veröffentlicht, der in zwei Studien in Belgien diesen Effekt als Steigerung des Vorurteils gegen Juden bei zwei Gruppen von Einwanderern (sowohl aus dem ehemals belgischen Kongo als auch aus islamischen Ländern) empirisch zeigt – jeweils bei denen von ihnen, die sich besonders unterprivilegiert fühlen – und der dann auch noch in einem raffinierten sozialpsychologischen Experiment an Studierenden nachweist, dass solche einseitigen Opferprivilegierungen tatsächlich ursächlich für negative Affekte gegen die privilegierte Opfergruppe sein können, auch wenn diese an ihrer Privilegierung völlig schuldlos ist.[22]

Die negativen Affekte dürften sich wohl noch steigern – das wurde jedoch nicht empirisch getestet – , wenn die privilegierte Opfergruppe aktiv an ihrer Privilegierung gearbeitet hat, was ja offensichtlich der Fall war, wenn der Zentralrat der Juden in Deutschland und andere jüdische Organisationen landauf, landab über Antisemitismus klagen und Antisemitismusbeauftragte und die Einrichtung staatlicher Maßnahmen gegen Antisemitismus fordern.

In einfachen Worten: Die Einrichtung von Antisemitismusbeauftragten erzeugt Antisemitismus, durch das Fehlen auch nur annähernd ähnlicher Organe für mindestens ebenso, in Wahrheit wohl wesentlich mehr diskriminierter Gruppen.

Wie anders war doch der Zentralratspräsident Bubis in den 90er-Jahren, der sich mutig gegen den Rassismus in Hoyerswerda und Lichtenhagen stellte, als Vietnamesen, Mosambikaner und Roma attackiert wurden, der nach Solingen und Mölln kam, als dort, die türkischen Familien verbrannt wurden. Selbstverständlich kam er auch zu uns nach Lübeck, als 1994 und 1995 Brandanschläge auf die Synagoge verübt wurden, aber er brachte die Einschätzung deutlich zum Ausdruck, dass hier ja glücklicherweise nur ein Gebäude beschädigt wurde, während dort Menschen mit dem Tode bedroht und sogar umgebracht worden waren.

Der jüdische Zentralratspräsident Bubis war dadurch in der Bevölkerung so beliebt, dass er als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten vorgeschlagen wurde. So bekämpft man Antisemitismus!

Ein Beitrag von Rolf Verleger, ehemaliger Vorsitzender des Landesverbands Jüdische Gemeinschaft Schleswig-Holstein, Autor mehrer Bücher


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[1] Sein einzig überlebendes Geschwister war sein zweitjüngster Bruder Adolf-Arje. Er überlebte mit seiner Frau und kleinem Sohn dank Alfred Roßner, s. Hanna Miska: „Der stille Handel: Alfred Roßner – Lebensretter im Schatten der SS.“ Mitteldeutscher Verlag 2018

[2] Alexander Solschenizyn:  „Zweihundert Jahre zusammen. Band 1: Die russisch-jüdische Geschichte 1795-1916.“ F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung, 2003, S.93.

[3] S. ausführliche Darstellung bei Solschenizyn (2003), a. a. O. und, davon ausgehend, in: Rolf Verleger: „100 Jahre Heimatland? Judentum und Israel zwischen Nächstenliebe und Nationalismus“, Westend-Verlag 2017.

[4] Solschenizyn (2003), a. a. O., und Verleger (2017), a. a. O.

[5] https://en.wikisource.org/wiki/Zionism_versus_Bolshevism

[6] Siehe Zahlen zu den Wahlen in der jüdischen Gemeinde Warschau, in Verleger (2017), a. a. O., Kap. 10.

[7] Dafür, dass es mehr an diesen objektiven Gegebenheiten liegt als daran, dass sich die Menschen wirklich geändert hätte, spricht die unverändert starke Abneigung gegen Sinti und Roma und die neue Abneigung gegen Muslime.

[8] Voigtländer, N., & Voth, H.-J. (2015). Nazi indoctrination and antisemitic beliefs in Germany. Proceedings of the National Academy of Science of the U. S. A., 112, 7931–7936.

[9] Gefragt wurde nach Zustimmung, ob Juden zuviel Einfluss auf der Welt hätten, teilweise selbst für ihre Verfolgung verantwortlich seien, und ihren Opferstatus finanziell ausnutzten. Von den um 1930 Geborenen bejahten ca. 10% der Befragten alle drei Fragen, von den um 1980 Geborenen ca. 2,5%.

[10] Bergmann, W., Chernivsky, M., Demirel, A., Gryglewski, E., Küpper, B., Nachama, A., & Pfahl-Traughber, A. (2017). Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus. Unterrichtung durch die Bundesregierung. Deutscher Bundestag, 18. Wahlperiode, Drucksache 18/11970, S.62

[11] Zentrum für Antisemitismusforschung und Institut für Vorurteils- und Konfliktforschung e. V. (2014). Zwischen Gleichgültigkeit und Ablehnung. Bevölkerungseinstellungen gegenüber Sinti und Roma. Expertise für die Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Berlin. (Zitiert in Bergmann et al., a.a.O., S. 69)

[12] CNN Antisemitism in Europe poll. (2018). https://www.comresglobal.com/polls/cnn-anti-semitism-in-europe-poll-2018/, Tabellen heruntergeladen am 11. 1. 2019

[13] Die Stichproben seien gewichtet worden, um für Alter, Geschlecht und Landesteile repräsentativ zu sein. (Die Beschreibung der Methodik in der Studie besteht leider nur aus drei Sätzen.)

[14] Daten aus Tabelle 18 der Gesamtstichprobe.

[15] Den Rest zu 100% bildet die Bewertung „neutral“; z. B. Christen werden von 5% abgelehnt, von 55% gemocht und – hier nicht dargestellt – von 100%-(5+55)% = 40% als neutral bewertet.

[16] Staetsky, L.D. (2017). Antisemitism in contemporary Great Britain.A study of attitudes towards Jews and Israel. London: Institute for Jewish Policy Research. http://www.jpr.org.uk/documents/JPR.2017.Antisemitism_in_contemporary_Great_Britain.pdf Zugriff am 21.9.2017

[17] Daten aus Tabellen 19-25 der Gesamtstichprobe.

[18] Bergmann et al. (2017), a. a. O., S.80-81.

[19] Ich war zwar schon einige Male in Krakau, aber noch nie im nahegelegenen Auschwitz. Es reicht, dass mein Vater dort war; ich will und muss dort nicht hin.

[20] Vgl. dazu die Überlegungen und Daten zu Respekt und Toleranz bei Bernd Simon (2017) Grundriss einer sozialpsychologischen Respekttheorie. Psychologische Rundschau 68:241-250

[21] Bergmann et al., a. a. O., S. 82-83

[22] De Guissmé, L., & Licata, L. (2017) Competition over collective victimhood recognition: When perceived lack of recognition for past victimization is associated with negative attitudes towards another victimized group. European Journal of Social Psychology 47:148-166.

Im Experiment lasen Psychologiestudenten einen Bericht über ein (ausgedachtes) Ereignis vor drei Jahren: VWL-Studenten hätten die Datei mit den Noten der Ethnologievorlesung (Pflichtveranstaltung für VWL, Jura und Psychologie) gehackt und alle Jura- und Psychologiestudenten auf Durchgefallen gesetzt. In der experimentell kritischen Bedingung lasen die Studenten, die Universitätsleitung habe dies nur für die Jurastudenten als Unrecht anerkannt, nicht für die Psychologen; andere lasen zum Vergleich, dass dies bei beiden Gruppen anerkannt wurde, oder bei keiner Gruppe. Danach sollte die Sympathie für alle Gruppen angegeben werden (auf einer Skala von 1 bis 100). Kritisch war die Bewertung der völlig unschuldigen, aber als Opfer privilegierten Jurastudenten. Diese wurden in der Tat negativer bewertet als in den Vergleichsbedingungen.

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10 Antworten

  1. Lieber Rolf
    Danke für Deinen kenntnisreichen und wichtigen Gastbeitrag.
    Dieser erinnert mich an jenen Abend mit Dir vor längerer Zeit im Café Palestine in Zürich.
    Wie die 240 jüdischen WissenschaftlerInnen in Israel und in der Diaspora klar zum Ausdruck bringen,
    ist die simplifizierende Gleichsetzung BDS = antisemitisch nicht statthaft.
    Lassen wir uns durch die m.E. dumme und / oder bösartige Gleichsetzung nicht beirren.
    Du weisst, dass ich die BDS-Kampagne nicht unterstütze.
    Dennoch kenne ich Dich und andere lange genug, um bestätigen zu können, dass die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V. seit ihrem Bestehen um die Zukunft von Israel besorgt ist und sich für demokratische Lösungen für PalästinenserInnen und Israeli glaubhaft engagiert.

    Es bleiben für mich die beiden Fragen:
    Wann kann Kritik an der Politik Israels den PalästinenserInnen gegenüber in Antisemitismus kippen?
    Wann wohl werden sachliche Debatten möglich werden?

    Herzliche Grüsse
    Jochi Weil-Goldstein, Zürich

  2. Danke Herr Verleger es ist so wohltuend einen Artikel zu lesen der die aktuellen „Blüten“ im deutschen Journalismus und politischen Betrieb so treffend benennt. Es ist manchmal sehr mühselig die vorhandene Inkompetenz der handelnden Personen und die weitverbreiteten Lügen,die durch Wiederholungen die Meinung der Bevölkerung festigen sollen um sie zu lenken.Alles was sie in ihrem Artikel schreiben nehme ich auch so wahr,aber es wird unter dem Deckmantel des „Hate-Speech“ zensiert und diffamiert auch wenn nichts dran ist.die Internet Plattformen werden zur privaten Zensur getrieben und die neoliberale weltsicht als einzige „Freiheit“ und „Weltoffenheit“ suggeriert.Jeder der nur etwas zur Aufklärung mit Fakten und Beweise beitragen will wird bekämpft weil das System des Kapitalismus nach dem 1.+2.Weltkrieg nun zum dritten mal vor dem Kollaps steht.Unsere Eliten sind zum wiederholten male das Problem und tragen nichts zur Lösung unserer Probleme bei sondern schaffen sie erst durch Dummheit und Gier.Sie versuchen ihre Macht durch Teile und Herrsche zu festigen und merken gar nicht wie diese Taktik genau das Gegenteil bewirkt,von dem was sie erreichen wollen.Das Wort Antisemit wird als Schwert und Keule gegen alles benutzt was diese Leute als gefährlich für ihre Macht sehen und Demokratie und Meinungsfreiheit sind unkalkulierbare Gefahren für die Macht der 1%.Wie Occuppy dies treffend bezeichnet hat.

  3. Ja – Ignatz Bubis. Ihn hätte ich mir als Bundespräsidenten gewünscht. Ich hatte vor vielen Jahren das Glück, bei einem seiner Vorträge ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Ein beeindruckender Mensch, der den heutigen Politikern einiges zu sagen hätte.

  4. Immer wieder „Antisemitismus“? Es kotzt mich an – nicht die Menschen dahinter. Kluge Analyse, v.a. unter Zi. 4 – aber dann der dumme Schlenker, daß „wir“ mehr solcher Schutzbeauftragten brauchen?! Ich fasse es nicht. In der Realität: die Dome sind leer, aber immer mehr Reli-Unterricht, jetzt auch für Menschen aus muslimischen Länder – aber ohne „Rücksicht“ darauf, ob die Opfer des Reli-Unterrichtes (hier: die Eltern bei nicht religionsmündigen Kindern) das überhaupt wollen. Und die dümmsten Philos (wie hier in Frankfurt Bürgermeister Becker) fordern ihre Mitmenschen auf, „aus Solidarität“ demonstrativ die Kippa zu tragen.
    Die Gesellschaft wird immer mehr in sich bekriegende Gruppen zersplittert – das soll dann „Demokratie“ sein. Hauptsache… die Klassenherrschaft wird nicht tangiert…

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